Schachspiel der Beherrschung

von Ute Grundmann

Weimar, 2. Oktober 2009. König Philipp bietet seinem Sohn eine Umarmung an – doch dabei wendet er zugleich den Kopf ab, weicht im entscheidenden Moment einen Schritt zurück. Denn da ist keine wirkliche Nähe, nur eine formelle und schließlich verweigerte Geste, und diese auch nicht zwischen Vater und Sohn, sondern eher zwischen Herrscher und Untertan. Nach solch kleinen, aber durchschlagenden Körperzeichen braucht Markus Boysen als Philipp keine herabsetzenden Worte mehr, um den gefürchteten Sohn in die Schranken zu weisen. Und er spielt sich als kalt-schwacher Herrscher in den Mittelpunkt von Felix Ensslins "Don Carlos"-Inszenierung am Deutschen Nationaltheater Weimar.

Auf die große, leere Bühne haben die Ausstatterinnen Eva Dessecker und Barbara Keiner eine halbrunde Tribüne gebaut – steile Treppen, die mal Audienzsaal, mal Kapelle für Elisabeth und ihre Hofdamen sind. Hier lässt Ensslin Schillers dramatisches Gedicht abspielen – und macht damit alles öffentlich. Jeder kann jeden sehen, beobachten, belauschen, es gibt keinen Rückzugsort. Die Freunde Carlos und Posa suchen sich manchmal ein Refugium nahe der Rampe. Aber nur für König Philipp gibt es einen Weg ins Ungesehene, Private: eine Treppe hinunter in den Orchestergraben.

An der Freiheit höchstens mal schnuppern

So kalt und abweisend das Bühnenbild, so kühl und kalkuliert seziert Felix Ensslin Schillers Fünfakter als Macht- und Unterwerfungsspiel, als Schachspiel der Beherrschung, hinter dem vor allem die Angst vor dem Verlust eben dieser Autorität steckt. Doch Ensslins Regie unterwirft Stück und Darsteller seinem kühlen Konzept so konsequent, dass die Inszenierung dabei erfriert. Gefühle werden nicht gezeigt, sondern weggedrückt, es sei denn, sie lassen sich für einen Zweck instrumentalisieren. Elisabeth (Eve Kolb), wie alle Damen in uniformes Schwarz gekleidet, ist an Philipps Hof so erstarrt, dass sie fast nur aus Gesten und Förmlichkeiten besteht. Noch ihre Ausbrüche wirken berechnet. Wenn sie Posa ohne Schuhe empfängt, wirkt das geradezu wie ein Ausbruch von Privatheit.

Carlos (Paul Enke) ist ein schmaler Jüngling in offenem Rüschenhemd und Mantel, der seine Liebes- und Revolutionsschwüre zwar brav nach Schiller abliefert, aber keinerlei Konturen gewinnt. In der Liebe wie im Aufbegehren bleibt er blass, erzeugt und gewinnt keine Emotionen. Der Marquis Posa von Christian Ehrich ist, ob in seinen Freiheitsträumen mit Carlos, oder in seiner "Gedankenfreiheit"-Forderung an den König, eher ein Hofbeamter im mittleren Dienst, der an der Freiheit wie der Macht höchstens mal schnuppern will. Und fürs Grobe hat man einen Mann wie Alba (Martin Andreas Greif), den Totschläger, stets bereitstehen, der dann auch fein säuberlich eine Plane ausbreitet, ehe er sich mit Blut übergießt, damit es keine Flecken gibt.

Zittern, Toben, in den Mantel beißen

Und so bliebe Felix Ensslins fast vierstündige Inszenierung eine ordentlich gesprochene, solide gespielte Schiller-Aufführung, wenn da nicht Markus Boysen als Philipp wäre. Gleich mit dem ersten Ton, den ersten Sätzen von hoch oben höhnisch und hinterhältig auf Elisabeth herab, stimmt er seine Figur ein: dieser Herr(scher), ganz in Weiß unterm schwarzen Königsmantel, kann mit knappen Gesten einen Menschen ins Unglück wedeln. Er ist zynisch und herrisch, fürchtet Nähe so sehr wie den Verlust der Macht und Boysen spielt das immer mit. Da wird der schwarze Umhang zur schützenden Rüstung, die doch das Zittern nicht verbergen kann.

Ein Zittern, Toben, in den Mantel beißen, das dieser Herrscher nur vor dem innersten Zirkel seiner Macht sehen lässt. Und zu dem gehören weder Sohn Carlos noch Frau Elisabeth, die er einmal, am Boden kauernd, so im Arm hält, als würde er Nähe nur zu gern zulassen. Da ist dieser König nur noch ein sehr einsamer Mensch.

 

Don Carlos. Infant von Spanien
von Friedrich Schiller
Regie: Felix Ensslin, Dramaturgie: Susanne Winnacker, Ausstattung: Eva Dessecker/ Barbara Keiner.
Mit: Markus Boysen, Eve Kolb, Paul Enke, Christian Ehrich, Martin Andreas Greif.

www.nationaltheater-weimar.de

 
 

Mehr lesen? Mit Friedrich Schillers Königsdrama Don Carlos eröffnete im Juni 2009 der katalanische Regisseur Calixto Bieito die 15. Schillertage am Nationaltheater Mannheim, und führt Philipps Reich als Treibhaus der Lüste vor. Im Dezember 2008 geriet man mit Anselm Weber am Theater Essen in einen Überwachungsstaat.

 

Kritikenrundschau

In der Thüringer Landeszeitung (5.10.2009) schreibt Frank Quilitzsch: Felix Ensslin inszeniere "einsame, in Beziehungs- und Machtkämpfe verstrickte Menschen. Und entrückt sie vom Publikum." So lasse die Inszenierung "letztlich" auch Schauspieler und Zuschauer allein. Die Aufführung könnte genauso auch Don Philipp heißen, schreibt Quilitzsch, so sehr dominiert der sich "autark in den Vordergrund" spielende Markus Boysen den Abend, an dem er "nebenbei" auch noch "King Lear, Macbeth und Richard III. mit abhandelt". "Wie er zynisch den schwarzen Pelz um seinen blutbefleckten weißen Anzug schlägt, mit halb geschlossenen Augen nach Liebe lechzt und doch nichts als Fressen kann, bleibt im Gedächtnis." Ansonsten herrsche eine "unterkühlte Atmosphäre". Im "offenen, zugigen Raum" könne jeder jeden sehen und belauschen. Ensslin sei ein "exzellenter Analytiker", der die Psyche der Macht mit dem Skalpell sezieren könne, " doch leider ist er nicht der Mann fürs Dramatische". Was diesem "Don Carlos" außerdem fehle, sei "Humor".


In der Thüringer Allgemeinen (5.10.2009) schreibt Henryk Goldberg: Die Bühne stelle eine Arena vor, in der Politik als "öffentliche Angelegenheit verhandelt" werde, bei der es nur "Sieg oder Niederlage"" gebe. An diesem Hof seien alle "krank vor Macht". Im Carlos des Paul Enke rumore keine Kraft und brenne kein Feuer. Doch nicht die Klugheit gebe dieser Brief-Oper "Dauer", allein ihr Feuer. Und vor diesem Feuer habe Felix Ensslin "Angst". Er zeige, "wie die Macht die Menschen verbrennt", er zeige "die Asche, nicht das Feuer". Posa erscheine als "Makler der Macht", er zeige, wie der, "der die Macht verändern will, indem er sich einlässt mit ihr selbst verändert wird". Und dieser Posa zeige auch, "wie Ideale ramponiert werden durch Realpolitik, zeigt also: Hoffnungslosigkeit". Weil der Regisseur den Figuren "ihren Ton" nehme, fehle dem Abend die "Vitalität".  Ensslin zeige "Strukturen und Mechanismen, nicht  Menschen". Alles sei "begreiflich und fast nichts berührend." Carlos und Posa als "interessierende Figuren" würden verdrängt "von dem Mann, an dem die Krankheit Macht demonstriert wird." Markus Boysen zeige eine "herausragende, kalte Leistung". Die Macht habe ihn ausgebrannt. "Und wenn er dem Großinquisitor gegenübersteht, dann steht der Kranke vor dem Leiter des Pflegeheims.

 

Kommentare  
Felix Ensslins Carlos: Chance vergeben
Carlos kaltgestellt

Weimar Nationaltheater vergibt mit Klassiker-Inszenierung wieder eine Chance


Felix Ensslin nimmt sich die Freiheit, den „Don Carlos“ kaltzustellen. Ich meine das Stück, die Inszenierung, die Schauspieler, die Bühne.

Auf der großen Bühne des Weimarer Nationaltheaters treibt der Regisseur den Schauspielern das lustvolle Spielen aus. Die Kunstform Schauspiel kommt ohne Sinnlichkeit aus. Dem Zuschauer wird das intellektuelle Vergnügen mit Schillers zeitlosem Drama nicht gegönnt.

Die Kälte auf der Bühne überträgt sich in den Zuschauerraum, ist körperlich zu spüren. Was treiben Carlos, Philipp, Posa, Alba, Elisabeth, die Eboli? Intrigenspiel? Familientragödie? Machtpoker? Felix Ensslin kann sich zu nichts entschließen, kein Gedanke, nirgends. Seine Freiheit in der Regie beschränkt meine Freiheit als Zuschauer.

Die „Jungen Wilden“ Carlos und Posa agieren unterkühlt bis ins Herz, Philipp zeigt ab und zu Gefühle. Elisabeth ist eine schwarz uniformierte Königin ohne Konturen. Und so lässt der Premierenabend den Zuschauer fröstelnd und leer zurück.

Das Weimarer Nationaltheater vergibt mit einer Klassiker-Inszenierung zum wiederholten Mal eine Chance. Das Schauspiel auf der großen Bühne hat in den letzten Jahren leider erheblich an künstlerischer Qualität verloren.

Mehr Sinnlichkeit, mehr Spiel, mehr Freiheitsräume für künstlerisch überzeugende Ideen. Keine wohlige Wärme, aber ein loderndes Feuer, das die Kunst zum Leuchten bringt. Und die Zuschauer bewegt, erregt und animiert zur Tat: Das Weimarer Schauspiel muss man gesehen haben. Den „Don Carlos“ muss man nicht gesehen haben.
Ensslins Don Carlos: nur Eissplitter bleiben
Noch eine Generalabrechnung – nur anders

So ist Schiller! - hörte ich einen älteren Herrn, der seinen 'Don Carlos' sicherlich textgenau kennt, nach der Vorstellung anerkennend sagen.

Zugegeben, die Inszenierung ist eine Zumutung – aber was für eine. Draussen vor der Tür tobt das Weimarer Pendant zum Oktoberfest – genannt Zwiebelmarkt, mit Ochse am Spieß, schwüler Bierseligkeit und peinlichem Ostrock a la Karussel und so – drinnen dann trifft einen die Ensslinsche Keule, die so durchgfrostet ist, dass nur Eissplitter bleiben.

Aber was soll anderes bleiben. Wir schreiben das Jahr 15hundertirgendwas. Wir haben Inquisition. Es herrscht Intrige. Es wird gemordet. Eine solche Szenerie eintauchen in warme, satte Farben? Soll sich der Zuschauer an diesem grausigen Tun erwärmen? - Doch sicherlich nicht.

Ein würdige Interpretation des Schillerschen Opus magnum. Denn Ensslin malt nicht mit Farbe – er bekennt Farbe.
Felix Ensslins Don Carlos: Abrechnung mit Andersdenkenden
Es ist eine kalte, berechnende Welt, in die der Zuschauer eintaucht. Man geht fröstelnd nach Hause, ohne Begeisterung für Ideale. Gibt es keine mehr? Man spürt nichts von jugendlicher Begeisterung, man erlebt nur die Abrechnung der Macht mit Andersdenkenden. Da bleibt der Jugend wenig Hoffnung.
Ensslins Don Carlos: Reiseziel Gehirn
Mit aufs Nötigste begrenzten Requisiten und nur sehr vage angedeuteten, beinahe durchgehend schwarz gehaltenen Kostümen ist "Don Carlos" hier auf sein inhaltliches Skelett begrenzt, was ihm teilweise auch zum Verhängnis zu werden droht, denn während die Szenen zu Anfang noch angenehm kurz gehalten sind, so dauern zum Ende hin einige Sequenzen quälend lange und wirken sehr anstrengend, die Wirkung droht zu verpuffen. Dass sie es nicht vollständig tut, ist jedoch dem grandiosen Schauspiel Markus Boysens zu verdanken, dessen König Philipp durch seinen übermenschlichen Zynismus dem Zuschauer ein Loch durch den Magen schreit und dieses mit lang anhaltendem Gift füllt. Jede Szene mit seiner Beteiligung wird von ihm schonungslos dominiert, jeder Satz hallt wie ein unbarmherziger Urteilsspruch durch den Saal. Und das Urteil ist selten ein gutes, um nicht zu sagen, nie. Dass er sich damit selbst zu Wahnsinn und Einsamkeit verurteilt, das fällt dem König in seiner blinden Wut nicht auf, die in dieser Version selbst vor seiner eigenen Tochter nicht halt macht - das eigene Blut muss der Egoismus in Person mit seiner eigenen Zunge schmecken. Gänsehaut pur.
Doch auch die schauspielerischen Leistungen bieten einen kontroversen Eindruck. Während König Philipp, wie bereits erwähnt, der gesamten Inszenierung eine riesige Aufwertung beschert, Don Carlos als eher handlungsmüder Jüngling den Marionettencharakter schön verdeutlicht und Marquis von Posa im ersten Moment zwar wie eine grandiose Fehlbesetzung wirkt, sich jedoch anschließend als überraschend ambitionierter und radikaler Verfechter seiner Ideen herausstellt, so sind einige andere Figuren ziemlich enttäuschend umgesetzt. Dass Herzog von Alba, der hier zu einer karikaturhaften Machowitzfigur verkommt und der sarkastischen und kühlen Figur des Dramas ferner ist als Mario Bart der Verzweiflung Hamlets, lässt sich aufgrund der geringen Wichtigkeit dieser Person noch verschmerzen. Aber dass der Großinquisitor, der eigentlich nochmal eine Stufe über dem König steht, gegen diesen sowohl schauspielerisch als auch inszenatorisch untergeht, das schmerzt schon sehr, wenn man doch die ursprüngliche Autorintention bedenkt.

Dennoch, auch wenn diese Interpretation von "Don Carlos" nicht vollständig überzeugen kann und streckenweise sehr anstrengend ist, einige Ideen wie die ständige Aufnahme von Carlos´ Gesicht während dessen Haftdauer (nicht mal außerhalb der Zuschauerblicke darf der Schauspieler hier aus der Rolle treten, gemeine, aber interessante Sache), Albas blutbeschmierte Hände oder der Symbolwert des Mantels des Königs sind dennoch faszinierend. Dem gegenüber stehen seltsame Blutsequenzen, eine sehr unpassende Slapstickeinlage und der etwas undramatische Tod Posas gegenüber. Das alles gewürzt mit schauspielerischen Leistungen stark unterschiedlicher Qualität ergibt eine stellenweise verwirrende, stellenweise ermüdende, aber dann auch wieder verstörende und kühl-skurille Theatererfahrung, welche man gut als den eiskalten Strudel des ewigen politischen Machtkampfs deuten kann, oder als eine Studie der Einsamkeit eines despotischen Herrschers, die jedoch durch die emotionsentzogene Inszenierung sich den Weg in die Zuschauerherzen selbst verschließt. Doch unter den Gesichtspunkten ist dies wohl auch nicht das Reiseziel gewesen. Sondern mehr das Gehirn, und dieses kann hier durchaus eine bereichernde Erfahrung erhalten, lässt man sich denn auf die Reise ins gnadenlose Herz der Machtgier ein und nimmt man die Langatmigkeit in Kauf. Leicht machen tut es Ensslin dem Zuschauer aber wirklich nicht damit.
Kommentar schreiben