Zwischen den Fronten

von Esther Slevogt

Halle, 9. Oktober 2009. Die inkriminierte Szene kommt erst ziemlich am Schluss und insgesamt auch ein wenig beiläufig, ja, fast hüstelnd daher. Hoch oben auf seinem Balkon, von wo aus er im Hawaii-Shirt den Abend als notorisch Bier trinkender Sportmoderator und freundlicher Provokateur begleitet hat, spricht Billy Steinhauer (gespielt von Steven Michl) die neun radikalen Fans des Hallenser Fußballclubs "HFC" auf einen Vorfall während eines Oberliga-Spiels zwischen dem Halleschen FC und der Mannschaft Carl Zeiss Jena Ende März 2008 an. Damals waren in der Halleschen Fankurve aus dem Ultras-Block massiv die Schmährufe "Juden Jena!" ertönt. Dies hatte unter anderem dazu geführt, dass der Norddeutsche Fußballverband (einer der fünf Regionalverbände des DFB) dem HFC (und nicht etwa der Fan-Organisation) mit Sanktionen gedroht hatte.

Mit sozialpädagogischem Timbre

Die Fan-Spieler auf der Bühne murren ein bisschen. Das Wort "Jude" sei eben eine maximale Provokation, und darum gehe es doch: den Feind maximal zu provozieren. Außerdem habe der Schlachtruf "Juden Jena" Tradition, schon die Großväter hätten ihn verwendet. Aber nein, ruft da der Sportmoderator mit fast sozialpädagogischem Timbre in der Stimme, das Wort "Jude" sei ein Tabu und gehe gar nicht. Dass die Jungs ausgerechnet die Tradition der Großväter zu ihrer Verteidigung in Feld führen, macht die Sache natürlich nicht besser. Schließlich waren diese Großväter auch schuld, dass man das Wort "Jude" heute nicht mehr ohne den millionenfachen Mord denken kann.

Aber davon wollen sich die Fans nun scheinbar nicht mehr den Spaß an der Randale verderben lassen. Scheiß political correctness, argumentieren sie, und murmeln noch etwas von "Zigeunerschnitzel", ein Wort, das man dann ja wohl auch nicht verwenden dürfe. Und ehe es überhaupt wirklich spannend, provozierend oder gar brisant werden kann, ist die Szene auch schon vorüber.

Fanatische Liebe vs. hochgepeppeltes Markenschaulaufen

Die von Dirk Laucke recherchierte und mit echten Ultras-Fans erarbeitete Aufführung in der Länge eines Fussballspiels gewährt im Thalia Theater Halle seit dem 18. September Einblicke in den Alltag fanatischer Fußballfans, die zu den berüchtigsten der Republik gehören – gewalttätige Ausschreitungen garantiert. Es geht um die fanatische Liebe der Jungs zu ihrem Verein, dem sie ihr Leben geweiht haben und zu dem sie immer stehen, egal auf welchem Platz er gerade auf der Tabelle der Ligisten steht; um das Verhältnis zur Polizei, von der sich die Fans immer wieder grundlos verfolgt, eingekesselt und verprügelt sehen – bei der Schilderung einer solchen Situation während eines Fußballspiels nimmt Fan "Chrille" alias Christoph Achilles einmal eine kniende Haltung ein, als würde er einen Genickschuss erwarten.

Ebenso geht es um die Medien, die jede Rempelei zum Krawall hochspielen und gegen die extremen Fan-Organisationen hetzen würden; um geldgeile Manager und den Widerstand gegen die Kommerzialisierung des Fußballs, gegen das Aggressiv-Sponsoring von Red-Bull oder der Allianz (Stichwort: "Arroganz-Arena" in München), gegen das Aufkaufen der Vereine und Sportarenen zu Werbezwecken. Kurz: Es geht um Widerstand der Fans gegen die Tendenz, dass die allseits agierenden, millionenschweren Sponsoren den Fußball kaputt machen, wo es bald nur noch um die Werbeplätze geht und der Fußball irgendwann nicht mehr ein faires, rein sportliches Kräftemessen, sondern nur noch ein künstlich mit Geld hochgepeppeltes Markenschaulaufen ist.

Theatralische Urszenen

Die Neun auf der drehbaren Bühne – die von vorne ansteigende Sitzreihen, von hinten eine enorme Wand zeigt, auf der manchmal Live-Bilder aus dem Stadion laufen – spielen einerseits sich selbst und andererseits eine fiktive Fan-Formation. Sie geben sich dabei raubeinig, aber herzlich, als letzte Verteidiger der guten alten Werte von Sportlichkeit, Kameradschaft und Solidarität.

Sie veranstalten Charity-Läufe für krebskranke Kinder und schaffen mit ihren, von Trommlern phrasierten Gesängen und Choreografien eine geradezu magische, südamerikanische Stadionatmosphäre im grauen Mitteldeutschland – was sie in einer Szene auch einmal eindrucksvoll demonstrieren. Da verwandelt sich die rot-weiße (also vereinsfarben-gefärbte) Drehbühne in das Hallenser Kurt-Wabbel-Stadion – mit hohem Schutzgitter vor dem Spielfeld, dass von "Roco", dem Vorsänger der Ultras, erklommen wird, der dann mit Flüstertüte auch das Publikum zu einschlägigen Slogans ("Chemie! Chemie!") animiert.

Binnen weniger Momente ist die Bühne ein Hexenkessel – kaum zu glauben, dass es gerade mal neun Ultras sind, die mit ihren Trommeln, Tröten und skandierten Rufen diese Geräuschkulisse produzieren. Eine Szene, deren Rasanz, Rhythmik, Massenornamentik und Dramatik geradezu eine theatralische Urszene ist. Fanchöre und -choreografien hatten 2001 auch Sebastian Nübling in Stuttgart zu seiner preisgekrönten Inszenierung "I Furiosi" inspiriert.

Unpolitisch? Nein, höchst politisch!

Dabei gelingt der Aufführung ein sehr ausgewogenens und unideologisches Bild der berüchtigten Hallenser Fangruppe. Man lernt sie jenseits des Zerrbildes kennen – mag es nun berechtigt sein oder nicht –, spürt ihren Hunger nach einem Leben an den antibürgerlichen Rändern und jenseits der Alltagsödnis, nach Sinn und Ausdifferenzierung: ja, nach Fronten, an denen sie sich abarbeiten und als Individuen erfahren können in einer durch Globalisierung und Kommerzialisierung unübersichtlich gewordenen Welt. Auch das gelingt der Aufführung sehr schön: die Sehnsucht spürbar zu machen, in der Konfrontation mit einem Gegner auch sich selbst erleben und erkennen zu können. Und sei es im physischen Schmerz des körperlichen Kampfes.

Auch bekommt man den Eindruck, dass sich in der martialischen Ikonografie der Flaggen und Aufkleber der Ultras Rudimente der politischen Agitationsgrafik der 20er und 30er Jahre erhalten haben; denkt plötzlich an Saalschlachten zwischen SA und KPD in der Weimarer Republik und fragt sich, ob diese gewalttätigen Formen der gesellschaftlichen Auseinandersetzung in der radikalen Fussballfan-Kultur überlebt haben könnten. Und ist dann ganz froh, dass sich diese Auseinandersetzungen heute nur noch im Fussballstadion abspielen.

Trotzdem zeichnet die Aufführung weich, verharmlost die gewaltbereiten Fussballfanatiker, deren pyromanischen Neigungen während der Spiele allein den Verein im Jahr fünfstellige Summen kosten, vom Ruf ganz zu schweigen, und deren (auch rassistische) Ausfälle Polizei sowie Gremien des DFB und der Lokalpolitik immer wieder beschäftigt haben. Doch im Kontext der Aufführung spielen sie dann ihr eigenes Tun immer wieder arg herunter, und stellen die Auswüchse tendenziell als Projektionen und Unterstellungen der anderen dar – Tenor: wir wollen ja nur spielen. Dabei bestehen die radikalen Fans selber stets darauf, vollkommen unpolitisch zu sein. Auch wenn bereits ihr Plädoyer gegen die Fußballkommerzialisierung höchst politisch ist.

Vom Autor verraten?

Deswegen ist es eigentlich absurd, dass nun ausgerechnet die Szene, in der Laucke auch die immer wieder von den Medien und der Öffentlichkeit den Ultras unterstellte Rechtsradikalität thematisieren wollte, die "Juden-Jena"-Szene, nun zum Skandalon geworden ist und Laucke zwischen die Fronten geraten ließ. Denn während die Lokalpolitik in Halle, kräftig von der Presse sekundiert, Laucke vorwirft, Antisemitismus unwidersprochen ein Forum verschafft zu haben, beschuldigen die Ultras Laucke jetzt, sie in diese Szene hineingeredet zu haben. Sie selbst würden ja längst nicht mehr "Juden Jena" rufen, aber Laucke habe darauf bestanden, dass dies im Stück vorkommen soll. Allerdings braucht man nur einmal rein körperlich den schmalen Dirk Laucke gegen die teilweise sehr massiv gebauten Spieler zu setzen, um sich zu fragen, ob es tatsächlich möglich ist, diese nahkampferprobten jungen Männer zu irgendetwas zu bewegen, was sie nicht selber wollen.

Auch fühlen sie sich von Laucke verraten, weil er in einem Interview mit dem freien Hallenser Radiosender Corax pauschal große Teile der Fanformation Saalefront (zu der auch die Ultras gehören) als rechtsradikal diffamiert habe. Dabei handelte es sich um ein Interview, bei dem der Mitspieler Martin Klement life im Studio saß, während Laucke nur über Telefon dazugeschaltet war – der Ultras-Vertreter hätte also die Möglichkeit gehabt, sofort zu reagieren, den Vorwurf zu kontern oder zu diskutieren, was jedoch nicht geschah.

Zur Schau gestellte Naivität

In der Konsequenz haben die neun Spieler nun angedroht, das Stück nicht mehr weiterzuspielen. Auf der Internetseite der Saalefront haben sie "menschliche Enttäuschung" über den Mann zu Protokoll gegeben, den sie so dicht an sich herangelassen haben, dass er sogar einen der begehrten Plätze im Fanbus zu einem Auswärtsspiel bekam, und versucht, Laucke von den Diskussionen auszuschließen, die jeweils im Anschluss an die Vorstellungen stattfinden. Was Laucke jedoch nicht daran hinderte, gestern in der aufgeheizten Atmosphäre das Publikumsgespräch im Zuschauerraum zu verfolgen, wo zur Unterstützung auch massiv und demonstrativ in ihre martialische Fankluft gehüllte, kurzgeschorene Saalefront-Leute Präsenz zeigten.

Dort ergriff der 1982 in Schkeuditz geborene und in Halle aufgewachsene Dramatiker auch noch einmal selbst das Wort: Es sei doch schon während der Arbeit mit den Ultras an dem Stück immer auch um die Frage gegangen, ob sie nun rechts seien oder nicht. Und was es denn sonst zu bedeuten hätte, dass einige von ihnen Klamotten des erklärtermaßen rechten Labels "Thor Steinar" oder Imitationen davon trügen. Weil es coole Klamotten sind, war die Antwort.

Mehr räumten die Ultras nicht ein, und reagierten außerdem einigermaßen heftig, als Laucke diese zur Schau gestellte Naivität hinterfragte. Wobei sie großen Wert auf die Feststellung legten, sie würden Menschen nicht nach ihren Klamotten beurteilen. Und was jeder denke, das denke er eben und man könne es ihm nicht nehmen. Ein Statement, das eher weitere Fragen aufwarf, als welche zu beantworten. Zum Beispiel die, ob hier nicht der berühmte Wolf, der Kreide gefressen hat, sich gegen seine Enttarnung wehrt.

Spielstand: vorläufig unentschieden

Intendantin Annegret Hahn, die gestern das Gespräch gemeinsam mit Kathrin Westphal, der Leiterin des Projekts, an Lauckes Stelle moderierte, versuchte vor allem, die unbestrittenen Qualitäten des Abends zu unterstreichen: dass er ermögliche, das Gespräch nicht nur über, sondern besonders auch mit den Ultras zu führen, weswegen eine Fortsetzung der Vorstellungen dringend nötig sei – eine Intervention, die vom Publikum stets mit Applaus bekräftigt wurde. Denn tatsächlich wird das Phänomen der radikalen Fans in Halle ja nun sehr offen und offensiv geführt, hat ein bisher im Off agierender Block nun ein öffentliches Podium bekommen, um sich zu präsentieren.

Geredet wird dabei nicht nur über den Schaden, den die Ultras anrichten. Sondern auch über die Funktion der Fan-Gruppe als Auffangbecken für gewaltbereite junge Männer mit diffusen rechtsradikalen Weltanschauungen, deren Energien sie Richtung Fußball kanalisieren und wahrscheinlich als einzige Instanz überhaupt noch erreichen kann. Man sollte diese Funktion nicht gering schätzen und die Fan-Organisation, statt sie zu kriminalisieren, deshalb eher in das Gespräch integrieren. Ein Schritt, den Annegret Hahn und vor allem Dirk Laucke gewagt haben – wofür beide jetzt öffentlich Prügel beziehen. Denn wie es aussieht, haben in Halle nicht nur die Ultras, was das Miteinanderreden betrifft, noch einiges zu lernen.

Obwohl Dirk Laucke von der Bühne gestern Abend die massive Feindseligkeit der Spieler entgegenschlug, scheint die Frage, ob weitergespielt wird oder nicht, noch unentschieden. "Die Ultras geben auf!" war neulich in Halle zu lesen. Das werden sie vielleicht nicht auf sich sitzen lassen wollen.

 

Ultras
von Dirk Laucke
Regie: Dirk Laucke, Bühne: Simone Wildt, Kostüme: Simone Wildt. Musik: Timm Völker. Mit: Martin Klement, Robert "Oberröblingen" Hübner, Tom Bergmann, Christoph "Chrille" Achilles, Robert "Börti" Schütz, Marcel Batke, Steffen "Pansen" Panse, Enrico "Roco" Siol, Matthias "Matze" Baumgarten, Steven "Billy Steinhauer" Michl.

www.thaliatheaterhalle.de

Auf nachtkritik.de gibt folgende Beiträge zum Thema:

Änderungen an Dirk Lauckes Hallenser Inszenierung "Ultras" gefordert (Meldung vom 24. September 2009)

Bundeskulturstiftung distanziert sich von Dirk Lauckes "Ultras"-Projekt in Halle (Meldung vom 26. September 2009)

Dirk Laucke über sein Theaterprojekt "Ultras" mit radikalen Fussballfans in Halle (Original-Beitrag des Autors vom 29. September 2009)

"Ultras"-Diskussionen in Halle ohne Laucke / Bundeskulturstiftung nicht offiziell distanziert (Meldung vom 7. Oktober 2009)

 

 

mehr debatten

Kommentare  
Lauckes Ultras in Halle: Hallenser
liebe Esther Slevogt,

ob es wirklich das "haller" kurtwabbelstadion ist, da würde ich an ihrer stelle noch mal recherchieren.

ein hallenser

(Lieber Hallenser, vielen Dank für den Hinweis. Ein Fehler der Redaktion, wir haben es korrigiert. Die Red.)
Lauckes Ultras in Halle: die Medien, die Bullen, der Laucke
Vielleicht sollten die Ultras mal lernen, Verantwortung zu übernehmen. Für das, was sie auf der Bühne tun und auch für das, was sie im Stadion machen. Und wenn sie rechts sind, sollen sie auch dazu stehen, statt es feige abzustreiten. Das ist doch die totale Loser-Haltung, daß an allem immer die anderen schuld sind. Die Medien, die Bullen, der Laucke. Ich saß am Donnerstag auch im Zuschauerraum. Erst war ich von der Aufführung beeindruckt. Aber wie die sich dann bei der Diskussion benommen haben, dieses Herumgeeiere, ob sie rechts sind oder nicht, fand ich ULTRA-peinlich.
Lauckes Ultras in Halle: ohne Gesprächsangebot
Die Jungs stehen Laucke jetzt plötzlich mit Feindseligkeit gegenüber, weil er große Teile der Ultras als rechtsradikal bezeichnet hat. In ihrem Verhalten ihm gegenüber entlarven sie sich jedoch selbst - ihre Denkkategorien bewegen sich nur in Begriffen wie "Verrat" (auf der anderen Seite stünde die "Nibelungentreue"), das Gespräch dagegen wird nicht angestrebt. Der offensichtlich ohne Gesrpächsangebot erfolgte "Ausschluss" Lauckes ist im Keim bereits faschistoides Verhalten.
Lauckes Ultras in Halle: Provinzmüll auf die Bühne
Das war von Laucke meiner Meinung nach ein Fehler, daß er nach der Premiere geblieben ist. So hat er bei denen so eine Art Leithammelfunktion auch jenseits des Inszenierungsprozesses übernommen. Er hätte sich gleich nach der Premiere zurückziehen und die Verantwortung für diese Aufführung dem Theater überlassen sollen. Aber vielleicht hatte er Sorge, daß die Ultras zu wenig in der Lage sind, das Projekt zu vertreten. Egal, jedenfalls glaube ich, das war falsch. Trotzdem ein wichtiges Projekt. Besser als irgendwelche Provinzkunst. Lieber den Provinzmüll auf die Bühne schütten und alle zum Sortieren zusammentrommeln.
Kommentar schreiben