Wir alle werden Kinder

von Dirk Pilz

Hannover, 1. Oktober 2009. Heiner Müller ist wieder da. Gebrechlichen Schrittes tritt er durch die Tür, langsam geht die Zigarre zum Mund. Er schaut ins Publikum. Schweigen. Kühles, scharfes Licht. Und Sachiko Hara nimmt die Maske vorsichtig ab. Sie singt von der kleinen, weißen Friedenstaube, lautlos geht sie wieder hinaus. Was will uns dieser Müller sagen?

Wenn die Feuerwand sich hebt, stehen fünf nackte Männer im Dreck. Die Hände bedecken ihre Scham, in den Augen wildert die Angst. Die ersten Worte klingen, als hätten sie die Silben einzeln aus der Erde geklaubt: "Wir lagen zwischen Moskau und Berlin."

Ein veröffentlichtes Bewusstsein

Es ist ein vorsichtiges, fast zärtliches Sprechen im Chor, geformt aus Not und Notwendigkeit – als gäbe es für sie keine andere mögliche Sprache als die gemeinschaftliche. Sie blicken immer ins Publikum dabei und richten die Worte gleichzeitig nach innen. In den Pausen glaubt man, die Gedanken in ihren Hirnen knistern zu hören – diese Männer tragen keinen Text vor, sie veröffentlichen ihr Bewusstsein. Den Blankversen wurde so das Hämmernde ausgetrieben, dem Chor die Neigung zum Wuchtigen. Scharf und klar stehen die Sätze vor uns.

Das ist der Anfang, und dieser Anfang ist hoch konzentriert, ästhetisch kompromisslos: Heiner Müllers "Wolokolamsker Chaussee", erster Teil, im sowjetischen Wald 1941. Es ist Krieg, und Müller entfaltet hier exemplarisch seine Radikaldialektik des Schocks: Jede Hoffnung wird durch Angst erkauft, die erste Erscheinung des Neuen ist immer der Schrecken.

Ein Drama der Ent-Täuschung

In den 90er Jahren war in Ost und West kaum eine Theater- und Geschichtsphilosophie so beliebt wie die Müller-Denke – wer etwas auf sich hielt, war Müllerianer. Und als es schien, alle Theaterwelt sei zum Müllerismus übergelaufen und man in den Dramaturgen- und Regiestuben begann, Müller jedes und den Müller-Zweiflern kein Wort mehr zu glauben, begannen die Texte auf der Bühne an Kraft zu verlieren.

Zuletzt aber fingen sie wieder an, triftig, kantig und aufschlussreich zu werden, in Dimiter Gotscheffs Inszenierung der Hamletmaschine am Deutschen Theater etwa, in Frank Castorfs Kean an der Volksbühne, bei Laurent Chétouanes Studie zur Bildbeschreibung. Offenbar sind die Zeiten wieder müllermäßig.

Jetzt hat Lars-Ole Walburg seine Intendanz im niedersächsischen Hannover mit "Wolokolamsker Chaussee" eröffnet. Dem Drama, das ein "Drama der Ent-Täuschung" ist: In fünf Szenen lässt Müller das Projekt des (DDR-)Sozialismus vorüber schreiten, von einer Enttäuschung zum nächsten Illusionsbruch, in jeder tritt uns die Geschichte im Allgemeinen und der Sozialismus im Besonderen als Schlachtbank seiner Dialektik auf.

Müllers Glaube gilt der Kontinuität des Schreckens, und Walburg folgt ihm aufs Wort. Bis er in der Geschichte die Farce entdeckt, auch ein prominenter Müller-Gedanke, der an diesem Abend aber wie eine Flucht ins Unverbindliche, Kindische wirkt. 

Federspiel und Schürzenträger

Nach dem starken Anfang nämlich rutschen seine Szenen und Figuren zusehends ins drastisch Realistische, in den besseren Fällen noch ins Groteske und Schräge. Aus dem Boden fährt ein langer, schmaler Container mit lauter Türen in die Höhe, und "Wolokolamsker Chaussee III", die Szene über den Arbeiteraufstand von 1953, wird uns von Männern in Schürzen und einem gestrengen Funktionär in enger Kammer vorgespielt. Plötzlich wird illustriert und karikiert.

Ein Volkspolizist mit Klampfe, zwei Thälmann-Pioniere beim Federballspiel, graue Parteimenschen treten auf, und oben auf dem Container tippelt ein Riesen-Sandmann herein. Viel wird sich umgekleidet, und viel wird jetzt auch geschrieen, wo vorher kein Brüllen vonnöten war. Im letzten Teil, wenn ein Sohn wider den Vater rebelliert, weil er dem Sozialismus lieber über die Mauer springen als weiter an ihn glauben will, muss Camill Jamall wüten, als sei er aus einem auf Emotion getrimmten ARD-Dreiteiler entliehen.

Eine Verfallsgeschichte

Seltsam, Walburg lässt seine Figuren immer bewusstseinsärmer, schmaler, letztlich alberner aussehen. Entweder die Regie hat unterwegs der Mut verlassen, auf die Sprache und ihre eigene Bildsprache zu vertrauen, oder Müllers Sprache trägt tatsächlich nicht und braucht dieses Bebildern und Szenen-Ausstopfen. Oder aber Walburg tischt uns eine Verfallsgeschichte auf. Wahrscheinlich ist es das: ein Defätismus, eine Niedergangsphilosphie.

Ob das Müller entspricht, darüber mögen die Gelehrten streiten. Für diesen Theaterabend bedeutet es jedenfalls einen Verlust an schauspielerischer Prägnanz – Walburgs fünf Männer werden zusehends zu Thesenträgern. Wo sie am Anfang mit Ambivalenzen spielen durften, müssen sie am Ende eindeutig bedeuten. Die Farce wird ihnen zum Trittbrett ins Überdeutliche.

Es wird dann auch tatsächlich mit dem Hammer auf den Boden gehauen, denn jetzt soll uns eine Botschaft eingetrichtert werden. Es ist die Botschaft vom Bösen und Verderblichen der Ausbeutungs-, Kriegs- und Kapitalismusgeschichte. Wir glaubten sie in der ersten Szene bereits ohne Hammerhilfe verstanden zu haben, nun wird uns Nachhilfe erteilt – bis man die Lust am Denken und Schauen verliert. Müller war wieder da und hatte uns reichlich über das Heute und sein Gewordensein zu sagen; dann wurde er hammermäßig verjagt.

Und jeder Schrecken gebiert Drolligekeiten

Überflüssigerweise fügt Walburg seiner Müller-Inszenierung zudem noch eine zweite an: Nach der Pause wird Ilja Ehrenburgs "Das Leben der Autos" geboten. Wir sehen lauter Clowns und Harlekine. Wir hören von Monsieur André Citroën und der großen bösen Autoindustrie in ihren Anfängen. Es ist eine schlichte, aber wahre Parabel über die Logik der Börse und des Profits. Vor allem aber ist es auf der Bühne ein großer Spaß – jeder Schrecken gebiert hier Drolligkeiten.

Walburgs Männer-Quintett ist jetzt mit Stoffpimmeln und Hängebrüsten ausgestattet. Sie albern und tollen umher, sie schneiden Grimassen und verjuxen alles, was uns am Kapitalismus beunruhigen könnte. Als denkende Schauspieler haben sie den Abend begonnen, als Sandkastenspieler beenden sie ihn. Die Geschichte des Kapitalismus als Regress in den Infantilismus – so einfach macht es sich Walburg zum Schluss. Als hätte Müller uns nichts mehr zu sagen, als wäre er nichts als ein alter, trauriger Gebrechlicher, der einsam von Frieden und Gerechtigkeit träumt.

 

Wolokolamsker Chaussee/Das Leben der Autos
von Heiner Müller und Ilja Ehrenburg
Regie: Lars-Ole Walburg, Bühne: Robert Schweer, Kostüme: Moritz Müller, Dramaturgie: Christian Tschirner.
Mit: Rainer Frank, Sachiko Hara, Henning Hartmann, Camill Jammal, Daniel Nerlich, Sandri Tajouri.

www.hannover.de/schauspielhannover

 

 

Mehr zu Lars-Ole Walburg? Im Oktober 2008 inszenierte er Felicia Zellers Stück Kaspar Häuser Meer in München, im Mai 2008 eine Theaterfassung von Arno Geigers Familienroman Es geht uns gut bei den Wiener Festwochen und im März 2008, ebenfalls in München, eine Theateradaption von Orhan Pamuks Roman Schnee.

 

Kritikenrundschau

Für Ronald Meyer-Arlt von der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (online: 2.10., 12:56 Uhr) hält sich das "gegenseitige Kommentieren und Erhellen" der beiden zum Doppelabend zusammengesteckten Stücke "Wolokolamsker Chaussee" und "Das Leben der Autos" in Grenzen. Ilja Ehrenburgs Monolog über die Autoproduktion sei ein "schöner Kommentar zur Wirtschaftskrise" und wirke nach dem Heiner-Müller-Text "wie eine Erweiterung der Perspektive", da man "nicht mehr nur auf Deutschland, sondern in die Welt und auch in die Gegenwart" blicke. Bei Müller gehe es "um Formen von Ordnung", da sei es "eine hervorragende Idee, das Stück über weite Strecken chorisch anzugehen". Das entfalte "eine starke Wirkung", sei "so bedeutungssteigernd, als ob man mit rotem Textmarker über Müllers Zeilen gehen würde", und bringe "auch die Schönheit des Textes zum Funkeln". Über die neuen Schauspieler jubelt der Kritiker: "Halleluja, was für ein Ensemble!" Es werde sogar noch "ein recht unterhaltsamer Abend", auch dank des Bühnenbildes von Robert Schweer. Ehrenburgs "Autotheater" habe Walburg mit den fünf Clowns dann "sehr grell gestaltet" – ausnahmsweise funktioniere das "Spiel mit den abgründigen Kunstfiguren" hier aber. Mit diesem Einstand zeige Walburg auch, dass er es weder sich noch dem Publikum gemütlich machen wolle – "Gut so. Und: Bravo."

Eva Behrendt ist für Müllers Pathos, wie sie in der Frankfurter Rundschau (7.10.) schreibt, noch immer empfänglich. "Jedenfalls, solange Walburg seine Soldaten stark und packend denken, sprechen lässt." Doch sobald es um die DDR gehe, rutsche die Inszenierung ins Satirische ab, und auch den Kapitalismus (in Ehrenburgs Stück) knöpfe sich "Walburgs Trupp" im Clownskostüm vor und "purzelt und pupst ihn in Grund und Boden". So habe sich Lars-Ole Walburg den Hannoveraner "nicht nur als ost-west-gestählter Regisseur vorgestellt", sondern "auch schon mal angemeldet, dass er es unter den großen Systemfragen nicht machen wird."