Geschichte vom Sockel gestiegen

von Hartmut Krug

Schwerin, 7. Oktober 2009. Er wirkt wie ein dunkler Fremdkörper, der riesige Gründerzeitbau zwischen all den Antiquitätenläden, Cafes und Restaurants in der touristisch aufgeputzten Schweriner Friedrichstraße. Einst für die Mecklenburgische Hypotheken- und Wechselbank gebaut, diente er später der Staatsbank der DDR als Bezirkszentrale und wurde nach 1990 von der Deutschen Bank übernommen, die ihn nach kurzzeitiger Nutzung leer stehen ließ.

 

Wenn auch überall Kabel herabhängen, Farbe von Wänden und Decken blättert, manche Fußböden aufgerissen sind und viele Türen fehlen, so lässt das mächtige Gebäude mit seinen prächtigen, bunten Jugendstilfenstern, den verzierten Handläufen und den ausgeschmückten Türrahmen die alte Pracht dieser Kathedrale des Geldes ahnen. Es ist ein Coup des Staatstheaters Schwerin, dessen Großes Haus nach technischen Erneuerungsarbeiten erst am 9. November wiedereröffnet wird, mit seinem Stationen-Spektakel "Lob des Kapitalismus" hierher zu ziehen.

Maria-Elisabeth Schaeffler meets Christiane F.

Alles beginnt im großen Saal, wo Politiker, Philosophen, Promis, Arme und Reiche vieler Zeiten auf Wandpodesten stehen und auf das flanierende Publikum herab- und einreden. Es ist eine bunte Gesellschaft, unter ihnen Einstein, Darwin, Hitler, Ludwig Erhard, Marx, Christus, Verona Pooth, Robin Hood, Rosa Luxemburg, Osama Bin Laden, Marie Antoinette, Adam Smith, das Mädchen aus dem Sterntalermärchen, eine Hartz-IV-Empfängerin und die Großindustrielle Marie-Elisabeth Schaeffler. An ihren Kostümen wie an den Namensschildern sind sie zu erkennen.

Dieser vielstimmige Chor mit seinen Texten über Geld und Armut, über Egoismus und Gemeinsinn, über staatliche Lenkung und freien Markt, über das Wesen des Kapitalismus, in dem der Mensch, vor allem die kein eigenes Kapital als sich selbst besitzende Frau, zur Ware wird, stellt quer durch den Raum und die Zeiten verblüffende Bezüge her und offenbart unerwartete Gegensätze oder Ähnlichkeiten. Diese Zitatenparade ist intelligent komponiert: da reden Marx und Osama Bin Laden über die Juden und das Geld, erzählen Christiane F. und Marie Antoinette von ihrem Lebenswandel, und Rosa Luxemburg gibt ihre Kommentare. Einstein und der Dalai Lama stellen ihre Vorstellungen von Marktwirtschaft gegeneinander, und Hitler plädiert für die Vorherrschaft des Staates.

Vielstimmiges Bild der Gegensätze

Aus dem Schwall all der Theorien, Lobsprechungen und Verdammungen ergibt sich weder ein klares Lob des Kapitalismus noch des Kommunismus, sondern ein realistisches und sinnliches Bild der herrschenden Verwirrung und Gegensätze. Dann erklingt über Lautsprecher "Dies ist eine Krise, bitte folgen Sie dem Personal", und man wird gruppenweise von Menschen in weißer Anstaltskleidung und mit Mundschutz zu Vor- und Mitspielorten durch das Haus geführt.

Für mich begann es mit einem Motivationstraining mit Marx und Rosa. Ein Ja zu sich, ein Ja zur Welt und leeren Optimismus versuchten die Vertreter des wissenschaftlichen Marxismus dabei zu vermitteln, und wir mussten uns an den Händen fassen, die Ohrläppchen reiben und tief atmen...

Nicht bei allen acht Stationen dieser stark kabarettistisch geprägten Szenenfolge gab es eine so überzeugende, witzig dialektische Beziehung zwischen den historischen Figuren und ihrer neuen Bedeutung. So treten Robin Hood und Marie Antoinette auf Phuket nach dem Tsunami auf, der Ausländer als wohltätiger Zuhälter, die Einheimische als sich verkaufende ehemalige Kindergärtnerin. Frau Schaeffler las uns im Pelzmantel das Märchen von "Hans im Glück vor", wir wurden Schüler beim sozialistischen Staatsbürgerkunde-Unterricht in den 70er Jahren, bekamen Soljanka und Handreichungen serviert, wie man als Hartz-IV-Empfänger "gut" und billig kochen könne, durften unsere Wut mit Beschimpfungen und Eiern an drei Bankmanagern ausagieren, die uns in einem Käfig als geldgierige Bestien vorgeführt wurden, und erfuhren, dass Herr Ackermann jede Sekunde einen Euro verdient. Und schließlich erzählten uns Osama bin Laden, das Sterntalermädchen und Jesus von der Apokalypse, ohne nach ihrer gemeinsamen Schilderung vom Untergang Babylons noch das Hoffnungszitat "ich sah eine neue Welt" zu setzen.

Welches System soll man nun loben?

Meist witzig, manchmal auch nur flau waren die Szenen, in denen ein sichtlich animiertes Ensemble Irrwege und Erklärungsmuster ausstellte, ohne einen Ausweg aus der Misere weisen zu können oder zu wollen. Das Publikum, das nicht nur bespaßt wurde, sondern zugleich zum Mitmachen und Mitdenken aufgefordert war, tat beides gern. Am Schluss traf man sich wieder im großen Saal, und das gesamte Ensemble trug Brechts "Lob des Kommunismus" als moderne Chorkantate vor. Das war musikalisch wie interpretatorisch wunderbar.

Es machte Spaß und betrübte zugleich, weil Brechts Einfach-Tun, trotz oder gerade wegen des engagierten Vortrags, unangenehm unecht und unwahr wirkte. Wenn schließlich auf die großen weißen Notenblätter des Chors Bilder projiziert werden, auf denen sich die Sänger hinter Gittern streiten und prügeln, wird das Illusionäre des Textes überdeutlich ausgestellt. Dieser intelligente, traurig unterhaltsame Abend war weder ein "Lob des Kapitalismus" noch ein "Lob des Kommunismus", sondern einfach intelligentes Theater.

 

 

Lob des Kapitalismus
Vom Mauerfall an der Wallstreet
Regie: Peter Dehler, Markus Wünsch, Bühne/Kostüme: Franziska Just, Musik: John R. Carlson.
Mit: Brit Claudia Dehler, Anna Jamborsky, Jana Kühn, Brigitte Peters, Bettina Schneider, Lucie Teisingerova, Isa Weiß, Anja Werner, Florian Anderer, Klaus Bieligk, Rüdiger Daas, Jochen Fahr, Andreas Lembcke, This Maag, Bernhard Meindl, Peter Schneider, Sebastian Reusse, Gottfried Richter, Hagen Ritschel, Johann Zürner.

www.theater-schwerin.de

 

Auf verschiedene Art und Weise setzten sich jüngst auch andere Inszenierungen mit dem Kapitalismus und seiner Krise auseinander. Zum Beispiel Lars-Ole Walburgs Doppelabend Wolokolamsker Chaussee/Das Leben der Autos in Hannover (Oktober 2009), Volker Löschs Nachtasyl in Stuttgart (September 2009) oder Stefan Bachmanns Martin Salander in Zürich (September 2009).

 

 

 

Kritikenrundschau

"Lob des Kapitalismus" von Peter Dehler und Markus Wünsch sei "kein zusammenhängendes Stück", erläutert Philip Schröder in der Schweriner Volkszeitung (9.10.). Doch genau das Fragmentarische der Collage, dieser "Bildzeitungsstil" – O-Ton Premierengast – sei der Reiz. "Wer nur lachen will, darf das aus vollem Halse. Wer die Bedeutungsebenen entschlüsseln will, darf das auch." Einiges sei nur an der Oberfläche witzig, "darunter wird es bitter": Etwa wenn bei Karl und Rosa alle lernen, "Ja" zu sagen. Ein "Kunstgriff" der Theatermacher sei es, dass die Rollen in den Szenen "nicht nur mit Schauspielern besetzt sind, sondern mit von diesen Schauspielern gespielten Figuren": so tritt Marie Antoinette als thailändische Prostituierte und Robin Hood als Sextourist auf. Die von John R. Carlsons vertonte Version von Brechts "Lob des Sozialismus" sei dann "zum Schluss ein großer Kracher. Wie das ganze Stück", das zeige, "wie Theater witzig und anspruchsvoll sein kann – und hautnah am Publikum. Der Beifall ist hoch verdient, sogar ein Kniefall wäre angebracht. Vor dem Ensemble, seiner Kreativität, dem perfektem Timing und der hohen Konzentration."

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