Opposition im Wasserstoffgebleichten

von Stefan Bläske

Wien, 14. Oktober 2009. Es war einmal. In ferner Zukunft. Außerhalb der Zeit. Eine Desaster-Zone. Sie wirkt wie eine weiße Wüste: Sternenstaub, Kalk oder Kreide, Asche oder Mehl sind gleichmäßig verteilt auf ungefähr zweitausendundeins Quadratmetern, in der einstmals größten stützenlosen Industriehalle Europas. Unendliche Weiße, in gleißendes Licht getaucht. Mittendrin ein Iglu-Zelt, aus dem sie nacheinander rauskriechen, die Überlebenden mit ihren wasserstoffweißen Perücken. Sie scheinen sich selbst überlebt zu haben, lassen Texte durch sich hindurch sprechen: Über Krisen, Kriege und Katastrophen, von Aischylos, Seneca, Shakespeare, Racine und Jelinek.

Aus diesem Mix soll sich "die Tragödie der Tragödien als multihybride Fiction" ergeben. Als Hybrid wird sie angekündigt, erscheint letztlich aber leider nur als Hybris. Das (lateinische) Mischen geht einher mit (griechischem) Übermut. Seit vier Jahren schon arbeitet das theatercombinat an seiner Serie "tragödienproduzenten". Mit "2481 Desaster Zone" hat es diese nun in den Kreidestaub gesetzt. Dabei ist die Künstlerformation doch gerade mit dem Nestroy für die beste Off-Produktion ausgezeichnet worden.

Mit viel Kreidestaub bedeckt

Den Preis gab's für Elfriede Jelineks "bambiland", Beachtung hatten aber auch die anderen Tragödienprojekte gefunden: "Die Perser" wurden zunächst mit 180 BürgerInnen der Stadt Genf inszeniert (im Théâtre du Grütli), in Braunschweig mit 300 Niedersachsen, in Wien dann mit 12 Choreuten und drei Protagonisten in einem leeren, 200 Meter langen U-Bahn-Gang. In "Coriolan" steppten die Römer und Volsker durch ein leerstehendes Tram-Depot, und "Phèdre" wurde als Boxkampf ein- und ausgerichtet: Racine im Ring.

Nun also sind all diese Texte zerhackstückt und zu einer dreistündigen Präsentation zusammengewürfelt worden, die Geschichtsfragmente aktivieren und einen Bogen schlagen will von Aischylos’ "Die Perser" (uraufgeführt 472 v. Chr.) bis ins post-katastrophale Jahr 2481 (das sich wohl aus 2009 plus 472 ergibt). Tragödientauglich stellen sie sich vor, die meist männlichen Geschichtsmacher: Als Xerxes. Als römischer Proletarier. Als Laserpointer. Theseus. Märtyrer. Oder als Bombe, die scharf darauf ist hochzugehen. Aber sie treten in kein Verhältnis zueinander, die Textfragmente bleiben monologisch im leeren Raum stehen. Die Kraft, die in all diesen Figuren, Konstellationen, Tragödien liegen könnte, sie fehlt dieser Inszenierung, es ist als läge eine Schicht Kreidestaub über allen Aktionen und Worten.

Durchmessen des Geschichtsraums

Vielleicht sollte man die Inszenierung besser als Installation begreifen, denn der Raum spielt die Hauptrolle, rettet zumindest über die erste Zeit: Die Zuschauer sitzen auf kleinen, rollbaren Plattformen mit je fünf Stühlen und werden von den Performern durch die Halle der ehemaligen Ankerbrotfabrik geschoben. Am Anfang, solange der Boden noch glatt weiß ist, ohne Spuren und Durchwühlungen, wirkt die Fahrt wie eine Entdeckung unberührter Regionen. Im Durchmessen des Raumes erliegt man seiner Atmosphäre, aber diese Perspektivwechsel und Effekte haben sich schon recht bald totgefahren.

Bewegt wird man in diesem "Theater auf Rädern" nur mechanisch. Innerlich bleibt man kalt, und auch der Körper kühlt aus, die Wolldecken helfen nicht lange gegen die herbstliche Kälte in der alten Halle. "Unser Blut wurde zu Eis", wehklagen die Griechen angesichts Hippolytos' grausamem Tod, aber Leid oder Mitleid hat man an diesem Abend nur mit den frierenden Zuschauern. Zu distanziert bleibt das Textaufsagen, räumlich wie emotional.

Babylonisches Stimmengewirr

Es gibt durchaus Momente, in denen die Zuschauer direkt angesprochen und aufgerüttelt werden. Die Plattformen rumsen aneinander, man wird zusammengetrieben wie die Schafe, umgeben von streitenden, ringenden, rufenden Coriolan-Verschwörern. Neben Shakespeare-Text skandieren sie: "Mehr Blut für Öl", "Invest in Victory" oder den Friedensnobelpreisträger-Werbeslogan "Yes, we can!" Man muss ja aktuell, politisch, kritisch sein. "Wo ist eine Opposition?", lautet denn auch der letzte Satz, wenn wieder alle im Iglu verschwunden sind. Eine verständliche Frage nach minutenlangem babylonischen Brabbeln.

Allzu gern lässt Regisseurin Claudia Bosse in der Desaster Zone die verschiedenen Tragödientexte parallel sprechen, aber nicht etwa als rhythmisches, kraftvolles Stimmengewirr, eher als beliebiges Nebeneinander. Man mag das konzeptionell erklären können, goutieren muss man es nicht. Insgesamt zeigt sich an diesem langen, unterkühlten Abend mal wieder nur, dass große Dramen, gar mehrere zugleich, in einem großen Raum noch lange kein großes Theater garantieren.


2481 desaster zone – die tragödie der tragödien als multihybride fiction
Mit Aischylos' "Die Perser", Shakespeares "Coriolan", Racines "Phèdre", Jelineks "Bambiland" und anderen Texten. Übersetzungen: Claudia Bosse, Andreas Gölles, Christine Standfest. Ort: Ehemalige Ankerbrotfabrik.
Konzept/Regie: Claudia Bosse, Raum: Alexander Schellow, Licht: Gerhard Fischer, Sound: Günther Auer, Recherche/Assistenz: Andreas Gölles. Von und mit: Aurelia Burckhardt, Joachim Kapuy, Yoshie Maruoka, Gerald Singer, Christine Standfest, Doris Uhlich, Paul Wenninger.

www.theatercombinat.com


Mehr zu Claudia Bosse: mit einem 300 Mann starken Chor inszenierte sie Die Perser zur Eröffnung des Festival Theaterformen im Sommer 2008.

 

Kritikenrundschau

"Was meint das Publikum?", fragt Barbara Petsch in der Presse (16.10.) und klärt auf: "Toller Raum, toller Text, spirituelle Theatererfahrung, aber mühsame äußere Umstände: Kälte, lange Dauer. Eher ein Minderheitenprogramm für Hartgesottene." Petsch selbst erlebte "2481 desaster zone" als Resümee und "Kulminationspunkt" der vorangegangenen theatercombinat-Arbeiten, als "Endspiel" und "Endzeitszenario". Die Erzählung "mäandert (...) vor und zurück, in Sprüngen oder langsam rollend wie eine Welle", auch die Zuschauer werden umhergerollt, "gelegentlich gibt es kleinere Kollisionen. Die Wirkung allerdings kommt nicht durch diese eher unbeholfene körperliche Simulation von Katastrophen zustande, sondern eben durch das Wort". Bosse treibe Jelineks "Wort-Materialschlachten auf eine neue Spitze". Man vernehme einen "mächtigen Sprechgesang", "ein Kunstwerk für sich". Das einzustudieren müsse "eine Heidenarbeit gewesen sein." Allerdings seien "nicht alle Akteure gleich sprachmächtig. Die Kreation würde gewinnen, wären da durchgehend starke und vielseitige Sprecher. Insgesamt dennoch sehenswert: Ein kühner Wurf in Zeiten, da neue Texte oft eher oberflächlich das Bedürfnis nach Effekt und Überraschung bedienen."

Margarete Affenzeller erinnert im Standard (16.10.) daran, dass sich das theatercombinat "international einen formidablen Ruf erarbeitet" habe: "Berühmt-berüchtigt ist das Combinat (...) vor allem für seine stets außerhalb gesicherter Theaterräume stattfindende Kunst." Für "2481 desaster zone" nun sei "die Expedithalle der ehemaligen Ankerbrotfabrik in Wien Favoriten gerade groß genug." Dass in dieser "Gegend nach allen Katastrophen der Welt (...) die Redner von Aischylos auf Stimmen von Elfriede Jelinek" träfen, müsse man "aber nicht Science fiction nennen". Imponiert hat Affenzeller, wie die Zuschauer auf Sitzflächen durch die Halle gerollt werden, denn das bewirke, dass die Performer "nicht nur Theseus oder Bambi" sind, "sondern auch noch Schubkräfte, die aktiv die Blickrichtung des Publikums immer wieder neu bestimmen." Daraus entstünden "lebende Kamerafahrten", und diese "eröffnen dem Aktions- und Wahrnehmungsraum dieser ineinandergeschraubten Multitragödie eine neue Dimension, in der sich das Einzelwesen Mensch auch immer mit sich selbst konfrontiert sieht. Sie macht auch die Autorität gesteuerter Blickrichtung erfahrbar."

 

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