Revolte ohne Hoffnung

von Michael Laages

Wien, 30. Oktober 2009. Am Ende steht Tyrannenmord. Doch danach kommt nicht das, wofür er begangen wurde und worüber zuvor so lang und breit gestritten und agitiert worden ist: der Aufstand gegen ein überlebtes Fürstentum und für die Republik. Denn der Attentäter selbst war nur ein finstrer Clown, der ziemlich heruntergekommene Ober-Bohemien der Stadt und auch am Hof von Florenz. Und wie laut auch immer er den eigenen Plan durch die Straßen trug, ernst hat ihn dort keiner nehmen mögen.

Außerdem war dieser Mörder Lorenzaccio nicht nur ein Cousin des von ihm schließlich ermordeten Potentaten, sondern hatte auch noch jahrelang für den (speziell was Frauen betraf) nimmersatten Herzog Alessandro Orgien organisiert. Als der Fürst jedoch in unstillbarer Gier sogar Lorenzaccios schöne junge Schwester zu sich ins Bett befahl, wurde es dem abgewrackten Schöngeist zu bunt.

Er, der immer ein Doppelspiel gespielt hatte und neben seinen Fürstendiensten auch für die Republikaner zu kämpfen vorgab, glaubt nun, das Fanal für die Revolte zünden zu können. Aber im alten Trott, in den das Fürstentum Florenz sofort nach dem Tod des einen und der Thronbesteigung des nächsten Medici-Herrschers zurückfällt, wird bald auch Lorenzaccio selbst für ein paar Silberlinge abgemurkst. Es war wohl unter diesen Umständen nicht anders zu erwarten.

Nähe zu den europäischen Ereignissen um 1989

Der französische Schriftsteller Alfred de Musset ist selber der Lebemann und ständig unter Absinth-Strom stehende Müßiggänger gewesen. Auch de Musset sympathisierte mit neuer Revolution, als der 1810 Geborene mit 22 Jahren im repressiven, postrevolutionären Klima Frankreichs unter König Louis-Philippe am "Lorenzaccio" zu schreiben begann, diesem geschichtsphilosophisch finstren Panorama einer vergangenen Epoche; mit Quellen aus dem Florenz des 16. Jahrhunderts wie mit liebender Energie versorgt von der Schriftstellerin George Sand.

Was Stefan Bachmann da also auf die Burgtheater-Bühne hebt, ist als politischer Theaterstoff in praktisch jeder Hinsicht ziemlich weit weg. Und man könnte meinen, es bedürfe beträchtlicher Mühe, das Stück nun in die Nähe eines nachbarschaftlichen Kommentars etwa zu den europäischen Umwälzungen vor zwanzig Jahren zu rücken. Doch wird die neue Wiener Fassung des selten gespielten "Lorenzaccio" erstaunlicherweise zum sehr starken Stück.

Das hat vor allem handwerkliche Gründe. Zum einen hat Bachmann die Modernität im szenischen Gefüge des Dramas (das laut Programmheft auch den glut- und blutvollen amerikanischen Kino-Haudegen Sam Peckinpah beinahe für eine Verfilmung begeistert hätte) auf äußerst trickreiche Weise genutzt. Das Stück strotzt nur so von intelligenten Übergängen von Szene zu Szene.

Wie auf Drogen rotierend, immer in Bewegung

Alle Räume der Geschichte, Straßen, Festsäle, Kirchen, Hinterzimmer, Bordelle, hat Bühnenbauer Johannes Schütz in ein einziges Bild gezwungen; wofür er allerdings, wie fast immer, Bauteile aus früheren Inszenierungen (etwa aus Schimmelpfennigs Hier und Jetzt von Jürgen Gosch) recycelt und in neuem Zusammenhang noch einmal nutzt – aber das weiß ja nur, wer die gesehen hat.

Ein Kasten ganz aus Platten-Gold begrenzt nach hinten die Bühne, die ansonsten ganz mit Erde aufgeschüttet ist, darin gibt's nur ein Sofa und zu Beginn des zweiten Teils eine lange Familientafel. Das Personal tritt (wie zuletzt fast immer bei Gosch) recht häufig aus den ersten Reihe im Zuschauerraum auf, schaut sich quasi selber bei der Arbeit zu und zieht sich dort auch um. Und das ist auch dringend nötig, denn fast alle Akteure im in jeder Hinsicht erstklassig besetzten Ensemble bewältigen in rasanten Umzügen mehrere Rollen.

So wirkt das unruhige Stück immer in Bewegung, wie auf Drogen rotiert es, selbst wo es über lange Strecken eher bedächtig daher kommt. Schließlich verfügt der Regisseur noch über zwei Protagonisten, wie sie so schnell nirgends zu finden sein werden.

Wild, wüst, wuchtig, winselnd vor Lust und Gier

Über den wie so oft meisterhaft fahrigen, ironie- wie verzweiflungssatten Michael Maertens in der Titelpartie und über Nicolas Ofczarek, dem es als Fürst Alessandro tatsächlich gelingt, einen Menschen ohne Maß zu erfinden: ein wildes, wüstes, gerne nackt im Dreck sich wälzendes Kind im Kettenhemd, unberechenbar in fast jeder Sekunde, wuchtig und winselnd vor Lust und Gier, debil und delirant in seinen Süchten, unbeirrbar in der todbringenden Energie seines Wesens. Nackt und blutüberströmt lässt der Attentäter dieses Monstrum auf dem Sofa zurück, wie nach einem Kinderspiel, das nur ein bisschen zu weit gegangen ist.

Die Aufführung prunkt jenseits dieser beiden Schauspieler-Ereignisse aber auch mit filigranen Phantasien für praktisch alle, auch die kleinsten Rollen – etwa zwei republikanische Mitverschwörer, die wie deutsche Jägermeister daher kommen, die Waffen ungenutzt auf dem Rücken, und die schon wieder verführbar sind noch für das kleinste Privileg dieses zutiefst verkommen Fürstentums. Bachmanns Inszenierung kann zirkushafte Comedy ebenso beschwören wie musikalische Italianità oder den romantisierenden Eros einer Revolte, die zwar weiß, dass sie wichtig und nötig ist, aber eben nicht, wohin sie streben soll.

Das letztlich ist vielleicht die haltbare Wahrheit dieser starken Alptraumphantasie – dass da fürs erste keine Hoffnung wächst aus der Revolte; und dass sie darum stets höchstens die beste aller schlechtesten Lösungen sein kann – wie Winston Churchill zufolge die Demokratie. Wer mag, kann das aktuell finden. Immer wieder von neuem.

Lorenzaccio
von Alfred de Musset
Fassung nach den Übersetzungen von Michael Eberth, Katarina Hock und Host Laube
Regie: Stefan Bachmann, Bühne und Kostüme: Johannes Schütz, Musik: Felix Huber.
Mit: Michael Maertens, Nicolas Ofczarek, Martin Schwab, Sebastian von Blomberg, Jörg Ratjen, Daniel Jesch, Gerrit Jansen, Silvia Fenz, Melanie Kretschmann und Mavie Hörbiger.

www.burgtheater.at

 

Mehr lesen über Stefan Bachmann im nachtkritik-Archiv: der Schweizer Regisseur hat sich bereits in früheren Arbeiten anhand vergessener Dramen mit den nach 1989 brüchig gewordenen Gewissheiten über das progressive Voranschreiten der Geschichte auseinander gesetzt. In seiner Inszenierung von Paul Claudels Coufoutaine-Trilogie Die Gottlosen zum Beispiel, die im März 2007 am Berliner Maxim Gorki Theater herausgekommen ist. Zuletzt inszenierte Bachmann im September 2009 am Zürcher Schauspiehaus die Uraufführung von Thomas Jonigks Dramatisierung von Gottfried Kellers schweizerischer Mentalitäts- und Kapitalismusstudie Martin Salander.

 

Kritikenrundschau

"Die auf drei Stunden zurechtgestutzte Fassung, welche Stefan Bachmann nun mit Top-Besetzung herausbringt, wirkt wie massgeschneidert für die Vorlieben dieses Regisseurs", findet Barbara Villiger Heilig in der Neuen Zürcher Zeitung (3.11.), "er blättert ein grosses Bilderbuch auf, bunt, opulent, kurzweilig und voll theaterwirksamer Effekte." Nicht nur formal, sondern auch atmosphärisch ergänzen sich Musset und Bachmann. "Wo der Autor den hohen – und oft hohlen – Tragödienton mit schwerem Pathos unterlegt, repliziert der Regisseur mit szenischer Ironie, ohne freilich in Blödeleien zu fallen." Allerdings, so wendet Villiger-heiliger ein, schürfen weder Bachmann, noch Musset dort, wo es wirklich schmerzt: "Trotz durch den Dreck robbenden Halbtoten, trotz verkrustetem Blut und verspritztem Wein liegt das propere Abziehbild immer in Griffnähe."

Wenn am Ende der nächste "Staatskapo" in gelbe Strumpfhosen gesteckt und ihm ein Lampenschirm auf den Kopf gesetzt wird, kommt die Inszenierung des "in die Jahre gekommenen Junghallodris" Bachmann für Gerhard Stadelmaier von der Frankfurter Allgemeinen (2.11.) "nach drei endlosen Stunden (...) zur Harmlosigkeitspointe: Herrscher sind Armleuchter". Der Regisseur ziehe Mussets Stück ganz und gar seine Stacheln. Nämlich verschwinde der Staat hier "nicht in Privattragödien, sondern in Privatmarotten – der Schauspieler": Ofczarek spiele seine "Lieblingsprivatrolle: die launische tickende Mimenbombe", einen "aggressiv launisch gedunsenen Wiener Vorstadtschwamm, aus dem die Regie tröpferlweise Wüstlingsklischee auspresst". Maertens "Lieblingsprivatrolle" sei hingegen "das Hirnrisskasperl", in diesem Fall ein Tyrannenmörder mit "klatschnassen Haare, irrem Blick, dem Dolch in der Brieftasche, in denen auch die Zertifikate des Dr. Freud vergilben, die ihm wohl eine Höchstneurose bescheinigen". Dazu trügen die Bürger "Westen von heute, gehen uns aber nichts an".

Nicolas Ofczarek gebe den "von der Macht berauschten Bastard des Medici-Clans (...) fabelhaft als großes, monströses Kind", so eine ganz anders gestimmte Margarete Affenzeller im Standard (2.11.). Es sei vielleicht die "provokanteste Aussage dieser leicht daherrollenden, superfein nuancierten Inszenierung", dass einer, Lorenzaccio, "demutsvoll auf dem erdigen Boden kniet, bedächtig Rotwein in sich hineintrinkt und erklärt: Er fühle sich berufen! Inmitten von Männern, die in gelben Strumpfhosen als Stehlampen dienen (...) oder in Rot als Kardinäle (...), spürt einer den Auftrag zur historischen Tat in sich. Für diese Anmaßung findet Bachmann (...) verrückteste, grausame und zugleich lächerliche Ausschmückungen." Diese "entfesselte Welt" steck voll "hohler Rituale", nichts zähle mehr etwas. Das allerdings zeige Bachmann "auf frappierend schöne Weise zwischen Drama und Karikatur". Auch die "dämonisch-depressive Musik" Felix Hubers, die die Kritikerin an die Orgienszenen in Kubricks "Eyes Wide Shut" erinnert, gebe "diesem Edel-Untergang zudem eine verstörende Tiefe - und Thrill. Einfach schön."

Bachmann lasse "keinen Zweifel aufkommen, dass er unsere Gegenwart im Visier hat", schreibt Stephan Hilpold in der Frankfurter Rundschau (2.11.), und er sie "als ein durch und durch amoralisches Zeitalter, das weniger durch idealistische Ideale als durch die Zuckungen in der Hose geformt wird. Gegen den Reiz der schlechten Sitten kommt keine aufrechte Haltung an", was mit Maertens in der Rolle des "modernen Brutus" seine "perfekte Verkörperung" finde. "Hat der Begriff Camp je Sinn gemacht, dann für diesen Schauspieler, der die Grenze zwischen Ernsthaftigkeit und Ironie zu einer faszinierenden Schlingerpartie macht." Sein Lorenzaccio spiele "das Spiel der allgemeinen Verstellung (...) so lange, bis er zum perfekten Abbild dessen geworden ist, was er verabscheut". Mit den Kategorien Gut und Böse wisse Bachmann nicht allzu viel anzufangen, vielmehr zelebriere er "die Amoralität so genussvoll, dass man jeden Widerstand gern aufgibt".

Von Bachmanns "Regie im Jürgen-Gosch-Gedächtnis-Stil" gibt es laut Christopher Schmidt von der Süddeutschen Zeitung (2.11.) "nicht viel Rühmenswertes zu berichten". Er habe de Mussets "bahnbrechendes, verstörend modernes Stück nicht ausgegraben, sondern nur umgebettet auf den immergrünen Acker der Gesellschaftssatire" und inszeniere "allzu spekulativ und unorganisch", teilweise würden Szenen "nur auf- und ausgestellt – als provokative Tableaux der polymorph-perversen Zuchtlosigkeit". Über ihren "schmalen Ansatz eines Sittenbildes aus dem verlotterten Berlusconi-Italien" käme die Inszenierung nicht hinaus, wären da nicht Ofczarek und Maertens, die "mit Lust und Fleiß den Rahmen" sprengten. Keiner könne "so schnoddrig und glasklar sein" wie Maertens, der Lorenzaccios Weltekel "monologisch vor sich hinschlenzt" und dem "Nonchalance zur Maske der inneren Leere wird". Auch Ofczarek als "Triebtier im Lurex-Leibchen" gehe "ungewöhnlich weit, er entblößt sich nicht nur körperlich, sondern zeigt mit großer Härte die Tragödie eines Getriebenen".

Inzwischen wüsste man, schreibt Ulrich Weinzierl in der Welt (2.11.), dass sich de Mussets Historienschinken "Lorenzaccio" "durchaus lecker zubereiten lässt", die Regie müsse lediglich "die richtigen Zutaten wählen, das saftige Stück ordentlich an- und aufschneiden und würzen". Bachmann aber serviere "ein ebenso zähes wie buchstäblich geschmackloses Bühnengericht. Es fehlen Pfeffer und Salz, die Ironie-Sauce kitzelt unseren Gaumen kaum: Bisweilen wird ein wenig gelacht. Für ein Werk, das auch eine Tragödie des Politischen ist, reicht das nicht im Geringsten. Und Renaissance-Orgien sollten nicht gar so ranzig sein". Michael Maertens spiele vornehmlich "Michael Maertens, der Michael Maertens als Lorenzaccio spielt. Ziemlich virtuos und unziemlich uninteressant", den Zwiespalt der Figur spreche er aus, "ohne ihn zu gestalten". Auch das "behauptete erotische Verhältnis" zwischen ihm und dem Herzog wirke selbst dann unglaubwürdig, "wenn er beim Meucheln traurig lüstern auf Ofczareks nacktem Fleischgebirge herumturnt".

"Hauptsache es spritzt," ätzt Philipp Blom in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (1.11.), wo er jedoch mitunter auch Momemte der Beeindruckung zu Protokoll gibt. Stefan Bachmann habe das sechsstündige Original auf schlanke drei Stunden getrimmt und Alfred de Mussets hehre freiheitskämpferischen Prinzipien durch Pulp Fiction und Klamauk ersetzt. "Das Patchwork aus drei Übersetzungen torkelt durch die Register zwischen Schiller und 'Tatort'. Da trifft: 'der Hochmut der Tugend ist hoher Mut' auf: 'is' doch total klar!' Brüllendes Sofawuchten und Action überspielen oft Ratlosigkeit, irgendjemand ist immer pitschnass oder völlig eingeschlammt." All diesen Angriffen könne das Drama nicht standhalten, findet Blom, und als der verfettete Tyrann Alessandro endlich nackt und bekleckert auf dem frischgeweißten Sofa liege "und scheinbar beim Sex mit seinem Busenfreund von diesem erstochen wird, ist aus dem anfänglich verlegenen Kichern im Publikum lautes Lachen geworden. Der Herzog bleibt liegen wie ein gestrandeter Wal. Wo sind die Greenpeace-Aktivisten, wenn man sie mal braucht?"

Ein Dauerrausch von Stück, ein gößenwahnsinniger, von seiner Zeit und der Liebe enttäuschter Autor. Was aber mache Bachmann aus dem Projekt? fragt Norbert Mayer in der Wiener Tageszeitung Die Presse (1. 11.) Einen faden Karneval! Bachmann betreibe postmoderne Spielchen auf einer symbolschweren Bühne. "Florenz ist ein goldener Guckkasten, auf Erde gebaut, mit einem langen Sofa, an dem Ofczarek als Herzog Kraftmeiereien ausüben darf, wenn er nicht gerade Frauen oder den blasierten Vetter Lorenzaccio beglückt. Später, wenn die Familien Strozzi, Cibo oder Pazzi intrigieren, steht im Zentrum ein langer Tisch, der an Leonardos Abendmahl erinnert." Es werd "gevöllert, geknattert, gefochten (Jörg Ratjen macht das sogar nackt!)", wie Statuen ständen "schmucke Kardinäle dazwischen", manchmal galoppiere das halbe Ensemble "adrett und spärlich bekleidet mit Pferdemasken" vorbei. Die Handlung sei wirr, die Anspielungen auf alle Revolutionenm bis 1989 nur halb so originell, wie man tue. Und auch ein paar tolle Schauspieler können den Abend für Mayer nicht retten.

Über weite Teile "amüsant, sarkastisch, bizarr, spektakulär" findet Frido Hütter von der größten österreichischen Regionalzeitung Kleine Zeitung (1.11.) den Abend. Über Musik und Geräusche verlinke Stefan Bachmann de Mussets Stoff mit "Kubricks 'Clockwork Orange', Tarantinos 'Kill Bill', Italowestern, mit Partisanenromantik etc." Sehr gelungen findet der Kritiker auch das schlichte Bühnenbild, "das mit einem golden schimmernden Kubus, einer langen Couch und ein paar Tischen auskommt", protokolliert stürmischen, ermüdungsbedingt jedoch eher kurzen Applaus. Insgesamt würde der Abend aus seiner Sicht trotzdem schwerer wiegen, wenn er um ein paar Plattitüden leichter wäre.

 

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