Die Schatten auf den Kindertapetenresten

von Marcus Hladek

Frankfurt am Main, 10. Oktober 2009. Nach Moskau! – einmal wird dieser Traum eines angemesseneren, würdigeren, glücklicheren Lebens fernab der Provinz fast wahr. Dann ist das jazzige Luftcello-Spiel von Andrej, dem vom Titel nicht mitgezählten Bruder der Schwestern (Sascha Nathan im Couch-Potatoe-Look), in aller enervierenden Eindringlichkeit nicht mehr nur von ihm zu hören, wo es stets stellvertretend für das ewige Bemühen steht, den Wunschtraum des toten Vaters zu erfüllen und es zum Professor zu bringen.

Dies eine Mal gesellen sich auch Andrejs Schwestern, Irinas Verehrer Tusenbach und selbst die alte Kinderfrau Anfissa hinzu, formen ein ganzes Luftorchester mit E-Gitarre, Geige und Trompeten und erzeugen einen bittersüß gedehnten Augenblick der Utopie. Er hebelt den verewigten Kinderzimmer-Albtraum einer Bühne gerade lang genug aus, dass hinten der Moskauer Kreml vorübergleiten kann. Nach Moskau, ja – so, wie sich ein Luftgitarrist für Jimi Hendrix hält.

Die zermürbende Wiederkehr des gleichen

Karin Henkel eröffnet ihre "Drei Schwestern" mit einem pantomimischen Vorspiel als Zeitraffereffekt. Noch ist von Stefan Mayers Grundraum in seiner à la Rudolf Noelte nach hinten verjüngten Trapezform bloß ein Drittel zu sehen; den Rest verdeckt eine Kinderzimmerwand. Eine Stimme aus dem Off benennt den Horror der Geschwister: als Menschen von Bildung, die des toten Generalsvaters wegen in der letzten Garnisonsstadt hängenblieben, niemals angemessen zu leben; nie etwas zu vollbringen oder zu gelten, bis man irgendwann tot und vergessen ist. Drei Mädchen treten auf und stellen sich frontal an die Rampe; ein Junge setzt sich abseits und luft-musiziert.

Die Kinder gehen, Erwachsene nehmen ihre Positionen ein – genau die, welche sie am Ende der drei Stunden erneut beziehen. Dazwischen die zermürbende Wiederkehr des Gleichen als Wechselspiel von Resignation und Durchhalten, Realismus und einer Unreife, die sich in übergroßen Kostümen, bei Andrej im Spiel mit einer Modelleisenbahn äußert.

Tschechows widersprüchliche Figuren mit ihren Mesalliancen und den Siegen der dummen Herrschsüchtigen über kluge Nachgiebigen, ihren unerfüllten Sehnsüchten und den tragischen Folgen lächerlicher Ideen wie Nikolais Duelltod vor der Hochzeit, nur weil ein Offizier zuviel Lermontow gelesen hat – sie stoßen bei Karin Henkel auf Darsteller, die sich ins jazzig-lose Getümmel werfen, wenn sie sich nicht gerade autistisch in den Bühnenecken lümmeln.

Im Wald der Verzweiflung

Schön, wie Mira Partecke die Peinlichkeit ihrer Natascha, die tierhafte Mütterlichkeit und eiskalte Penetranz ihrer "verspießerten Wachtel" so weit treibt, dass man sie zu hassen liebt. Maschas buchstäbliches Pfeifen im Wald der Verzweiflung, das auf alle übergreift, Irinas rotäugig-bleiche Zerfahrenheit, mit der sich eingräbt, Andrejs Sichabfinden und Verfettung, Soljonys Launen, der schöne Moment, als Werschinins gute Stimmung, sein "Ich bin so taram-taram-tamtam" alle ins Tänzeln versetzt – all das bezeugt sorgfältige Regie und fantasievolle Akteure. So zerklüftet die Beziehungen, so instabil wird die Bühne mit Kindertapetenresten an den segmentierten Seiten, Lichtröhren und Schattenwürfen.

Ist anfangs Raum für trauliche Schneewehen um Anfissa, die im Mittelpunkt der Bühne in der Matronentracht alle Beharrungskraft Russlands ausstrahlt, so füllt sie sich nach der Pause mit schwarzer Asche und zerstiebt nach links und rechts, oben und unten, um eine Schaukel, ein Bäumchen, einen Raum freizugeben. Der Szenentektonik entsprechen Züge der Verfremdung: Ein Kinderkreisel bannt aller Blicke; Sirenen verbreiten Endzeitstimmung. Ein gepolsterter Mann spielt Anfissa, Heidi Ecks mit Alkohol-verschliffener Aussprache den Doktor.

Der Druck unverstandener Gefühle

Wer angesichts der Kostüme Klaus Bruns' für die gänzlich weißen, schwarzen, grauen Schwestern (Kathleen Morgeneyer als Irina, Claude De Demo als Mascha, Stephanie Eidt als Olga) meint, Gefühlsabgründe würden mit Mätzchen überspielt, den widerlegt der Abschied zwischen Irina und Nikolai. Ohne zu wissen, dass er (Christoph Pütthoff) ins Duell geht, doch in nervöser Vorahnung ihres Körpers, der mehr als sie weiß, beantwortet sie seinen Liebesschwur mit dem Geständnis, weder je geliebt zu haben noch ihn zu lieben.

Wie die zierliche Morgeneyer in stockende Satzfetzen und Tränen ausweicht, wie ihr die Sprache versagt und sie unter dem Druck unverstandener Gefühle zergeht, dementiert die gesprochenen Worte – und ist ungemein intensiv.

 

 

Drei Schwestern
von Anton Tschechow
Deutsch von Ulricke Zemme
Regie: Karin Henkel, Bühne: Stefan Mayer, Kostüme: Klaus Bruns, Musik: Christopher Brandt, Dramaturgie: Nora Khuon, Licht: Johan Delaere.
Mit: Stephanie Eidt, Claude De Demo, Kathleen Morgeneyer, Sascha Nathan, Mira Partecke, Michael Goldberg, Martin Rentzsch, Christoph Pütthoff, Viktor Tremmel, Heidi Ecks u.a.

www.schauspielfrankfurt.de

 

 

 

Mehr lesen? Über Kathleen Morgeneyer zum Beispiel: In Jürgen Goschs vorletzter Inszenierung, in Anton Tschechows Die Möwe, spielte sie im Dezember 2008 in Berlin die Nina. Dafür erhielt die Zweiunddreißigjährige den Alfred-Kerr-Darstellerpreis, den jährlich im Rahmen des Theatertreffens vergebenen Schauspielernachwuchspreis.

Kritikenrundschau

In der Frankfurter Rundschau (12.10.) stellt Peter Iden nach Ansicht von Karin Henkels "Drei Schwestern"-Inszenierung am Frankfurter Schauspiel einen Lehrsatz auf: "Es lässt sich im Theater schwer ein Zustand des Zerfalls und der verzweifelten Unordnung von Lebensumständen thematisieren, indem deren Darstellung sich selber als zerfallende vor Augen bringt." Es sei in der rezensierten Aufführung "eine Schwäche der Regie, des Bühnenbildes und der Kostüme von Klaus Bruns, dass gedanklich wie optisch zum Jammertal der Schwestern kaum eine Gegenposition entwickelt wird. Die Elends-Suppe füllt den ganzen Teller. Das treibt dem Stück die dramatische Spannung aus, die ihm sehr wohl einbeschrieben ist. Und macht im Verlauf der dreistündigen Aufführung schon bald müde." Um Veränderung vorzuführen, müsse "sichtbar werden, was sich verändert. Unabdingbar gehört zum Begriff der Veränderung derjenige der Substanz. Dieser Zusammenhang kommt nicht zur Geltung."

In der Frankfurter Allgemeinen (12.10.) wird man einmal mehr lesender Zeuge einer durch und durch antithetischen Stadelmaier-Kritik: "Im ersten Akt (...) wartet alles auf eine große, helle, lichte Freude. Es herrscht ein unglaublicher Glücksdurst. (...) Im Schauspiel Frankfurt, wo sie jetzt Tschechows Stück zu spielen versuchen, sind Glück und Durst und Freude und Brummkreisel gestrichen. Man sieht: von vornherein Verlöschte." "Im zweiten Akt, einem Notturno als komödiantischem Zwischenspiel, herrscht ein unglaublicher Durst nach Tee. Er wird nicht gelöscht. (...) Im Schauspiel Frankfurt, wo sie die 'Drei Schwestern' zu verjuxen versuchen, ist der Nicht-Tee gestrichen. Statt dessen gibt es Unmengen von Wodka, den sie in sich hineinschütten, ex in zehn Sekunden. Und einen Brummkreisel, der hier nichts verloren hat. Man sieht von vornherein Verkatzenjammerte." Und so weiter für die beiden restlichen Akte. Das Drama der "Drei Schwestern" hätte Stadelmaier zufolge "keine vier Akte dauern müssen. Es hätte nach fünf Minuten schon zu Ende sein können. Das Theater ist von vornherein mit ihnen fertig. Die Frankfurter Veranstaltung ist von Tschechow her gesehen eigentlich eine Zeitverschwendung. Wer das Stück nicht kennt und wem Tschechow so egal ist wie den Veranstaltern, der erlebt immerhin: 'Drei Zicken'. Das tschechowlos zufriedene Publikum aber hat sehr über sie und ihren Elendsspaß gelacht."

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