Heldenverulkung mit George Clooney

von Charles Linsmayer

Chur, 24. Oktober 2009. Als die Zeitung "Il Progress" 1881/82, sechs Jahre nach der deutschen Erstveröffentlichung, C. F. Meyers Roman "Jürg Jenatsch" in rätoromanischer Übersetzung abdruckte, musste sie die Serie nach dem zweiten Buch abbrechen, weil eine Leserumfrage zum Resultat gelangt war, der Roman sei "zu langweilig".

Samuel Schwarz, Sarah Jaggi, Matthias Balzer und Duri Bischoff, die unter dem Dach der Produzentengemeinschaft "Churer Ensemble und 400asa" in verschiedenen Funktionen – und einer Anregung des kürzlich verstorbenen Markus Luchsinger folgend – eben diesen Roman für das Theater adaptiert haben, wissen wohl kaum etwas von dem geplatzten Zeitungsdruck. Und doch scheint die Angst, das Bündner Publikum könnte durch den Stoff wiederum gelangweilt werden, eine massgebliche Rolle gespielt zu haben, als sie daran gingen, ihn möglichst provokant und exzessiv für die Bühne zu bearbeiten.

Siamesische Zwillinge

Die Inszenierung arbeitet mit Berufsschauspielern, aber auch mit Laien, und sie findet abwechselnd auf der Bühne des Churer Theaters und draußen auf dem Vorplatz als Freilichtspiel statt. Teil eins spielt im Theater und evoziert mit einem großen Holzbottich vor monumentalen Gebirgsaufnahmen ein Jenatsch-Symposion irgendwo in den Alpen. In den Pausen erholen sich die Teilnehmer bei einem Bad und führen die Gespräche über den Bündner Freiheitshelden aus dem 16. Jahrhundert, seine Widersprüchlichkeit und seine Frauenbeziehungen fort.

Es wird aus dem Roman und aus C. F. Meyers Gedicht "Brautgeleit" – das, nackt vor Felswänden rezitiert, tatsächlich etwas Elementares bekommt – vorgelesen, und während der eine Badegast in Mickey-Mouse-Badehosen mit der Nacherzählung der Jenatsch-Story so richtig in Fahrt gerät und Unterbrechungen empört zurückweist, tauchen Jenatsch und seine tragische Geliebte Lukretia Planta selbst aus dem Wasser auf. Jenatsch ist mit Lukrezia, die, aus was für Gründen auch immer, einen Bart trägt, wie siamesische Zwillinge zusammengefesselt und macht seinem Zorn auf Rätoromanisch Luft.

Barock trifft Italo-Western

Was in der Badeszene durch die Hintergrundmusik aus einem Italo-Western angedeutet wird, findet im zweiten Teil, draußen in der kalten Oktobernacht, seine Fortsetzung. Da dreht ein Regisseur am Rande des Nervenzusammenbruchs mit einem Team, das seine Befehle nur zögernd umsetzt, einen Jenatsch-Film, der das barocke Thema krass aktualisiert.

So wird die Niedermetzelung eines Großteils der Veltliner Bevölkerung durch eine mit Texten von Anna Politowskaja bestückte Szene aus dem Tschetschenienkrieg in Erinnerung gerufen. Und dem poetisch anmutenden Speerträgerballett sowie den melancholisch-besinnlichen Liedern der Musical Grooup Chur stehen die lärmige Anfahrt eines Panzerfahrzeugs und der Überfall einer Motorrad-Gang gegenüber. Eben hat der Regisseur noch zynisch ins Megaphon gerufen, er möchte "diese wunderbare Szene von den halbverhungerten Kindern, die Gras fressen wie Ziegen", nochmals sehen, da entdeckt einer der Motorradfahrer, dass es sich bei dem Filmemacher um George Clooney handelt und fährt voller Freude über das unerwartete Wiedersehen mit ihm davon.

Mörderischer Maskenball

Ernst und Ulk, Seriosität und Ironie, Tragik und Komik – sie sind auch im dritten, wieder im Theater gezeigten Teil des Abends, der zwischen Dokumentartheater und Kabarett, Theater-Persiflage, Klamauk und historischem Festspiel oszilliert, fast unlösbar verquickt. Die Szene spielt in Chur an Fasnacht 1639, als Jürg Jenatsch dem Mordanschlag Lukretia Plantas zum Opfer fällt, die aller Verliebtheit zum Trotz ihren von Jenatsch getöteten Vater rächen will.

Nochmals bzw. erstmals treten die Figuren auf, die in Jenatschs Leben eine Rolle spielten: Herzog Rohan, der Zürcher Bürgermeister Waser, General Wertmüller und natürlich Lukrezia Planta, die nun endlich vom Dasein eines siamesischen Zwillings befreit wird und auch den Bart abrasieren darf. Halb elegische Tragödin, halb komische Lachnummer, gehört eine der letzten großen Szenen ganz der von Meret Hottinger brillant gespielten mörderischen Geliebten, und im Tod kann endlich auch Jenatsch von der merkwürdigen Doppelrolle Abschied nehmen, die ihn nach korrektem bündnerischem Sprachproporz gezwungen hat, stets zugleich als eine deutsch und eine rätoromanisch sprechende Wesenheit in Erscheinung zu treten.

Der Bündner Seele wird wohl auch der Auftritt einer Kurdirektorin schmeicheln müssen, die den Jenatsch-Boom touristisch in Anspruch nimmt, während die Tatsache, dass der Freiheitsheld am Ende noch in Frauenkleider gesteckt wird, jeden Verdacht auf eine einseitige Geschlechter-Bevorzugung aus dem Weg räumt. So dass dem Finale, das in einer wilden Maskenballszene nochmals das Laienensemble zum Zug kommen lässt und in der feierlichen Verbrennung von vier zusammengebundenen Affen gipfelt, nichts mehr im Wege steht.

Jenatsch (UA)
von Churer Ensemble und 400asa,
nach dem Roman von Conrad Ferdinand Meyer
Regie: Samuel Schwarz, Regie Aussenperformance: Julian M. Grühntal, Philipp Stengele, Sarah Jaggi, Idee: Mathias Balzer, Duri Bischoff, Markus Luchsinger, Samuel Schwarz, Dramaturgie: Mathias Balzer, Tim Zulauf, Bühnenbild: Duri Bischiff/Philipp Stengele, Kostüme: Rudolf Jost, Produktionsleitung: Roman Weishaupt, Chor: Musical Group Chur, Leitung: Rico Peterelli.
Mit: Philippe Graber, Julian M. Grünthal, Meret Hottinger, ThomasReisinger, Philipp Stengele, Kaspar Weiss und 12 Laiendarsteller.

www.theaterchur.ch

www.400asa.ch
, dort auch ein Trailer zum Projekt

Mehr lesen? Vor knapp einem Jahr, im November 2008, machte 400asa-Kopf Samuel Schwarz von sich reden, als er sich beim Festival Politik im Freien Theater in einem auf nachtkritik.de publizierten Offenen Brief gegen die Wettbewerbsstruktur des Festivals verwahrte.

Kritikenrundschau

"So knapp der Titel, so heterogen die Inszenierung", schreibt Tobias Hoffmann (Neue Zürcher Zeitung, 27.10.2009): "Ausgehend vom Satz 'Bündner werden bedeutet, zur multiplen Persönlichkeit zu werden' gleich zu Beginn, stellt sie sich als Suche nach den verdrängten Bestandteilen der bündnerischen Identität dar." Diese Suche drücke sich in "forcierten formalen Brüchen, Spaltungen der Figuren in mehrere Darsteller und sogar in Vertauschungen der Geschlechteridentität aus". Wie Meyers Roman hat die Inszenierung drei Teile. Nach dem Sauna-Teil folgt "ein etwas ins Leere laufendes satirisches Zwischenspiel", das Hauptstück sei aber Teil drei. Jenatschs Ende als Maske unter Masken korrespondiere dabei "durchaus mit dem zentralen Widerspruch, den der Roman spiegelt, dass nämlich eine unbändige Persönlichkeit wie Jenatsch gerade im kompromisslosen Verfolgen dieses einzigen Ziels in ihrer Identität zerfällt und zum Rätsel für die Zeitgenossen wird". Und wenn Samuel Schwarz Jenatsch aufspaltet in einen Berserker (Kaspar Weiss) und einen smarten Diplomaten (Thomas Reisinger), "scheint das zwar durchaus sinnfällig, doch umgeht der Regisseur damit die Herausforderung, Jenatschs innere Zerreissproben nachvollziehbar zu machen". Mit dem Epilog verschiebe sich dann der Fokus "ganz auf das unterschwellige Anliegen der Inszenierung: die Rückbesinnung auf eine (kreative) Anarchie ohne Vereinnahmung durch Politik und Tourismus".