Zerklüftete Ich-Landschaften

von Sibylle Orgeldinger

Karlsruhe, 1. Oktober 2009. "Um 4 Uhr 48, wenn die Klarheit vorbeischaut für eine Stunde und zwölf Minuten, bin ich ganz bei Vernunft." Die frühen Morgenstunden sind die Zeit, in der die Wirkung sedierender Medikamente nachlässt, in der das Grübeln einsetzt und die Verzweiflung durchbricht. In den frühen Morgenstunden des 20. Februar 1999 nahm sich die britische Dramatikerin Sarah Kane das Leben. Wenige Tage zuvor hatte sie ihrem Verleger das Manuskript ihres letzten Stücks übergeben: "4.48 Psychose".

Wie bringt man so ein Stück auf die Bühne? Es lässt sich eben nicht von der Geschichte der Autorin trennen, die unter Schüben schwerer Depression litt und sich in psychiatrischen Kliniken behandeln lassen musste – allzu drastisch bricht diese Wirklichkeit in die Fiktion ein. Den Text aber rein autobiographisch aufzufassen, wäre unangebracht eindimensional. Am Badischen Staatstheater in Karlsruhe hat der Isländer Thorleifur Arnarsson "4.48 Psychose" als Auseinandersetzung eines zerrissenen Ichs mit sich selbst inszeniert. Das Bewusstsein ist die Bühne.

Im Sog des Wahnsinns erscheinen auch die einem gesunden Menschen nicht fremden Gedanken und Gefühle wie Selbstzweifel oder die Sehnsucht, wiedergeliebt zu werden, als Symptome einer unheilbaren Krankheit. Nur so kann die Patientin der Psychiaterin auf ihren kurzen Ausbruch von Ungehaltenheit erwidern: "Ich bin wütend – nicht weil ich dich nicht verstehe, sondern weil ich dich verstehe."

Hier geht's zum Notausgang

Unterstützt von seinem isländischen Ausstatter Simon Birgisson schafft Arnarsson auf der schwarzen, seitlich von kalten Neonröhren beleuchteten Bühne der Spielstätte INSEL verschiedene visuelle und akustische Ebenen, um die disparaten Fragmente des Ichs, die Stimmen im Kopf sinnlich unmittelbar erfahrbar zu machen. Ein grün leuchtendes Notausgangsschild weist auf die mittlere von drei Türen im Hintergrund. Ein fahrbarer Kleiderständer hält schrille Kostüme für schräge Rollen bereit. Stroboskopblitze zerhacken wiederholte Monologe. Endlose Litaneien der Anklage und des bitteren Hohns steigern sich in der Lautstärke bis zur Grenze des Erträglichen. "Heal the World" von Michael Jackson geht über in den endlos wiederholten Schrei "Krank noch immer".

"4.48 Psychose" ist ein offenes Sprachkunstwerk, das weder Räume noch Figuren noch Handlungen vorgibt. Monologe, die durch eine zerklüftete innere Landschaft irren und Dialoge, die meist im Nichts stecken bleiben, wechseln mit Protokollen therapeutischer Gespräche und Zitaten aus Krankenakten. Medizinische Termini und banale Floskeln kontrastieren mit dem poetischen Stimmengewirr der Innenwelt.

Ein solches Stück zu inszenieren, setzt eine ganze Reihe von Entscheidungen voraus. Vor allem: Wer spielt? In Karlsruhe sprechen drei Schauspielerinnen den Text: Anne-Kathrin Bartholomäus, Ursula Reiter und Lisa Schlegel. Regisseur Arnarsson versucht erst gar nicht, getrennte Figuren herauszuarbeiten. Das Ich wechselt die Rollen, wird von der Patientin zur Ärztin zur Beobachterin und bleibt doch immer auf sich selbst bezogen: "Ich bin hier das Thema dieser wirren Fragmente."

Seele im falschen Fett

Mitunter gelingen in Karlsruhe verstörend einprägsame Szenen, etwa wenn Anne-Kathrin Bartholomäus als Patientin, die sich den Arm zerschnitten hat, die Ärztin wiederholt auffordert, sie nach dem "Warum" zu fragen, während Ursula Reiter sich als ihr Gegenüber an der Binsenweisheit festhält, dass selbstverletzendes Verhalten eben Druck abbaue. Oder wenn Lisa Schlegel zunächst versucht, Reiter durch Stöße und Schläge vom Geständnis einer unerwiderten Liebe abzuhalten, um ihr dann ihre Arme und Hände zur gestischen Verstärkung zu leihen. Gespräche verlaufen stockend, auf eine zaghafte Annäherung folgt fast immer ein erschrockener Rückzug.

Gegen Ende der Inszenierung wird das Zerbrechen der Verständigungsmög-lichkeit immer deutlicher. Zunehmend drängen sich Wortketten und Zahlenreihen zwischen die Abschnitte zusammenhängender Rede. Das wiederholte Rückwärtszählen in Siebenerschritten – ein gängiger klinischer Test, der Aufschluss über die kognitive Verfassung eines Patienten liefern soll – wird zur Tour de Force mit Mikrofonen und staubig schwarzen Perücken. "Körper und Seele passen nicht zusammen", heißt es an einer Stelle. Augenfällig wird das an plakativen körperlichen Entstellungen: Fettanzug, Clownsnase.

Aus dem Dilemma führt nur eine Konsequenz: "Sieh mich verschwinden", lautet der letzte Satz des Textes vor dem Epilog. Bei Thorleifur Arnarsson vollzieht sich das Verschwinden Fragment für Fragment, Wort für Wort. Das "Sieh" hängt noch einen Moment im Raum, bevor es dunkel wird.


4.48 Psychose
von Sarah Kane
Regie: Thorleifur Arnarsson, Ausstattung: Simon Birgisson, Anna Run Tryggvadóttir. Mit: Anne-Kathrin Bartholomäus, Ursula Reiter, Lisa Schlegel.

www.staatstheater.karlsruhe.de


Mehr über den isländischen Regisseur Thorleifur Arnarsson? Im Juni 2009 brachte er in St. Gallen Romeo und Julia auf die Bühne. Und beim Osnabrücker Festival Spieltriebe 3 inszenierte er die Uraufführung von José Manuel Moras Meine Seele anderswo. Die letzte Inszenierung eines Sarah Kane-Stückes besprach nachtkritik.de in München, nämlich Gesäubert im Marstall (März 2009).

 

Kritikenrundschau

"Der Grat zwischen den Abgründen Betroffenheitskitsch und Leidensvoyeurismus ist schmal", schreibt Andreas Jüttner in den Badischen Neuesten Nachrichten (5.10.). Thorleifur Arnarsson aber meistere ihn ohne Absturz, indem er "jeden möglichen Absturz" riskiere. So weit wagten sich seine Darstellerinnen in die Bereiche "Scham, Angst und Peinlichkeit" vor, dass "diese Empfindungen nicht einfach poetisch verbrämt thematisiert, sondern direkt, in Körper und Sprache der Spielenden verhandelt" würden. Durch ständige Rollenspiele trotzten Anne-Kathrin Bartholomäus, Ursula Reiter und Lisa Schlegel nicht nur den "selbstzerstörerischen Anstürmen" des Textes, sondern verhandelten nebenbei auch die "rettenden und bedrohlichen Seiten von Theater mit seinen großen Visionen und kleinen Machtspielchen". Die Inszenierung habe einen "grimmigen Humor", "der der Textvorlage angemessen" sei.

 

mehr nachtkritiken