Mit spitzen Fingern angefasst 

von Regine Müller

Mülheim, 1. Oktober 2009. Großer Presseauflauf, Kamerateams und am Eingang Gesichtskontrolle: Im Mülheimer Theater an der Ruhr war man auf alles gefasst. Beinahe enttäuschend, dass dann nichts, aber auch gar nichts geschah. Weder vor noch im Theater Proteste, keine Diskussionen, nicht einmal ein einzelnes Buh. Sang und klanglos ging so die deutsche Erstaufführung des umstrittenen Stücks "Der Müll, die Stadt und der Tod" von Rainer Werner Fassbinder nun doch über die Bühne.

Damit endete eine lange Reihe von Skandalen, abgesagten Premieren, Strafanzeigen und besetzten Bühnen in der Geschichte des Stücks, das jedoch auch vor dieser Premiere wieder heftig diskutiert worden ist. Denn der Zentralrat der Juden in Deutschland und die Jüdische Gemeinde Duisburg/Mülheim haben erneut, diesmal jedoch vergeblich gefordert, die Aufführung wegen antisemitischer Tendenzen durch die im Stück ausgestellten Klischees abzusagen.

Antisemitistische Klischees
Zuvor hatte es zwar Probenbesuche und Diskussionen mit der Theaterleitung gegeben, doch gab Stephan Kramer, der Generalsekretär des Zentralrats der Juden, zu Protokoll, der Versuch einer angemessen kritischen, mahnenden Deutung durch Regisseur Roberto Ciulli sei gescheitert. Die Theaterleitung ließ sich indes nicht beirren und beharrte auf der Aufführung mit dem Hinweis, dass Fassbinders Analyse aktuell sei und auf unsere von Wirtschaftskrise und Hartz IV geprägte Gesellschaft zutreffe.

Eine künstlerische Behauptung, die freilich auf alles und nichts anzuwenden ist. Tatsächlich arbeitet Fassbinders Text ja mit handfesten antisemitischen Klischees, doch das tun seit Shakespeare viele Theatertexte. Der Theaterskandal entzündete sich seinerzeit an Fassbinders Bezug zur Realität, denn der 1975 entstandene Text, inspiriert von Gerhard Zwerenz' Roman "Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond", spielt vor dem Hintergrund der Immobilienspekulationen im Frankfurt der 60er-Jahre. Eine der zentralen Figuren ist ein namenloser Frankfurter Immobilienspekulant, genannt "Der reiche Jude".

Abgefedert und verfremdet
In Mülheim federt Regisseur Roberto Ciulli das Skandalstück mit zwei weiteren Fassbinder-Stücken ab und pumpt dadurch den Abend zu quälender, fast vierstündiger Länge auf. Neben der Zermürbung durch Langatmigkeit ist Ciullis Rezept für die mundgerechte Anrichtung der Zumutungen Fassbinders einfach, aber effektiv: Entschärfung und Verfremdung.

Der Abend beginnt mit "Nur eine Scheibe Brot". Ein junger Filmregisseur soll einen Film über Auschwitz drehen und findet keine Haltung zu dem Auftrag, obwohl er sich sicher sein kann, dass es für die Behandlung eines solchen Betroffenheitsthemas Preise hageln wird. Simone Thoma spielt den Regisseur in Kniestrümpfen und kurzen Hosen als steifbeinig anorektischen Zögerer, auf der Bühne im Hintergrund ein katholisch weihräuchernder Sakralraum, der Filmassistent ist Ministrant, auf dem Altar quellen Blutströme aus dem Linnen, als Brot geschnitten wird, eine Marie Antoinette-Figur singt "Fremd bin ich eingezogen" aus Schuberts "Winterreise", und die handelnden Personen liegen gerne auf und in Särgen herum. Der Regisseur ist natürlich Fassbinder selbst und seine seltsam Pinocchio-hafte Verkörperung durch Simone Thoma in kurzen Hosen wird der Running-Gag des Abends.

Unterm Papstmützchen
Denn in gleichem Ambiente geht es nun weiter mit dem inkriminierten Skandal-Stück, das über weite Strecken die Gossensprache pflegt und auch in Sachen Brutalität nicht eben zimperlich ist. Simone Thoma kommt nun als reicher Jude in einem schwarzen Prunksarg hereingerollt und krächzt ihre Monologe mit verfremdender Rabenstimme herunter. Zwischendurch sieht sie mit pelzgefüttertem roten Cape und weißem Babymützchen aus wie der Papst. Eine stilisierte Kunstfigur, ein geschlechtslos artifizielles Wesen, das niemandem zu nahe tritt und seine Texte aufsagt wie das Telefonbuch. So werden die Klischees zur Karikatur. Doch Ciulli eliminiert auch die Gewalt aus Fassbinders Stück, bei den brutalen Szenen zwischen dem Zuhälter Franz B. (Peter Kapusta) und der Hure Roma B. (Carlotta Salamon) gibt es keinen Körperkontakt, sie bleiben gepflegt und steril.

Der Gedanke, dass Fassbinder sich mit dem Regisseur ebenso wie mit dem Außenseiter schlechthin – etwa dem reichen Juden – immer auch selbst gemeint hat, ist im Prinzip nicht falsch, doch weicht er dem Vorwurf gegen das Stück letztlich nur wieder aus.

Völlig überflüssig schließlich der nach langer Umbaupause sich noch anschließende dritte Teil des Abends "Blut am Hals der Katze", eine schrille, in Pink getauchte Revue unsinniger Monologe einsamer Typen, die durch eine Art Außerirdische, genannt Phoebe Zeitgeist, wiederum verkörpert von Simone Thoma, aufgeschnappt und nicht verstanden werden. Ciulli hat das Skandalstück mit spitzen Fingern angefasst und die kritisierten Klischees und Brutalitäten durch Verfremdung derart entschärft, dass nichts mehr aufregen kann. Künstlerischer Nährwert des Abends und Erkenntnisgewinn fallen dürftig aus.

 

Fassbinder
Nur eine Scheibe Brot / Der Müll, die Stadt und der Tod / Blut am Hals der Katze
Drei Stücke von Rainer Werner Fassbinder
Regie: Roberto Ciulli, Bühne: Thomas Hoppensack, Kostüme: Heinke Stork.
Mit: Simone Thoma, Petra von der Beck, Gabriella Weber, Albert Bork, Peter Kapusta, Fabio Menéndez, Rupert J. Seidl, Marco Leibnitz, Steffen Reuber, Volker Roos, Klaus Herzog, Rosemarie Brücher, Carlotta Salamon, Christine Sohn, Albana Agaj, Khosrou Mahamoudi.

www.theater-an-der-ruhr.de


Den Vorwurf antisemitischer Hetze hat jüngst auch Dirk Lauckes dokumentarisches Theaterprojekt Ultras über radikale Fußballfans in Halle auf sich gezogen. Hier schreibt der Autor selbst über sein Stück und den Konflikt, den es ausgelöst hat.

 

Kritikenrundschau

Im wesentlichen als Travestie-Karneval hat Wolfgang Höbel auf Spiegel Online (2.10.2009) Roberto Ciullis Mülheimer Fassbinder-Abend wahrgenommen. Dessen Mittelstück, das skandal- und antisemitismusumwitterte Stück "Der Müll, die Stadt und der Tod", ist für Höbel eine "höchst klapprige Schundstory", die auch durch diese Aufführung nicht zu retten ist. Denn Ciulli, dieser ansonsten "verdiente politische Aufklärer" setzt Höbels Eindruck zufolge dem Antisemitismus darin nur eine symbolische Pappnase auf, tue jedoch garantiert keinem weh. Für Höbel ist außerdem weder viel verloren, noch etwas gewonnen, "wenn auf einer deutschen Theaterbühne Sätze gesagt werden, wie sie in Neonazi-Kneipen und unter rassistischen deutschen Biederbürgern ziemlich wahrscheinlich viel schlimmer zu hören sind".

Auch für Hans-Christoph Zimmermann, der für Der Freitag (2.10.2009) schreibt, liefert der Abend keinen Hinweis, dass Fassbinder Antisemit gewesen ist, sondern lediglich kein guter Dramatiker. Dennoch reißt die Inszenierung für ihn mit ihrem Spiel "zwischen Imagination und Wirklichkeit" Deutungsräume auf. Auch findet Zimmermann das inkriminierte Skandalstück als Sandwich-Teil des Fassbinderabends geschickt plaziert. "Erstaunlich allerdings, wie Ciulli an diesem Abend gelegentlich pathetische, auch plakative Mittel einsetzt und damit seine bekannte Ästhetik unterläuft."

Für Günther Hennecke von der Kölnischen Rundschau Online (2.10.2009) ist das Stück nach Ciullis vierstündigem "fantastischen Bilder- und Groteskentheater" rehabilitiert. Dem "ebenso kühlen wie grotesk mitreißenden" Abend gelinge sogar mehr als eine Ehrenrettung. Denn es zeige: "Nicht das Stück ist antisemitisch. Antisemitisch sind die Grundströme, die die Gesellschaft in diesem Stück durchziehen." Im Theater an der Ruhr nehme ein Jude Rache: "Wie Shylock aus Venedig." Doch in der Inszenierung rücken für den Kritiker "fast unmerklich, neben dem dank seiner Geschichte fast zwanghaft handelnden Juden (Simone Thoma) die Täter in den Vordergrund. Und gleichzeitig eine Generation, die für die Katastrophen und den Holocaust nicht mehr in die Verantwortung genommen werden kann." Die Aufführung gewinnt aus seiner Sicht ihre Kraft "immer wieder aus äußerst ruhiger Bildentwicklung", wodurch das "Skandal-Stück" für Henneke "zur kunstvoll-künstlerischen Apologie eines zu Unrecht Verfemten" wird.

Auch für Andreas Wilink, der den Abend im Deutschlandradio (2.10.2009) bespricht, erbringt die Aufführung den Beweis, dass Fassbinder kein antisemitisches Stück geschrieben hat. Allerdings vergröbern die plakativen Stilmittel, Masken und Manierismen der Aufführung seiner Ansicht nach "die Ambivalenzen und dialektischen Bezüge" "bis zum Abgeschmackten". Die Inszenierung oszilliere zwischen "Lehrstück und Mummenschanz" und weiche mit "antirealistischen Verfremdungseffekten, Assoziationshülsen und leeren Pathosformeln" besonders der Brisanz des Mittelteils "Müll Stadt Tod" aus, und zwar "seiner Sexualpathologie, den Klischees, Typisierungen" ebenso, wie den darin enthaltenen "Projektionen von Vorurteilen". Für Wilink trivialisieren und neutralisieren Ciullis Verlegenheitslösungen, "wo sie Farbe bekennen und künstlerische Notwendigkeit sichtbar machen müssten". Es sei "die Travestie eines engagierten Theaters".

"Was für ein Stück." schreibt Gudrun Nobisrath beim WAZ-Portal Der Westen (2.10.2009) Schon möglich, meint sie, dass ein so zweideutig schillerndes Stück erst heute in Deutschland als das wahrgenommen werden könne, was es sei: "ein Spiegel der Gesellschaft, der den Juden braucht, um den noch immer existierenden Faschismus zu zeigen." Dass er dabei das verzerrte Bild des Juden benutze, "den verbrecherisch erzeugten Mythos", darin liegt für sie "eine unerhörte Provokation". In Ciullis Inszenierung werde "eine Apokalypse daraus, eine leidenschaftliche Klage über die Kälte in der Welt, und darüber, dass die Menschen zur Nähe nur finden durch Gewalt und Unterdrückung", "ein Abend von greller Beklemmung und analytischer Schärfe". Schwerelos führe er "die wahre politische Dimension des Stückes vor", lasse es "ins Surreale gleiten, wo Fassbinder in Gewalt und perversem Sex versinkt" und umrahme das Tabu-Stück mit zwei früheren Kurz-Dramen: "So wird ein Triptychon daraus, das Zusammenhänge schafft und erhellend wirkt."

Als eine von Ciullis bisher besten Inszenierungen bewertet Bettina Jäger Ruhr-Nachrichten (2.10.2009) diesen "bildmächtigen, bunten, bizarren Fassbinder-Abend", der den Autor aus ihrer Sicht endlich vom Verdacht des Antisemitismus befreit hat. Die Kritikerin lobt die "sensible Regie" und "kluge Dramaturgie", sowie die "Ausnahmschauspielerin" Simone Thoma. Eine "tief bewegende, fast vier Stunden dauernde Kärrnerarbeit an der deutschen Geschichte", lautet ihr Fazit.

"Man muss das Stück nicht inszenieren", schreibt Stefan Keim in der Frankfurter Rundschau (5.10.2009). Die Theatergeschichte brauche es nicht. "Diese hysterische Zusammenballung von Gossensprache und Gemeinheit provoziert heute nicht, sie nervt nur." Allerdings habe Roberto Ciulli einen Weg gefunden, 'Der Müll, die Stadt und der Tod' nicht nur erträglich zu machen, "sondern den Text sinnvoll in einen spannenden Abend einzubinden." Er inszeniere "die von latenter Gewalt brodelnden Texte als bittere Analyse der Gegenwart. Die Sprache ist nahe an ihrer Zerstörung angelangt, hinter den Begierden sind kaum noch Gefühle erkennbar, rücksichtslos und unerbittlich kämpft jeder gegen jeden" und beschreibe mit seinem ausgezeichneten Ensemble eine kalte Zeit. Damit werde er
keine Fassbinder-Theaterrenaissance auslösen. "Aber Roberto Ciulli und sein Team holen sehr viel aus den oftmals platten Texten heraus, meiden exzessive Gewalt- und Sexdarstellungen, entwickeln eine traurig-poetische Reflexion menschlicher Kälte. Ob 'Der Müll, die Stadt und der Tod' ein antisemitisches Stück ist, fragt nach dieser Aufführung keiner mehr."

"Wenn Roberto Ciulli an diesem fast vierstündigen Abend drei Werke unter dem Titel 'Fassbinder' vereint, gilt sein Interesse dem Dramatiker, nicht der öffentlichen Erregung," schreibt Vasco Boenisch in der Süddeutschen Zeitung (5.10.2009). Wenn auch klar werde, dass Fassbinder literarisch eher keine Wiederentdeckung ist. "Ciulli behauptet einen Zusammenhang zwischen Holocaust und Sprachlosigkeit, zeige, dass sich Rainer Werner Fassbinder auf verschiedenen Ebenen daran abgearbeitet habe. "Mit viel Empathie und surrealen Bildern hat Ciulli darauf geantwortet. Wenn Aufrichtigkeit eine künstlerische Kategorie wäre, hier würde sie vollends erfüllt."

Ciullis "Projekt" spekuliere allein "auf Medienaufmerksamkeit", die Inszenierung bestätige dieses "kunstferne Kalkül", schreibt Andreas Rossmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (5.10.2009). Eine "Notwendigkeit, das Stück aufzuführen", sei ihr nicht zu entnehmen", alles löse sich "in weichzeichnende Verharmlosung" auf. Fassbinders Rang hängt für Rossmann überdies nicht an dem "schwachen Stück". Erst das Theater könne übrigens die Frage nach dem Antisemitismus beantworten, indem es die Klischees unterlaufe oder bediene. Doch "die Befürchtung, das Stück könnte als antisemitisch (miss)verstanden werden, bestimmt diese Inszenierung so maßgeblich, dass sie es entschärft und in ein Rundumsorglospaket schnürt". Durch die Rahmung der beiden anderen Stücke rücke "Müll" "in die Nähe einer sprachkritischen Reflexion". Außerdem unterwerfe Ciulli das Ganze "einer manieriert verschmockten Theatersprache". Alles zu dem Zweck, dass "Fassbinder nicht aneckt. Der Regisseur als Resozialisierungshelfer." Doch "wer das szenische Pamphlet derart pathetisch der Wirklichkeit entrücken (...) zu müssen glaubt", nähre vielmehr "den Verdacht, dass doch etwas dran ist am Vorwurf des Antisemitismus". Stattdessen müsse eine Inszenierung das Stück "in seinen Ambivalenzen und Fragwürdigkeiten" annehmen und die Kritik daran mitspielen.

Kommentare  
Ciullis Fassbinder: in die Mottenkiste damit
Es ist ein Schrott-Stück, schlecht geschrieben und billig gedacht. Aber wahrscheinlich muss man es spielen, um dem Ding endlich den Reiz zu nehmen. Bislang sichert es ja jedem Impressario, der es auf seinen Spielplan setzt, dass Kamerateams bis nach Hintertupfingen reisen. Das hört auf, wenn die Nennung des Stücktitels statt des Protestreflexes nur noch den verdienten Gähnreflex provoziern und auch die jüdischen Organisationen solchen Leuten nicht mehr den Gefallen tun, brav zu protestieren. Also: Danke Mülheim, danke für diesen Pappnasenantisemitismus. Nun kann das Stück hoffentlich in die Mottenkiste, wo es hingehört.
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