Weltenschöpfungsformeln aus dem Off

von Christian Rakow

Berlin, 14. Oktober 2009. Eine Zuschauergruppe sitzt uns gegenüber, auf einer kleinen Tribüne, unscharf durch einen Gazevorhang zu erspähen, und verliest mit einem Textbuch auf dem Schoß von Performern dirigiert: "In the beginning there was TEXT." Im Chor, mit der ganzen Wucht der Weltenschöpfungsformel lässt die Wiener Gruppe nadaproductions das gute alte Versprechen der Freien Szene erdröhnen: Am Anfang stand das Lesen, das Theoriewühlen, das Konzeptschmieden, der TEXT! Der soziologische oder kulturwissenschaftlich gegründete Gedanke möge Eure Häuser erleuchten! Für diskursblinde Flachschwimmer ist diese schillernde Welt abseits der großen Stadttheater eher nichts.

Wir befinden uns in den Berliner Sophiensælen beim fünften "Freischwimmer"-Festival. Das alle eineinhalb Jahre stattfindende Nachwuchsevent widmet sich dieses Mal dem Thema "Schock". Aus einigen hundert Bewerbungen sind sechs Gruppen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz zu Produktionen eingeladen worden, um ihre, wie es heißt, "künstlerischen Haltungen und Theaterbegriffe" zu formulieren. Zwei Premierentage mit jeweils zwei Arbeiten sind zum jetzigen Zeitpunkt vorüber. Bis zum Wochenende präsentiert sich die Auswahl noch in Berlin. Danach geht es auf eine viermonatige Tournee an die anderen beteiligten Häuser, die großen Zentraltheater des Off: Kampnagel Hamburg, brut Wien, Gessnerallee Zürich, Forum Freies Theater Düsseldorf.

"Die Hölle sind die Anderen"

"Them" nennen nadaproductions ihre eingangs avisierte Inszenierung, die sich mit der Wahrnehmung des Anderen, vielleicht mit dem Schock des Fremden, in jedem Fall aber mit – wie es im einschlägigen Jargon heißt – "Alterität" auseinandersetzt. Wo kulturwissenschaftliche Strenge verheißen ist, da soll sie auch eingelöst werden. Also steht Thomas Kasebacher endlose zwanzig Minuten an einem Pult und hält eine "Lecture" über eben "alterity", "otherness", "the other" usw. Sinnfälligerweise hängt hinter ihm ein Vorhang mit einem präraffaelitischen Gemälde, das Narziss und Echo zeigt.

Der Vortrag ergibt eine eigentümliche Mischung aus Unterforderung und Überforderung. Da die internationale (und deshalb nahezu durchweg Englisch sprechende) Schauspielergruppe selbst ein lebendes Beispiel für Interkulturalität und Zusammenarbeit mit "Anderen" ist, meint sie, über ihren Konzeptrahmen locker hinwegwischen zu können. Die Lecture bietet ein schmuckloses Namedropping: "Schon Hegel hat das Konzept des Anderen eingeführt (Pause). Und dann natürlich Husserl, den wiederum Sartre aufnahm, der ja sagte: 'Die Hölle sind die Anderen'." So rattert es wie bei einem unvorbereiteten Hochschulprofessor, der mit Handbuchwissen seine Erstsemester verblüfft.

Die Suche nach dem emotionalen Schulterschluss

Tatsächlich wollen nadaproductions den Sartre'schen Ekel vor dem Anderen durch eine Verantwortung für den Anderen (mit Bezug auf den Philosophen Levinas) ersetzen. Und also wird die Arbeit, als sie sich dann endlich zum Bühnenraum hin öffnet, reichlich gefühlig. Die Zuschauer sind, wie angedeutet, in zwei Gruppen aufgeteilt und sitzen sich auf Tribünen gegenüber. Die eine Gruppe verkleidet sich und übernimmt verschiedene Rollen.

Das wird ein ziemlicher Kinderfasching, wenn sie uns als "Wilde" mit Streifen im Gesicht, Schleiern auf dem Kopf und langen Latten in den Händen attackieren (was auf die Eroberungen des spanischen Konquistadors Hernán Cortés' in Südamerika anspielen soll). Dann wieder sucht man den emotionalen Schulterschluss, wenn wir uns gegenseitig beobachten und beschreiben dürfen oder gemeinsam wie auf einer ERASMUS-Kursfahrt improvisierte Lieder singen. Daniel Zimmermann (mit Amanda Piña der Kopf von nadaproductions) zupft dazu auf einer Akustikgitarre schwüle, offene Akkorde.

Ein Geschenk habe ich, wie jeder Zuschauer, von nadaproductions erhalten. Aber weil Lektüren im Internet ja durchaus lang werden können, verrate ich erst später, was ich da jetzt neben meinem Schreibtisch liegen habe. Gewissermaßen als Lohn fürs Durchhalten.

Ohrfeige fürs Zuschauen

Einen solchen Lohn gab es nicht bei allen Arbeiten auf diesem Festival. "Der Da Vinci Schock" von HGich.T, einer Band aus Hamburg, wartet in einem psychedelisch bunten Setting mit finsteren Punkgestalten auf. Sie dürften eher in Clubs oder auf Konzertbühnen zu Hause sein. Als Installation mögen sie taugen, als Frontaltheater wie hier auf keinen Fall. Das Stück will vor allem ein möglichst sinnfreies, aber böse dreinschauendes Happening bieten. Bloß öffnen halb eingeschriene, halb mit stotterndem Motor herausgeblökte Liedtexte allenfalls die Tür zur hinterhöfischen Technokultur: Drogen, Oralsex, Party.

Alles wird laut, aggressiv und penetrant ans Publikum rangeschmiert. Und ja, Bekümmernis litt dieser Hauptschüler, in dessen Leben man durch das lyrische Ich der Texte Einblick erhält. DJ-Legende John Peel hätte seine Freude an diesem Aggro-Pop gehabt. Viele Zuschauer hatten sie nicht und gingen. Wer blieb und etwas missmutig drein schaute, lief wie mein Sitznachbar Gefahr, sich eine Ohrfeige einzufangen. Eine echte Stadelmaieriade und Spiralblockaffärlichkeit!

Ich-Öffnung wird mit Kälteschock bestraft

Musikalisch, wenngleich wesentlich gesitteter, geht auch Thom Luz das Thema Schock in "Schutz und Rettung" an. Inspiriert von der schizophrenen Art-Brut-Künstlerin Aloïse Corbaz soll ein Rückzug in die Innenwelt nachgezeichnet werden. Es geht, laut Programmheft, um den "Kampf gegen die Bedrohung durch die Sinnlosigkeit der Realität". Allein der Kampf entpuppt sich als Kaffeekränzchen.

Zu klassischer Klavieruntermalung spielen drei Schauspielerinnen und ein Schauspieler an einer langen Tafel das Spiel "Wer bin ich". Wobei der Mann mit seinen Fragen nicht durchkommt: "Bin ich männlich?" Wann immer eine Person in Wallung gerät und etwas mehr von sich preisgeben möchte, tritt sie vor zum Publikum. Dort aber wird sie urplötzlich durch einen Mitspieler vermittels eines Gasgewehrs kalt gestellt, d.h. mit Dampf voll gesprüht. Dieser Kälteschock ist gewissermaßen die Strafe für die Öffnung des Ich zur Welt.

Einmal heißt es: "Geburt, alle sind fröhlich. Begräbnis, alle sind traurig. Dazwischen reden, reden, reden, blabla." Dieses Blabla ist keine gute Ausgangshypothese für spannende Texte. Deshalb muss man durch zähe Frageregister, über die selbst die italienischen Schlagerweisen, die hier und da vom Pianisten Mathias Weibel eingespielt werden, nicht hinweg helfen. "Wie möchtest Du wiedergeboren werden?" – "Weiß nicht, vielleicht blond. Oder als Zwilling, da wäre ich nicht allein." Dramaturgisch bietet das nicht mehr als ein Brainstorming, wie man es auf Konzeptproben durchführt. Allerdings will es auch nicht viel mehr sein. Während die Heimorgel einen einlullt, heißt es: "Um jemanden zu verstehen, da braucht man doch keine Sprache, da reicht das Gefühl." Wer es glaubt, wird hier selig.

Hektisch hüpfende Punkte

Jetzt von der Konzeptprobe zum knallharten Konzept-Journalismus und zur Auflösung des Geschenkrätsels: Was mir nadaproductions mitgaben, war ein Poster jenes Gemäldes vom Präraffaeliten John W. Waterhouse, das im Stück "Them" den Gazevorhang ziert: Echo und Narziss. Da habe ich ein Andenken an diese vexierlichen Spiele zwischen Ego und Alter, mit denen die Freischwimmer aus den Alpenländern (nadaproductions aus Wien, Thom Luz aus Zürich) hier aufwarteten.

Damit ist eigentlich alles verraten – ausgenommen der Haupttreffer des Festivals, für den sich Reisen ins Off-Theater wieder und immer wieder lohnen. Die Berliner Gruppe Turbo Pascal (hervorgegangen aus den praxisnahen Kulturwissenschaften Hildesheim) widmen sich dem Thema Schock in einem einstündigen Konzeptwerk, das von weitem an die Arbeiten von Forced Entertainment erinnert: "Ich bin nicht wirklich die Gefahr" nimmt ebenso spielerisch wie klar das aktuelle Sicherheits(staats)denken aufs Korn. Und zwar – gelungener Schachzug! – indem über die Rahmensituation eines Theaterabends nachgedacht wird.

"Wie wäre es, wenn gleich 250 Leute mit einem Mal dort durch die Tür kommen würden?", flüstert mir meine Sitznachbarin, Eva Plischke, zu, ehe sie auf die Bühne tritt. "Ich habe keine Angst vor dem Publikum, sondern Angst um das Publikum." Tatsächlich wird es später statt Lampenfieber einen Lampenausfall geben. Da dürfen die Zuschauer dann in diversen Gruppenübungen mit Laser-Pointern testen, wie schwierig es ist, in einer Risikosituation ein gewisses Maß an gemeinsamer Ordnung herzustellen: "Formiert euch mal zum Kreis" oder "Geht langsam Richtung Notausgang" lauten die Anweisungen – und die kleinen roten Punkte auf der Rückwand hüpfen hektisch.

"Szenario"-Technik und Sterbe-Performance

Anders als die anderen Gruppen (HGich.T ausgenommen) wollen Veit Merkle, Luis Pfeiffer, Frank Oberhäußer und Eva Plischke keine Schauspieler sein. Eher treten sie als entspannte Seminarleiter auf (wenn das nicht zu dröge klingt). Sie informieren über den baufälligen Zustand der Sophiensæle und steigern die Selbstwahrnehmung beim Publikum. Sie räumen fiktive Zuschauertaschen aus und imaginieren Krisensituationen, in denen diese Utensilien ihren Einsatz finden könnten.

Und ganz nebenbei sezieren sie die Logik von Theaterabenden. Da werden wir zunächst über den strategischen Einsatz der "Szenario"-Technik informiert, die es – etwa dem Innenministerium – erlaubt, mehr oder weniger wahrscheinliche Ereignisabläufe abzuschätzen. Dann folgen Lieder ("Die Planetensäge zersägt Berlin in Ost und West!") und eine ausgiebige Sterbe-Performance: ein Mann wird durch die Lautsprecherbox erschlagen, einer rammt sich das Stativ in den Rachen, einer gleitet kopfüber eine Leiter hinab.

Das wirkt erst unvermittelt und heterogen, zielt aber auf eine schöne Überraschung. Hier nämlich kann Eva Plischke die Leistungsfähigkeit der "Szenario"-Technik nachweisen. Sie legt ein Raster über die gesamte Bühne mit zwei Koordinaten: Wünschenswert bis nicht-wünschenswert und wahrscheinlich bis unwahrscheinlich. Und siehe da! Einleuchtenderweise liegen die Theaterleichen alle im Sektor unwahrscheinlich und nicht-wünschenswert. So locker kann eine informierte Selbstreflexion des Theaters aussehen. Politisch und selbstbewusst, leichthändig und instruktiv ist dieses Perfomancestück von Turbo Pascal. So wie Off-Theater an seinen besten Abenden ist.

Ich bin nicht wirklich die Gefahr
von Turbo Pascal (Berlin)
Konzept: Turbo Pascal, Musik: Friedrich Greiling, Bühne und Kostüme: Magda Willi, Dramaturgie und Produktion: Anne Schulz. Von und mit: Veit Merkle, Luis Pfeiffer, Frank Oberhäußer, Eva Plischke.
www.turbopascal.info

Der Da Vinci Schock

von HGich.T (Hamburg)
Von und mit: Sascha, Anna-Laura, Arne, Maike, Paul, Annika, Marc.
www.hgicht.de

Schutz und Rettung
von Thom Luz (Zürich)
Regie: Thom Luz, Musik: Mathias Weibel, Kostüm und Licht: Tina Bleuler, Assistenz: Eveline Eberhard. Mit: Beatrice Fleischlin, Catriona Guggenbühl, Mathias Weibel, Nikolai Bosshardt, Jeanne Devos.

THEM

von nadaproductions (Wien)
Konzept und Idee: Amanda Piña / Daniel Zimmermann, Licht: Markus Frietsch, Produktionsleitung: Elisabeth Hirner. Mit: Ewa Bankowska, Laia Fabre, Markus Frietsch, Thomas Kasebacher, Amanda Piña, Daniel Zimmermann.
www.nada-productions.blogspot.com

www.freischwimmer-festival.com


M
ehr lesen über die Freie Szene? Im Juli 2009 berichtete nachtkritik.de von der Nachwuchs-Plattform Junges Theater in Hamburg, im November 2008 vom Festival Politik im Freien Theater in Köln. Und im September 2008 brachte Turbo Pascal an der Berliner Schaubühne Wir werden wieder wer gewesen sein heraus.

 

Kritikenrundschau

Der Witz und die Situationskomik der Turbo-Pascal Konzepter und –Darsteller mache vergessen, dass eigentlich gerade "Worst-Case"-Szenarien durchgespielt werden, so Astrid Kaminski in der Berliner Zeitung (15.10.). "Das Theaterkollektiv hat sich mit seiner für Hildesheimer Kulturwissenschaft- und Ästhetische Praxis-(Ex)-Studenten nicht untypischen Methode in diesem Jahr schon einen Preis beim 100°-Festival verdient." Kulturwissenschaftlicher Vortrag werde mit szenischer Simulation, Musik und Schauspiel verbunden und ist eine Art Publikumsintegrationsunterricht. "Der macht Spaß - umso mehr, wenn ein ungarischer Tanz mit Laserpointern gewackelt wird - und macht besinnlich bis nachdenklich, wenn es um die Vorstellung von drei Tagen komplettem Stromausfall geht." Die Gruppe HGich.T sorge im Anschluss für fantasielose Projektionen einer sexistischen Zuhältergesellschaft im virtuellen Verwahrlosungszustand. "Ihr 'Da Vinci Schock' ist mikrofonorientiertes Sing-, Schrei-, Schock- und Ekeltheater von gestern."