Redaktionsblog - Überdimensionales Puppentheater
Wenn die Riesin erwacht
Berlin, 2. Oktober 2009. Zuletzt waren die Riesen omnipräsent. Wenn ich im ICE das Faltblatt zur Hand nahm, um die Anschlüsse zu studieren, schauten sie mich stumm an. Wenn ich U-Bahn fuhr, waren sie auf Plakaten mit dabei. Wenn ich in mein E-Mail-Fach hineinschaute, luden sie mich nahezu täglich zu Pressekonferenzen oder sonstigem Flitter ein. Wenn ich die Zeitung aufschlug, fiel eine Riesen-Beilage heraus. Und selbst im virtuellen Raum gab es kein Entrinnen: Die Riesen waren allda – per Werbebanner.
Eine derartige PR-Offensive, wie sie das Festival "spielzeit europa" für die Riesen der französischen Truppe Royal de Luxe startete, ist zweifellos notwendig, um ein Massenevent zu inszenieren. Sie hat nur den unangenehmen Nebeneffekt, dass sie ähnlich nervt wie die ewig lächelnden Wahlkampfplakate viertklassiger Politiker. Also lästerte ich bereits über die Riesen, ehe sie überhaupt da waren. Ich erregte mich über den Satz im Flyer, dass die Riesen "die Emotionen der friedlichen Revolution von 1989 aufleben lassen" würden. Ach ja? Wurden denn die Emotionen des 9. November 1989 auch schon Wochen zuvor von Plakatwänden herab angekündigt? War das damals nicht vielleicht doch eine spontane Freude und keine künstlich gelenkte? Nehmt mal den Mund nicht so voll, ihr Riesen-Propagandisten! Ich jedenfalls bin Riesen-resistent. So dachte und so redete ich.
Das heißt aber noch lange nicht, dass man sich die Riesen nicht doch mal anschauen könnte. Und dann bestätigen sich am Freitagmorgen um 10 Uhr tatsächlich die schlimmsten Befürchtungen: Menschenmassen schieben sich vorm Berliner Roten Rathaus, um die Ankunft der sogenannten Kleinen Riesin (5,50 Meter Körpergröße) zu erleben – ich möchte am liebsten gleich wieder weg. Die Riesin ist übrigens schon da, sie schläft unter ihrem Krangestell, an dem die lebensspendenden Marionettenstrippen hängen.
Immerhin, sie atmet, ihre hölzerne Brust hebt und senkt sich, und das ist schon ziemlich gut gemacht. Ansonsten aber sieht sie aus wie auf allen Bildern, die man von ihr gesehen hat und die man künftig noch von ihr sehen wird – jeder hat natürlich seinen Fotoapparat dabei und sogar der Regierende Bürgermeister höchstpersönlich macht einen Schnappschuss vom Balkon des Roten Rathauses herab. Mir geht es allerdings wie bei der Mona Lisa – ich sehe sie nicht mehr, weil ich sie zu oft gesehen habe. Sie verschwindet hinter dem hundertfach gesehenen Reklamefoto.
Und es kommt noch ärger: Eine lächerlich gekleidete und noch lächerlicher sich gebärdende Band beginnt zu spielen und besorgt die massenkompatible Dauerberieselung. O nein, denke ich, das wird ja wohl genauso schwungvoll wie die rührend kläglichen Versuche, in Berlin Karneval zu feiern. Schließlich erklettern rotlivrierte Puppenspieler das Gestänge, und die Riesin erwacht. Das hatte ich natürlich erwartet, irgendwie muss die Geschichte ja in Gang kommen; die Riesin öffnet nun ab und an ihren Mund – man weiß nicht, ob das eine Geste der Sinnlichkeit ist oder eine Art Kiemenatmung anzeigt. Dann aber schlägt die Riesin die Augen auf, und es passiert etwas gänzlich Unerwartetes: Ihr Blick streift mich, sie scheint zu lächeln, sie zwinkert, und dieses Holzding ist plötzlich von einer Grazie, die mich völlig unvorbereitet trifft. Was für Augen! Meine Riesen-Resistenz ist dahin.
Es geht dann alles seinen Gang: Die Riesin duscht sich (ein wirklich hübscher Effekt), sie wird angekleidet, mit dem netten Herrn Wowereit auf dem Rathausbalkon bekanntgemacht und in ein auf einem Lkw bereitstehendes Boot gehievt. Sie erduldet alles huldvoll, mit einer freundlichen Melancholie im Blick, derweil die Musik dudelt und das Volk applaudiert. Während unter dem Boot Wasserfontänen hervorspritzen, macht sich die Riesin auf ihre Reise durch Berlin, um zu sehen, ob das verriegelte Paradies vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist. Ich hingegen reise nach Hause und lese – verzaubert von den schönen Augen der Riesin – ein wenig in Kleists "Marionettentheater" herum.
Morgen kommt der Taucher (Körpergröße 9,50 Meter). Vielleicht gehe ich wieder hin.
(wb)
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ps.: Bitte nicht unterschätzen!
pps.: Mit Christo hat das natürlich nix zun tun.
ppps. Aber mit Disney. So what!
Ansonsten vernimmt man doch so unterschiedliche Stimmen von den verschiedenen Saisonstarts, dass die Redeweise von DEN Kritikern als irgendwie homogene Gruppe, deren Strategien so wahnsinnig klar auszurechnen sind, metertief im Klischee stecken bleibt. Ich für meinen Teil interessiere mich für Argumente in Kritiken. Und die überzeugen mich mal mehr, mal weniger. Wer aber nur das grobe Raster sucht, wird auch nur das grobe Raster finden.
Ebenso wie (wb) hatte ich zwiespältige Erwartungen den Riesen gegenüber, da ich die Produktion letztes Jahr in den Schaufenstern des KaDeWe mehr als enttäuschend fand, da fast immer nur Umbaustadien zu sehen waren. Auch ich hatte im Vorfeld viele Videos und Fotos der Riesen gesehen, gerade deshalb war ich hochgradig fasziniert, in der Vorort- also Theatersituation so ergriffen zu werden. Ich fühlte mich sogar an die griechische Polis erinnert, endlich mal ein Theaterpublikum, dass sich nicht aus dem Kunstschnöselpublikum zusammensetzt, dass zum Beispiel das Theatertreffen bevölkert. Ich habe das Gefühl, dass dies die erste Produktion von Spielzeit Europa ist, von der nicht auf Nachtkritik berichtet wurde. Auch ich halte die dürftige Story von Ost- und Westriese für fraglich, doch gerade im Theater kann oft aus einer schwachen Vorlage ein faszinierender Theaterabend werden. Auch mir fehlen noch die Worte, was in der Situation der Begegnung der Riesen vor Ort so faszinierend war. Ich vermute dass die schlechtere Sicht im Vergleich zu Film und Foto die Imagination der Lebendigkeit vergünstigt. Die offene Spielweise der Puppenspieler wurde erweitert, in dem sie die Rolle Liliputaner erfüllen und dadurch entvidualisiert werden, eine ungewöhnnliche Variante, da sonst eher verdeckte Spielweise zur Entindividualisierung verwandt wird. Ich denke, dass in dieser Weise noch mehr theaterspezifische Diskurse an dieses Event anschließbar sind, und die Aufgabe diese zu führen den Theatermedien zukommt, nicht den allgemeinen Zeitungen, die mehr über das Event als das Fgurentheater berichten. Deshalb hatte ich besondere Hoffnungen in die Nachtkritikseite, da alle Zeitungen vom Event, doch keine vom Theatererlebnis dort berichteten.(Für Tipps über andere Rezensionen bin ich sehr dankbar). In diesem Sinn find ich den Blogbeitrag besonders interessant, da hier versucht wird zu beschreiben wie die Wirkung in der Sitation vor Ort sich deutlich von der erwarteten unterschied. In diesem SInne hoffe ich dass das Figurentheater auch für Erwachsene endlich die Beachtung findet, die es verdient, da es ein Theater sein kann, das ausserhalb der üblichen Theaterkreise anklang findet, gerade weil das Spiel eine besondere Vorraussetzung der gemeinsamen Realitätserschaffung bildet. Liebe Nachtkritik bitte berichtet mehr über Objekttheater, es ist nicht nur für Kinder und Massen, sondern eine eigenständige oft vernachlässigte Theatergattung!!!
Trotzdem stimme ich natürlich zu: Ein Blick über die Grenzen hin zu anderen Theaterformen kann nie schaden.
Aber erst die Masse, die sich mit den Riesen durch die Stadt bewegte,(wie Ameisen um eine Termite), machten erst den Eindruck komplett. Ich wurde schon an die Nacht der Maueröffnung erinnert, als sich die Massen durch die Strassen schoben. Nur dass damals der Riese noch nicht sichtbar war :-))
Und das, ich kann es nicht anders formulieren, ausgerechnet nachtkritik.de sich dieser allgemeinen Ignoranz angeschlossen hat, obwohl die Initiatoren betonen, das nachtkritik.de ein "unabhängiges Theaterfeuilleton" sei, das "zu allen wichtigen Aufführungen im deutschsprachigen Theater" Kritiken veröffentlichen wird, ist geradezu schon schmerzlich. Zu erleben, daß überaus fähige, originelle, interessierte Theaterkritiker auch hier in dieselbe Falle getappt sind, in die vorher schon die Fachblätter (theater heute, theater der zeit, deutsche bühne etc.) getappt sind, bestätigt mein Vorurteil, daß die meisten Menschen nicht in der Lage sind, über einen Horizont hinauszublicken, der frühzeitig festgelegt und daher offenbar nicht mehr zu erweitern ist.
Die Kraft, die Unwahrscheinlichkeit, das metaphysische Prinzip scheinbar Leben zu erschaffen, die Freiheit zu denken, die Puppentheater, mit seinen Erweiterungen: Objekt- und Materialtheater innewohnt, ist und wird eben nur einem kleineren Teil der ins Theater gehenden Menschen (im deutschsprachigen Raum) vorbehalten bleiben. Daran werden auch die wahnsinnigen, naiven, liebenswerten Erschaffer der "Riesen in Berlin" nichts ändern. Das liegt übrigens wieder an einer nicht zu übersehenden Ignoranz - vielleicht ist die ja hilfreich, um zu überleben. Denn die Compagnie Royal de Luxe beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dieser Art von Theater im öffentlichen Raum. Vor Jahren - damals noch als Theatre Royal de Luxe - waren sie schon einmal in Berlin, mit "La véritable histoire de France". Einer, betrachtet man sich ihre heutigen Arbeiten, weitaus konventionelleren Produktion. Ich schreibe hier immer noch über die Gestalt dieses Theaters, nicht über die Geschichten, die erzählt werden, oder eben gerade nicht und wenn doch, dann allenfalls dürftig erzählt werden, wie Sie, dondollo und andere hier bereits festgestellt haben.
Mir scheint, das wir die Möglichkeit der Metapher nicht mehr erkennen. Kommt etwas in einer Hülle daher, wittern wir nurmehr Caché und wollen nicht mehr verstehen, daß ein Gedanke, ein Hirngespinnst ein Gefäß braucht, um transportiert zu werden. (Obwohl Herr Behrens offensichtlich genau von diesem Moment ergriffen wurde, als Ding und Gedanke zueinander fanden) Puppentheater ist aber genau das. Es ist in seinem Phänotyp ein Theater der Dinge, des Körpers, der außerhalb unserer selbst zu existieren scheint. Wie ein Musiker nicht ohne sein Instrument ausdrücken kann, was er fühlt und denkt, kann ein Puppenspieler es nicht ohne einen erschaffenen oder gewählten Gegenstand, sei es ein Stein, ein Stück Papier, eine Puppe ... Ich denke, wir haben bemerkt, daß wir uns inzwischen soweit von uns selbst entfernen, das wir nur noch das Direkte zu lassen wollen. Es ist die schwache Hoffnung unseren kommerziellen Verkleidungen zu entkommen. Interessanterweise führten aber gerade die überaus feinsinnigen und klugen Inszenierungen die ein Hochmaß an Direktheit und Entkleidung zu ließen, wie etwa Goschs "Macbeth" oder die Uraufführung von "Reich der Tiere" (ebenfals Gosch) zu einer sehr merkwürdigen und im Übrigen fruchtlosen Debatte (Stichwort: Ekeltheater)
Hier von einer Redaktion zu verlangen, sich einem bestimmten Fakt zu widmen, zu dem sie sich aber erklärtermaßen nicht oder nur selten äußern will ("Puppentheater gehört nicht zum Kerngeschäft von nachtkritik.de"), halte ich für verschwendete Energie. Immerhin geben sie an, daß sie sich hin und wieder "berühren" lassen. Bleiben wir gespannt! Andere Orte auch im www zu finden, lautet die Devise, denke ich.
Bitte erklären Sie mir, was sie damit meinen, daß der „Chef der Truppe unglaublich berechnend“ sei. Meinen Sie Effekthascherei, Massenkompatibilität (im Sinne einer Verkaufsstrategie) oder die Suche nach nur billigem Vergnügen? Was hielten Sie davon, daß bis jeweils kurz vor Beginn der „Aufführung“ die Route nicht vollständig bekannt gegeben wurde, um, so habe ich es verstanden, zu verhindern, daß die sonst üblichen Imbissbuden, Souvenir-Artikel-Stände etc. sich um das Ereignis herum ausbreiten? Oder meinen Sie mit „berechnend“ das Sponsoring durch MERCEDES BENZ und TOTAL DEUTSCHLAND? Jeder Theater- oder Festival-Intendant, fast jede kulturelle Institution ist heute auf außerstaatliche oder außerkommunale finanzielle Unterstützung angewiesen. Würden Sie soweit gehen, all denen Kalkül vorzuwerfen, Markt-Interessen über künstlerische zu stellen? Worin besteht für Sie die „poetische Verkleidung von Kommerz“ in diesem Fall. Ich gebe zu, daß die Verbindung zwischen Wirtschaft und sogenannter Hochkultur mitunter atemberaubend unentwirrbar geworden ist und sich nicht mehr ausmachen läßt, wer hier wie von wem profitieren will. Zählt hier der Fakt, daß die Compagnie Royal de Luxe noch nie individuelle Eintrittsgelder für ihre Aufführungen erhoben hat als Gegenargument? Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, ich versuche nicht eine Lanze für Royal de Luxe zu brechen. Ich bin weder Teil dieser Unternehmung noch sonstwie Fürsprecher. Royal de Luxe ist nur ein Beispiel, nicht die Gesamtheit von Puppentheater, Straßentheater … und ich bin nicht davon überzeugt davon, daß es nur noch „so“ zu gehen hat.
Ich will Sie nicht belehren, aber: Puppentheater (einschließlich Objekt- und Materialtheater) ist in sofern ein metaphysisches Prinzip oder vielleicht besser quasi-metaphysisches Prinzip, weil es, um zu entstehen, den Zuschauer mit seinem Wahrnehmungspotential und seiner Interpretationskraft weitaus mehr benötigt als die anderen Theatergattungen: Jemand stellt sich mit einer Puppe vor Sie, fängt an sie zu bewegen, spricht, behauptet dies wäre diese oder jene Figur (Hamlet, Lear oder einfach nur ein Mensch). Dieser Puppenspieler gibt etwas vor, das Sie interpretieren müssen. Kommt ein Mensch auf die Bühne und tut etwas, müssen Sie ihm oder ihr nur glauben, daß er jetzt für diesen Moment diese oder jene Figur ist. Um einer Puppe das Gleiche zu glauben, müssen Sie ihr erst glauben, daß sie lebendig ist, daß sie das theatrale Subjekt ist und nicht der Puppenspieler dahinter. Bei einem Menschen, brauchen Sie diesem Umweg nicht zu gehen. Sie wissen, daß er in der Lage ist zu denken, zu fühlen, zu leiden, zu triumphieren … Im Puppentheater kommt es auf Ihre intellektuelle, Ihre emotionale Leistung an. Egal ob Ihnen das im Moment des Zuschauens bewußt ist oder nicht. Die Verlebendigung geschieht in Ihnen. Wie Sie sicherlich wissen, braucht man Kindern dieses Prinzip nicht zu erklären. Sie tun es einfach. Für sie ist die Puppe, das Ding, nicht Verstellung oder Hülle – sie ist das Wesen. Insofern ist Puppentheater ein metaphysisches Prinzip: das Spekulieren über das Dahinter. Und das meine ich, wenn ich von der Freiheit zu Denken schreibe. Bitte verzeihen Sie mir, wenn ich den Eindruck erweckt habe, gegen nachtkritik.de zu polemisieren. Mir liegt es fern, von jemandem zu verlangen, sich mit diesem oder jenem Aspekt zu befassen, wenn er/sie das nicht will.
Sicher ließe sich am Beispiel von Suse Wächters und Tom Kühnels (Bitte in diesem Zusammenhang Kuttner, Schwarz und Hegemann nicht vergessen) „Helden des 20. Jahrhunderts“ viel besser über Theater diskutieren. Übrigens braucht man hier die Präliminarien nicht erst lange zu klären. Die Synthese von Schau- und Puppenspiel ist bei diesen beiden Theaterkünstlern schon so lange Setzung, daß man wesentlich konkreter werden kann. Ihr, auf den ersten Blick, konsequenter Weg begann, wenn ich mich nicht irre, vor etwa 15 Jahren mit einer Inszenierung von Brecht/Eislers „Maßnahme“ am bat in Berlin, ging dann weiter über Frankfurt am Main, wieder Berlin, jetzt, soweit ich weiß, stationieren sie in Hannover. Dazu Ausflüge nach Basel, Genf, Hamburg … Aber ich bin überzeugt, daß sie sich nicht eines Tages hingesetzt haben, um zu beschließen, wir machen jetzt nichts anderes mehr. Vielmehr entstehen ihre Projekte und Inszenierungen, wie bei allen spannenden Theatermachern auch entlang aller inneren und äußeren Entwicklungen. Aber sie beherrschen ihre Mittel und können sich deshalb immer wieder inhaltlich und künstlerisch in Frage stellen.
Vor nunmehr zehn Jahren (ich weiß, wie schnellebig Theater ist) gab es eine Inszenierung von „FAUST. DER TRAGÖDIE I. TEIL“ (Tom Kühnel in Co-Regie mit Robert Schuster) am Schauspiel Frankfurt. Ich habe nie eine klügere Inszenierung dieses Stückes gesehen. Allein, die Hauptfigur aus einem anonymen Chor hervortreten zu lassen, dem Individuum Stimme, Raum und Zeit zu geben, ihr dann einen Kontrahenten (Mephisto) gegenüber zu stellen, der nicht nur kontextuell Antipode ist, sonder gleichzeitig aus einem anderen theatralen Prinzip (Puppenspiel) entlehnt ist, gab diesem künstlerischen Entwurf die Spannung, die dieser Stoff, meiner Meinung nach, verlangt. Die Mephisto-Figur begegnet der Faust-Figur grundsätzlich als Puppe (nicht menschlich) und das in verschiedenen Inkarnationen, die sich alle auf unsere Ikonographie-Geschichte des Teufels bezogen. Nur einmal, dramaturgisch wie theatralisch überzeugend, mußte die Mephisto-Figur in einen Menschen „schlüpfen“, um auch der Figur der Frau Marthe begegnen zu können. Nur Faust erkennt das Wesen, für die anderen bleibt es Hülle, die wiederum die Idee Mephisto als Gefäß benutzt. Liest sich kompliziert. War aber in seiner sinnlichen Konkretheit auf der Bühne unschlagbar.
Wenn man sich der Mühe unterzieht, landauf, landab zu fahren, kann man solche Erfahrungen ständig machen. Und das, mit Verlaub @ 23, aber ich kann nicht anders, meine ich mit „dem Versuch, über einen einmal gesetzten Horizont hinauszublicken“.
Mit „Ikonographie des Teufels“ habe ich in meiner Beschreibung der FAUST-Inszenierung unsere vorhandenen, tradierten Bildwerke gemeint. Benutzt wurden sie, um uns, dem Publikum, etwas Konkretes zu geben, das wir mit unseren eigenen Bildern in Beziehung setzen konnten. Anne Faraday schreibt in ihrer Analyse der Traumsprache, daß es im Prinzip nicht möglich ist, die Träume eines anderen Menschen zu deuten, da jeder Mensch über sein eigenes, individuelles Traumvokabular verfügt. Es braucht Stunden um Stunden der Kommunikation, um sich auf den Wortschatz des Gegenübers einzulassen. Erst dann, so führt sie weiter aus, könne man, als Therapeut zum Beispiel, dem Anderen bei der Interpretation unterstützen. Ausgehend davon könnte man festhalten, daß die Puppen, die als „Inkarnationen“ Mephistos, nicht des „Teufels“ oder gar des „Bösen“, eingesetzt wurden, eben nicht diesem individuellen Vokabular entsprechen. Das hieße für mich aber gleichzeitig, egal, was ich also einem Zuschauer an vorgefertigtem Bild „vorsetze“, die Interpretation liegt bei ihm. Als derjenige der, der die Bilder entwirft, bliebe ich also immer mit mir allein, könnte im Höchstfall darüber spekulieren, ob mich jemand versteht.
In Ihrem Zusammenhang, Sie konstatieren, ich habe bzw. es gibt eine feststehende Idee „des Bösen“, weil ich von einer „Ikonographie des Teufels“ spreche, dürfte es dann aber keine Bildwerke auf der Bühne geben, die für eine Idee stehen könnten, damit die Idee frei bliebe und allein die Sprache, mit ihrer Möglichkeit zu kategorisieren und zu differenzieren, Gestalt provoziert. Das reduziert Theater enorm. Oder mißverstehe ich Sie jetzt komplett?
Der andere Aspekt, den Sie ansprechen und von dem Sie ausgehen, wir dächten grundsätzlich anders, ist in der Tat ein Mißverständnis (Ich denke sogar, wir sind da einer Meinung): Ich gehe nicht von dieser pantheistischen Überzeugung aus, das jedem Ding ein Wesen innewohnt. Ein Mensch ist ein Wesen, ein Tier bestimmt auch, bei Pflanzen fangen meine Beschränkungen an. Ein Stein ist ein Stein ist ein Stein – egal, ob ich von ihm weiß, an ihn denke, ihn betrachte oder sonst etwas mit ihm tue – er hat für mich keinerlei Wesen. Er bleibt ein Ding. Puppentheater kann aber, und das habe ich oft genug erlebt, mit einem Ding, meinetwegen einem Stein aber auf etwas darüber hinaus hinweisen. Ich kann, über die Art wie ich ihn benutze, behaupten, er stehe für etwas anderes. Ich verändere nicht sein Wesen, denn er hat ja keines, sondern ich, also ein Puppen- oder Materialtheaterspieler, „gibt“ ihm ein Wesen. Mit etwas Geschick und der oben beschrieben „Mitarbeit“ eines Zuschauers kann er so von einem Objekt zu einem theatralen Subjekt werden.
In allem Weiteren gebe ich Ihnen absolut recht: Bleiben wir bei tradierten Bildern, hören wir auf, immer wieder neue zu kreieren und setzen nur alte Bilder auf neue Erfahrungen, verweigern also deren Annahme, versinken wir, wie des öfteren geschehen, in Barbarei.
Folglich ist das Puppenspiel für mich auch am Besten dazu geeignet, den Bruch zwischen Körper und Sprache/Text zu verdeutlichen. Auch der Schauspieler spricht ja in den meisten Fällen einen Text, der nicht "sein Text" ist, sondern von einem anderen Menschen geschrieben wurde. Ein Text bildet somit immer einen Widerstand, mit welchem ein Schauspieler zu kämpfen hat. Nehmen wir als Beispiel Hamlet, welcher eine von Shakespeare entworfene Figur ist. Ein heutiger Regisseur/Schauspieler kann nicht wissen, wie Shakespeare diesen Hamlet verstanden hat und muss sich den Text selbst aneignen, um ihn verstehen zu können. Erst aus dem Widerspruch zwischen dem Widerstand des Textes und der eigenen Lesart entsteht das Neue, welches sich zugleich als im Alten gemeint erkennt.
Faszinierend sind Puppen vielleicht deshalb so sehr, weil durch sie hindurch wirklich nur der Text spricht, mit Hegel könnte man hier vielleicht vom sinnlichen Scheinen der Idee sprechen. Es geht ums Zuhören, ums Denken bzw. um das Verwirklichen der Philosophie als dialogisches Gespräch zwischen Zuschauer und Text bzw. Aufführung. Insofern stimme ich Ihnen zu, dass es nicht nur um die Oberfläche spektakulärer Bilder gehen kann, sondern darum, die Wirklichkeit über die Suche nach einer neuen Form bzw. über die Suche nach einer sprachlichen Neuformulierung unmöglich zu machen.