Experimente mit der Egge

von Regine Müller

Köln, 30. Oktober 2009. Am Anfang ist die Bühne leer. Vor der Rückwand stehen in gebührendem Abstand voneinander fünf Tafeln, auf jeder ist ein Buchstabe des Namens "Kafka" geschrieben. Fünf Schauspieler haben sich hinter den Buchstaben aufgebaut und setzen sich erst einzeln, dann gemeinsam in Bewegung. In eilfertigem Laufschritt trägt jeder seinen Buchstaben nach vorne, dann wieder zurück. Schließlich beginnen die, deren Buchstabe nicht "a" lautet, die Tafeln umzudrehen. Nach einer guten Weile und etlichen sinnlosen Gängen ist aus "Kafka" "Samsa" geworden. Aha.

Dann fährt der eiserne Vorhang herab und die folgenden knapp drei Stunden spielen auf dem gedrängten Raum der Vorbühne. Bis sich am Ende der Eiserne wieder hebt und den Blick auf giftgrüne Rollrasenbahnen freigibt. Gemächlich rollen die Schauspieler den Rasen ein, fläzen sich pfeifend auf den Rollen, während einer mit Kreide auf den Bühnenboden riesige Buchstaben krakelt. "Wiese" schreibt er. Wieder fünf Buchstaben.

Kann aus Kafka Samsa werden?

Es wird unablässig geschrieben und buchstabiert an diesem Kafka-Abend, dessen Text Regisseur Antonio Latella aus Erzählungen, Tagebüchern, Oktavheften und einem Brief an den Vater destilliert hat. In einer quälend langen Szene kämpfen sich zwei Schauspieler kletternd, laufend, keuchend und brüllend bis zur Erschöpfung in endlosen Wiederholungen durch das Alphabet. Auf große und kleine Tafeln, auf den Boden und auf die Wand des Eisernen wird geschrieben, was auf der kahlen Bühne fehlt: Bett, Laken, Stuhl, Tisch. Aber auch "Asthma" oder Rätselsätze wie "Das Schweigen wird der Perfektion zugeschrieben" werden notiert und wieder weggewischt.

Das Folterinstrument, jene Egge, die in der "Strafkolonie" dem Todeskandidaten sein Urteil buchstäblich in den Leib schreibt, und die "Verwandlung" des Gregor Samsa in ein "ungeheueres Insekt" sind die zentralen Metaphern, um die Latellas Kafka-Pasticchio manisch und immer wieder leer laufend kreist. Denn die anfängliche Setzung, den Autor Kafka mit dem literarischen Subjekt Samsa zu verschmelzen, wird schnell zur Formel, die sich in sich selbst verbohrt und sich mehr und mehr in ermüdender Beliebigkeit erschöpft. Obwohl – oder gerade weil? – Latella alle Mittel seiner hoch musikalischen und enorm körperlichen Theaterkunst einsetzt. Denn er weiß genau, ja zeigt es sogar unablässig, dass Kafkas Texte eben doch kein Theater sind, sondern Texte bleiben. Monumentale, rätselhafte Wortgebilde, die ihre Geheimnisse niemals preisgeben wollen.

Exerzitium, nicht Verwandlung

Darum sehr wohl wissend, drängt Latella über weite Strecken den Text in den Hintergrund. Lässt hundertfach den Wecker klingeln, Uhren ticken, Türen schlagen, Zivilisationslärm aufbranden. Lässt die Schauspieler "Maikäfer flieg!" singen, stottern, in rezitativischen Sprechgesang abdrehen, wie Käfer auf allen Vieren krabbeln und zappeln. Im letzten, dritten Teil kommt der Text endlich ganz zu sich, wenn die Fünf sich zum Sprechchor formieren und in oratorischer Eintracht "Vor dem Gesetz" wie einen liturgischen Text intonieren. Mit virtuoser Perfektion und höchstem Körpereinsatz absolvieren Simon Eckert, Torsten Peter Schnick, Renato Schuch, Rosario Tedesco und Michael Weber das überlange Kafka-Exerzitium. Latellas Ringen um Kafka ist kraftvoll und scheitert doch grandios.


Die Verwandlung und andere Erzählungen
nach Franz Kafka
Regie: Antonio Latella, Bühne und Kostüme: Annelisa Zaccheria, Musik: Franco Visioli, Licht: Giorgio Cervesi Ripa, Dramaturgie: Federico Bellini, Sybille Meier.
Mit: Simon Eckert, Torsten Peter Schnick, Renato Schuch, Rosario Tedesco, Michael Weber.

www.schauspielkoeln.de


Mehr zu Antonio Latella im Archiv: Bei den Wiener Festwochen inszenierte er im Mai 2009 Wild wuchern die Wörter in meinem Kopf nach Texten von Josef Winkler. Und im März 2008 in Köln Goldonis Trilogie der Sommerfrische. Studio su Medea gastierte im Rahmen des Italienischen Theaterherbsts 2007 in Berlin.

 

Kritikenrundschau

Als szenische Aufführung eines Missverständnisses beschreibt Andreas Rossmann in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (1.11.) diese Kafka-Auseinandersetzung. Denn aus seiner Sicht verkürzt Antonia Latella hier "die Ungeheuerlichkeit von Kafkas Bilderverrätselung" und bezieht sie stattdessen auf Kafkas Lebenserfahrung. Für Rossmann eine Reduktion von Kafkas Bildwelt zu "Bebilderungssequenzen". Auch die schauspielerischen Darbietungen stoßen anscheinend auf wenig Kritikerliebe: "Auf den Türen zum Parkett wird um Kenntnisnahme gebeten, dass die Stroboskopblitze epileptische Attacken auslösen können. Vielleicht wäre es sinniger gewesen, nicht die Zuschauer, sondern die Schauspieler darauf hinzuweisen."

Latella sei in Köln bereits mit seiner Goldoni-Inszenierung "Trilogie der Sommerfrische" "aus dem üblichen Theaterbilder-Rahmen gefallen", so Günther Hennecke in der Kölnischen Rundschau (2.11.). Diesmal fächere er Kafkas Welt "in einer Mischung aus Groteske und Panoptikum, Realismen und Monstrosität auf" und erfinde "ebenso banale wie packende Bildsequenzen". Triumph und Niederlage lägen an diesem Abend nah beieinander. Die grandiosen Darsteller reizten "ihr Spiel körperlich oft bis an die Grenzen des Erträglichen aus und wechseln dabei immer wieder die Rollen. Alle sind Samsa, dann wieder Teil der Familie, die sich des Mistkäfers entledigen will. Was nicht gerade dem allgemeinen Verständnis dient". Und wenn sich zwei Akteure "minutenlang durchs Alphabet brüllen, sich dabei bis zur Erschöpfung verausgaben, tritt die Inszenierung lange auf der Stelle". Dieser Entwurf von Welt habe "mit Realität nichts zu tun", beschreibe vielmehr einen Alptraum. "Ob Latella das Quintett zum chorischen Sprechen vereint, die Darsteller vereinzelt wüten oder schweigen lässt: Er entwirft eine durchgehend hoch aufschäumende und emotionale Kunstwelt, die sich freilich oft selbst im Weg steht. Ihre Monstrosität erstickt nicht selten Kafkas Sprachkunst".

Keine Figur bekomme bei Latella eine "klar umrissene, einschätzbare Persönlichkeit", fast alle spielten alle Rollen, beschreibt Jessica Düster im Kölner Stadt-Anzeiger (2.11.). Wie die Grenzen zwischen den Charakteren blieben auch die zwischen den Texten fließend, sie würden "zu einem einzigen, vielschichtigen Porträt eines großen Künstlers und gepeinigten Menschenkindes". Dabei trage Regisseur Latella "dick auf". Seine Inszenierung habe Längen durch die "vielen nervenaufreibenden Wiederholungen", doch sei sie auch "grotesk, abstoßend und vor allem laut. Keifende Stimmen schießen aus unerwarteten Ecken, wie im Horrorkino wird mit verstörenden Soundeffekten gearbeitet, Stroboskoplicht zuckt zu Kakofonien." Das Ganze sein ein "absurder, tragischer und anstrengender Ideenrausch, der weniger der Werktreue verpflichtet ist denn mutiger Eigeninterpretation" – und die "polarisiert". "Zweifellos großartig" sei allerdings, was die Schauspieler hier "auf kleinstem Raum vollbringen, physisch, stimmlich und mimisch".

 

 

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