Zum Widerstand überrumpelt

von Ralph Gambihler

Jena, 28. Oktober 2009. Falls es erhellend ist, die Geschichte des Herbstes 1989 als Geschichte der Städte zu erzählen, könnte der Blick nach Jena lohnen. Auch dort haben sich vor 20 Jahren die Oppositionellen unter dem Dach der Kirche gefunden, bevor die Massen kamen und mit ihnen auf die Straßen gingen. Auch dort verschwanden ihre Hoffnungen auf einen eigenen, dritten Weg irgendwann hinter emblemfreien Deutschlandfahnen – wie in Leipzig und Berlin und andernorts.

Und doch: Wenn man sich jetzt anschaut, wie das Theaterhaus Jena mit der Erinnerung an den Herbst 1989 umgeht, hat man Anlass und womöglich sogar große Lust, im Biotop einer Stadt mehr zu sehen als lokale Verhältnisse aus Milieus und Schauplätzen. Da gibt es offenbar eine Erkenntnisbühne zu entdecken, die immer noch nicht ganz verstanden und in ihrer Bedeutung erfasst wurde.

Erzählungen einer Stadt

Für die Arbeit am Mythos (Basisarbeit könnte man sagen) bedient man sich bewährter und unprätentiöser Mittel. Nina Gühlstorff und Dorothea Schroeder haben rund 50 Zeitzeugen aus Jena befragt, haben die Interviewtexte verdichtet und daraus ein Panorama der Erinnerung erarbeitet, das sie im Stadtraum aufleuchten lassen. Im Grunde funktioniert ihre "theatrale Demonstration" ähnlich wie eine abendliche Stadtführung, mit dem Unterschied allerdings, dass Gebäude und Straßen zur Kulisse für spielerische und zunehmend auch interaktive Einlagen werden.

Los geht's in der Stadtkirche, dem einstigen Sammelbecken und Ausgangspunkt der 89er Proteste in Jena. Vor dem Altarraum ist ein Mikrofon aufgebaut. Leute gehen nach vorne, sagen etwas, setzen sich wieder. Bald konzentriert sich die Szene auf drei Darsteller, die tastend in die Welt von damals eintreten. Es ist wie eine kleine, von nachträglichen Schauern des Erstaunens und leisen Zweifelns erfüllte Geschichtsstunde, die das Konkrete feiert und die Abstraktion scheut. Man erfährt, wie aus den kleinen Fürbitten einiger Theologiestudenten innerhalb von wenigen Tagen eine breite Protestfront wurde, wie die Protestierer mit bangem Herzen zur ersten Demo aufbrachen, wie sie dem damaligen Oberbürgermeister einen Forderungskatalog übergaben.

89er Wirren und ihre Richtung

Das ist die Ouvertüre. Auf dem Platz vor der Kirche wird ein wichtiges Requisit der Revolution verteilt. Mitarbeiter des Theaters bequatschen einzelne Pärchen im Publikum, für den Gang durch die Stadt Transparente zu übernehmen. Die Stoffe sind sehr weiß und fürs Erste vor allem irritierend parolenfrei. Der Abend soll sich nicht im bloßen Wiederkäuen des Gewesenen erschöpfen. So zieht man gut gelaunt im Rudel los. Sieben Stationen werden im Laufe der dreieinhalbstündigen Aufführung angelaufen. Meist sind es die Ensemblemitglieder Stefanie Dietrich, Julian Hackenberg, Kai Meyer, die jeweils in verschiedene Rollen schlüpfen.

Man drängt sich beispielsweise in einen kleinen Lebensmittelladen, in dem die Mutter eines inhaftierten Jugendlichen von ihren Nöten und mutigsten Momenten erzählt. Auf einem Hof stehend, lauscht man den Schilderungen eines ehemals Halbstarken, der 1989 als Mitglied einer aufmüpfigen Spaßguerilla eine "autonome Republik" ausrief, bis der harte Kern der Clique innerhalb von wenigen Stunden die Aberkennung der Staatsbürgerschaft und die Ausreise erlebte.

Im philosophischen Institut breitet ein einstiger Student mit SED-Parteibuch zwischen Konformität und demokratischer Hoffnung seine private Wendegeschichte aus. Aus diesen Einzelerzählungen entsteht das Narrativ einer Stadt in wirren, drängenden Zeiten. Es ist immer wieder frappierend, wie griffig zeitgeschichtliches Material in dieser Flanier- und Zuhör-Haltung werden kann, wie unmittelbar, wie nachfühlbar.

Gegenwart als Pointe

Wobei: Dieser Abend erzählt keine Täter-Opfer-Geschichte. Das große Abc der Repressionen wird nicht bemüht, trotz einzelner Anschauungen in dieser Richtung. Er ist mehr eine unpathetische Selbstfeier und noch mehr eine vorsichtige, nachdenkliche und doch auch heitere Selbstvergewisserung und Selbstbefragung von einstigen Akteuren, denen das Theater eine Bühne gibt und eine Stimme leiht. Behutsam hat man nach dem Geist von 1989 getastet – und man hat eine Form dafür gefunden.

Die Pointe der Aufführung ist ihre allmähliche Besinnung auf die Gegenwart. Nach einem Plausch mit Bürgerrechtlern in der Jungen Gemeinde werden Zuschauer gebeten, heutige Parolen auf die noch immer jungfräulich weißen Transparente zu sprühen. Man zieht nun demonstrierend Richtung Theaterhaus, begleitet von einem Transporter mit Lautsprechen und Polizisten, die die Straßen absperren. Die Stadt verwandelt sich in einen Erfahrungsraum für angehende Demonstranten des Jahres 2009. Das Finale im Theaterhaus, wo in ausgelassener Stimmung Workshops zum Thema ziviler Ungehorsam abgehalten werden, endet mit einer etwas aberwitzigen Sitzblockade. Man wird quasi zum Widerstand überrumpelt. Es ist ein schönes Gefühl.


Der Dritte Weg (UA)
Dokumentarprojekt basierend auf Interviews mit Demonstranten von '89
Idee, Konzept und Regie: Nina Gühlstorff und Dorothea Schroeder, Ausstattung/Kostüme: Matthias Koch, Video: Max Görgen, Dramaturgie: Rebekka Kricheldorf.
Mit: Stefanie Dietrich, Julian Hackenberg, Kai Meyer und Jenaer Bürgerinnen und Bürgern.

www.theaterhaus-jena.de

Mehr
zu Nina Gühlstorff im Archiv: Im Januar 2009 brachte sie in Osnabrück Rebekka Kricheldorfs Der Kopf des Biografen zur Uraufführung. Nina Gühlstorff und Doro Schroeder sind auch die Organisatorinnen des Osnabrücker Spieltriebe-Festivals, das im September 2009 zum dritten Mal stattfand. Mehr dazu auf dem Festivalportal www.nachtkritik-spieltriebe3.de

 

Kritikenrundschau

Eindruck hat dieses Dokumentartheaterprojekt auf Egbert Tholl von der Süddeutschen Zeitung (31.10.) gemacht. Bereits die Dokumentation der Gespräche, die das Regieduo mit sechzig JeanaerInnen geführt hat (in einer Sonderpublikation von Theater der Zeit) findet er großartig. Und auch die Art, wie deren Essenz nun im Kontext einen Stadtspaziergangs umgesetzt worden ist - weil die Texte nämlich drei Schauspielern übergeben wurden. Und zwar Julian Hackenberg, Kai Meyer und Stefanie Dietrich, die aus Tholls Sicht ihre Sache hervorragend machen und die "Originalsprecher" der Texte brillant verkörpern. "Die Stellvertreterschaft erhöht den theatralen Reiz" dieses Stadtspaziergangs, der die Wünsche von einst als Folie über die Gegenwart legt. Zwar verzeichnet der Kritiker auch ein paar folkloristische Drolligkeiten, findet ansonsten aber entscheidend auf den Punkt gebracht, was man damals wollte und das utopielose Heute, in dem man inzwischen angelangt ist, wofür mitunter die Stadt selbst eine ideale Kulisse abgibt. Eine Wanderung durch Jena, die auch von einem Scheitern handele: "Der Dritte Weg wollte die Reformierung des Sozialismus. Wollte nicht das Überstülpen des kapitalistischen Systems. Die, die diesen Weg gehen wollten, wollten nicht in den Westen."

 

Kommentare  
Der dritte Weg, Jena: größter Witz
Diese theatrale ist der größte Witz des deutschen Theateres. Die Regisseurinnen sollten ihr Lehrgeld zurückzahlen
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