Der Stimme beraubt, als die Stummheit endete

von Esther Slevogt

Potsdam, 5. November 2009. Fast wäre die friedliche Revolution, deren entschlossene Sanftmut vor zwanzig Jahren das marode Staatswesen der DDR in sich zusammenfallen ließ, doch noch in Gewalt umgeschlagen: als im Januar 1990 aufgebrachte Demonstranten die Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit in der Normannenstraße stürmten. Erst waren es Hunderte, die sich gewaltsam Zutritt verschafft hatten, bald Tausende, die der blinde Zorn über jahrzehntelange Bespitzelung und Unterdrückung nach Lichtenberg trieb, während in Pankow die Protagonisten des Wandels, unter ihnen die Bürgerrechtler Konrad Weiß und Rainer Eppelmann, am Runden Tisch schon über den demokratischen Umbau der DDR verhandelten, die dann aber nicht mehr zu retten war.

Die in Bedrängnis geratene DDR-Regierung holte die Bürgerrechtler zu Hilfe, und Weiß und Eppelmann machten sich in die Normannenstraße auf. Zuvor hatten sie über den Rundfunk einen flammenden Aufruf verbreiten lassen, der mit dem Satz endete: "Bitte keine Gewalt!" Ihr Auftauchen in der Normannenstraße verhinderte damals, dass die Lage eskalierte und in offenen Bürgerkrieg umschlug.

Ausgeträumter Traum einer demokratischen DDR

Nun erzählt Konrad Weiß auf der Bühne des Potsdamer Hans Otto Theaters die Geschichte noch einmal, schildert die absurde Szene, wie er als ehemaliger Dissident mit Eppelmann nun in einem volkspolizeigeschütztem Konvoi in die Normannenstraße fuhr. "Bitte keine Gewalt! Bitte keine Gewalt!" sagt er noch einmal freundlich und guckt dabei in Richtung einer enormen Schwarzweißprojektion eines Fotos an der hinteren Bühnenwand, auf der man ein paar weiße Aktenblätter durch die Luft fliegen sieht. Keine Dramatik, nirgends. Dabei waren das die Tage, an denen der Traum von einer demokratischeren DDR ausgeträumt war. Doch das, denkt man nun, hat Weiß damals gar nicht bemerkt.

Auf der Bühne sind ein paar Tische mit altertümlichem Bürogerät verteilt: Schreibmaschinen, Vervielfältigungsmaschinen mit Handkurbeln zur Herstellung von Flugblättern, Telefone mit Drehscheibe. Kurz darauf zieht Weiß ein Blatt aus einer der Maschinen: "Ein Text, den ich damals für den Spiegel schrieb: Heimatverlust", sagt er und beginnt zu lesen, wie es war, als den Bürgerrechtlern die Stimme genommen wurde in dem Augenblick, als "wir unsere Stummheit verloren hatten".

Verschwinden von der politischen Bühne

In der kaum reflektierten Melancholie dieser beiden kurzen Szenen spiegelt dieser Abend unfreiwillig die ganze Tragik der DDR-Bürgerrechtler und ihr Verschwinden von der politischen Bühne nach der Wiedervereinigung: Menschen, die im letzten Moment Teil des politischen Systems der DDR wurden, in dem sie bis dahin unter großen Opfern Oppositionelle gewesen waren, eines Systems, an dessen Veränderbarkeit sie noch glaubten, als sich das "Volk" längst schon auf Helmut Kohls blühenden Landschaften weiden sah.

Womit man dann auch beim Problem angekommen ist, den dieser zweite dokumentarische Theaterabend zur DDR-Geschichte von Clemens Bechtel, Renate Kreibich Fischer und Lea Rosh hat: dass dies gar nicht sein Thema ist, und er stattdessen ein wenig verklärend auf die epochalen Ereignisse von damals blickt. Wir begegnen bekannten und unbekannten Protagonisten von einst: darunter Wolfgang Templin, Ralf Hirsch und Ulrike Poppe, sie alle Mitbegründer der "Initiative für Frieden und Menschenrechte", eine Keimzelle der DDR-Bürgerrechtsbewegung, aus der 1989 auch die Bürgerbewegung "Demokratie Jetzt" hervorging.

Der Geist durchdiskutierter Nächte

Mit ihren Erzählungen begibt man sich noch einmal auf eine Zeitreise ins Ostberlin der Siebziger und Achtziger Jahre, atmet den Geist rotweingeschwängerter durchdiskutierter Nächte in verrauchten Altbauwohnungen im Prenzlauer Berg, wo eine in den 50er und 60er Jahren geborene Generation sich mit viel Energie der allgegenwärtigen Kontrolle des Staates zu entziehen versucht, und als diese Versuche von der Stasi kriminalisiert werden, schließlich offen in Opposition zum Staat übergeht.

So erzählt Ulrike Poppe, wie sie zusammen mit Freunden einen Kinderladen gründet, der dann eines Tages von der Stasi ausgeräumt, zerstört und das zerschlagene Schaufenster zugemauert wird – einer der Kälteschocks dieses Abends. Oder Ralf Hirsch, dem als Vierzehnjährigem "fehlgeleitete politische Anschauungen" einen längeren Aufenthalt in einem sogenannten "Jugendwerkhof" einbringen, wie die DDR euphemistisch ihre Erziehungsheime nannte, in deren brachiale, militaristische Methoden Hirsch mit einer Mischung aus humoriger Erzählung und Zynismus Einblick gewährt, die einen frieren lässt.

Ulrike Poppe wiederum berichtet, wie sie als junge Frau als "Zuführerin" gearbeitet hat – im Sozialwesen der DDR also verantwortlich für die Überführung "auffälliger" Jugendlicher in derartige Anstalten war. Dass sie damals Teil des Repressionsapparats gewesen ist, quält sie lebenslang – wie auch Templin nicht davon loskommt, dass er als glühend vom Kommunismus überzeugter Student von der Stasi als IM angeworben wurde, bis er eines Tages vor Freunden seine "vorsätzliche Dekonspiration" betreibt, wie das im Stasijargon hieß, die von einem anderen IM in der Gruppe brühwarm weitergegeben wird.

Bewegte Tage im November

Diese Geschichten, in denen jeder das Hadern mit seinen Schwächen, seinen kleinen und großen Kollaborationen mit dem System erzählt, gehören zu den Stärken dieses Abends, der viel will, weit ausholt, sich aber dann immer wieder verläppert und in Allgemeinplätzen verliert. Man erhascht einen Blick auf das brennende Dresden, das der dreijährige Konrad Weiß auf der Flucht aus Schlesien 1945 am Horizont glühen sieht, hört, wie er später in Auschwitz lernt, was es heißt, ein Deutscher zu sein. Leidet mit Templin, der als Sproß einer verbotenen Beziehung zwischen einer DDR-Bürgerin und einem sowjetischen Soldaten als Russenkind diskriminiert wird. Und freut sich immer wieder an Ulrike Poppes fast schon altersweiser Lakonie, mit der sie alte Zeiten auferstehen läßt.

Doch fehlt dem Abend ein Reflexionshorizont, ein geschärfter Blick, der Drang, mehr wissen zu wollen, als man ohnehin schon weiß. Mit drei Mitgliedern der Potsdamer Bürgerrechtsbewegung erreichen wir dann über die bewegten Tage im Oktober und November 1989, die Wahlfälschungen, die der Pfarrer Hans-Joachim Schalinski anprangert, das Trauertrommeln für die Toten auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens, mit der 1968 geborenen Jeanne Grabner auch die Frage, wo man heute, zwanzig Jahre danach, angekommen ist.

Privileg, nicht zum Widerstand gezwungen zu sein

Es sei ein guter Ort, sagt Grabner, und empfindet es als Privileg, nicht mehr zum Widerstand gezwungen, sondern einfach frei zu sein. Er habe nie bis zur Rente ein Oppositioneller sein wollen, sagt der 1960 geborene Ralf Hirsch verschmitzt, der heute Angestellter des Berliner Senats ist. Und so sei es ja gekommen. Er sei kein Oppositioneller mehr und auch noch kein Rentner. So ist das eben: Demokratie ist langweilig, das ist ja gerade das Schöne daran. "Jeder ist mehr auf sich selbst geworfen," sagt die 1965 geborene Carolin Lorenz später, die mit feingesponnener Distanz zu der Achtzehnjährigen, die sie damals war, ihr Engagement auch als Teil einer Jugendkultur beschreibt. Aber dann kommt doch noch ein platter Sinnspruch, mit dem der Abend zeigefingernd zu Ende geht: "Widerstand lohnt sich", sagt der Potsdamer Pfarrer Schalinski. Wenn's weiter nichts ist.

 

Vom Widerstehen (UA)
Ein Dokumentar-Theaterstück über den Widerstand in einer Diktatur
Konzept: Renate Kreibich Fischer und Lea Rosh
Regie: Clemens Bechtel, Bühne: Iris Kraft.
Mit: Jeanne Grabner, Ralf Hirsch, Carolin Lorenz, Ulrike Poppe, Hans Schalinski, Wolfgang Templin, Konrad Weiß.

www.hansottotheater.de

 

Mehr lesen im nachtkritik-Archiv: im Oktober 2009 inszenierte Clemens Bechtel nach einem Konzept von Renate Kreibich-Fischer und Lea Rosh in Potdam mit ehemaligen Stasi-Opfern das dokumentarische Stück Staats-Sicherheiten, das 2009 mit dem Friedrich-Luft-Preis ausgezeichnet wurde. In Göttingen erzählte im Mai 2009 ein Dokumentartheaterabend von Silke Merzhäuser und Julia Roesler vom Durchgangslager Friedland.

 

Kritikenrundschau

"Wer zeitgeschichtliche Erfahrungen glaubwürdig und effektiv weitergeben will, muss sich mehr einfallen lassen," schreibt Karim Saab in der Märkischen Allgemeinen (7.11.). Für den Potsdamer Kritiker verfügt dieser Abend, mit dem Lea Rosh und Renate Kreibich-Fischer seiner Einschätzung zufolge hoffen, die Erfolgsgeschichte des Vorgängerprojekts "Staats-Sicherheiten" fortzusetzen, über weite Strecken nur "über das Esprit eines Informationsabends. Auch Regisseur Clemens Bechtel sei szenisch nicht viel eingefallen. "Seine unaufgeregte Inszenierung" bleibe so karg wie die mit DDR-Möbeln bestückte Bühne (Iris Kraft). Es wundert Saab auch, dass DDR-Oppositionelle bei ihrer Selbstdarstellung nicht geschickter zu Werke gehen, "waren sie doch in jungen Jahren massiv mit der gebetsmühlenartigen Aufbereitung des Widerstandsmythos der Kommunisten konfrontiert." Lediglich zwei Potsdamer Zeitzeuginnen, Caroline Lorenz und Jeanne Grabner, verleihen dem Bühnengeschehen dann, so Saab, doch noch einen sympathischen Schwung.

Einen "gestelzten" Eindruck haben bei Annabelle Seubert im Berliner Tagesspiegel (7.11.) die Versuche der Akteure dieser Inszenierung hinterlassen, den dramatischen Erlebnissen von einst in Spielszenen mit aller Macht Authentizität einzuflößen. Lediglich in leisen Szenen gelingt das aus ihrer Sicht. Auch klingen bei der Kritikerin Zweifel an, ob sich mit diesem Abend der Erfolg des Vorgängerprojekts "Staats-Sicherheiten" fortsetzen lässt.

Lena Schneider
findet es richtig, wie sie in der Berliner Zeitung (10.11.) schreibt, an die "Erfolgsgeschichte" der "Staats-Sicherheiten" anzuknüpfen: "Längst sind nicht alle Geschichten erzählt worden." In "Vom Widerstehen" würde nun von den "Lichtpunkten" berichtet, vom positiven Miteinander und von den rauch- und rotweingeschwängerten Hoffnungen in einer "Zeit, in der noch nichts egal war". "Es sind diese intimen Momente des Zögerns, mit-sich-Ringens, die ahnen lassen, was das eigentlich bedeutete: Widerstehen. Dazu, groß und schwarz-weiß im Bühnenhintergrund, Fotos der jungen Protagonisten aus den 70er-, 80er-Jahren: oft ernst, zweifelnd, noch faltenlos. Entziehen kann man sich diesen unkommentiert hingestellten Zeichen der Vergänglichkeit nicht." Einzig, dass Clemens Bechtel zwischendurch auch spielen lasse und so vom strengen Dokumentieren ins Bebildern komme, hält Lena Schneider für schade.

 

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