Hinter weißen Schrankwandwelten

von Caren Pfeil

Dresden, 5. November 2009. Auf einem schwarzledernen Sitzmöbel im Foyer des Kleinen Hauses des Staatsschauspiels Dresden liegt verlassen ein Ikea-Katalog, von dem niemand weiß, wer ihn hierher gebracht hat. Er fällt jedenfalls auf, schließlich ist dies ein Theater, Hort der Nonkonformität schlechthin, und kein Warenhaus, das sich allem und jedem Bedürfnis anpasst. Wir steigen drei Treppen nach oben bis zur Probebühne unterm Dach. Die halbrunde Bühnenfläche ist eingerahmt von rosa-weißen Wänden, die über und über mit Türen und Klappen ausgestattet sind, also doch: platzsparend mit viel Stauraum, dezent im Design und unglaublich flexibel, – willkommen in Schweden!

"WennMädchentötenkönnten" von Åsa Lindholm ist das fünfte der sieben Gastspiele des After the Fall-Festivals und soll eine weitere Aussage zum Stand der Dinge in Europa sein, nachdem sich mit der Maueröffnung vor 20 Jahren nicht nur zwischen Ost und West, sondern offenbar auch in Süd und Nord einiges verändert hat.

Drei schwedische Freundinnen
Das schwedische Stück, in der Regie von Tereza Anderson, beginnt eigentlich ganz harmlos: drei Mädchen am Beginn ihres Erwachsenseins mit eigenen Träumen, Vorstellungen und Verantwortlichkeiten – rückblickend erlebt man sie im Bilderrahmen ihrer glücklichen Kindheit. Da steht eine Ronja vorm dunkel glühenden Mond, da verkriecht sich ein rundes Mädchen in die Kinderzimmerwelt ihrer Bücher, eine dritte fühlt sich wohl in der Gemeinschaft der Teletubbys, insbesondere des lila Exemplars mit der roten Handtasche. Können Teletubbys auch schwul sein?

Diese und andere Fragen werden im folgenden Spiel aufgeworfen, die manchmal banal, manchmal absurd, jedenfalls wenig relevant für das Thema zu sein scheinen, mit dem das Goetheinstitut 17 neue Stücke europaweit provoziert hat. Denn zunächst werden vor allem Türen geöffnet, Wände in Räume verwandelt und eine Unmenge Requisiten und Bühnenversatzteile bewegt. Das unterstützt eine Spielweise, die Elemente realistischer Darstellung und comichafter Übertreibung und Verkürzung miteinander verknüpft, dazu gesellen sich surreale Momente in Wort und Bild, sodass es sinnvoll erschient, gar nicht alles rational verstehen zu müssen.

Problemzonen-Bearbeitung
Die drei Mädchen haben auf dem Weg ins Erwachsenenleben offenbar schon einige Blessuren bekommen. Die eine leidet an ihrer Freundin, die ihre Keiner-hat-mich-lieb-und-ich-bin-hässlich–Psychose ununterbrochen an ihr abarbeitet, das Lesemädchen ist über dem Schreiben ihres ersten Erfolgsromans so fett geworden, dass sie es sich gefallen lassen muss, von einem heruntergekommenen Subjekt verfolgt und schikaniert zu werden, bis sie ihren Peiniger, der sie "Fettsau" nennt, schließlich hinter Gitter bringt.

Dort sucht sie ihn auf, immer wieder, bis es ihr schließlich gelingt, den Fettschutz abzulegen und darunter die eigene dünne Haut wieder zu entdecken. Er als ihr kritisches Gewissen, der innere Feind nach außen verlagert, eine seltsame, aber nicht unstimmige Vorstellung. Ihre beiden Freundinnen wiederum haben soviel mit sich selbst zu tun, dass sie ihre Veränderung gar nicht bemerken. Da soll die lesbische Freundin ein Date mit einem jungen Mann stellvertretend übernehmen für die, die derweil mit einem anderen Date beschäftigt ist und mit ihrem Kleinkind, mit dem sie aber sowieso überfordert ist.

Vielleicht existiert es ja auch gar nicht, schließlich war sie schon zu Beginn des Stückes in psychiatrischer Obhut, weil sie andauernd weinte, obwohl sie gar nicht traurig war. Derweil erschlägt die aggressive Freundin, die inzwischen zur Muslimin geworden ist, eine Kioskverkäuferin, die sie einmal beleidigt hatte. Der junge Mann verliebt sich in die Lesbe, wird später – wiederum von der Freundin – fast erschlagen, dann aber von der Mutter mit der bis dahin und nur bis dahin sanften Lesbe verkuppelt, sodass ihr gleich ein Baby wächst, während die Teletubbygeschädigte ihr Kind verkauft, die verbotene Tür öffnet und dahinter den Tod findet: ein kleines weißes Kindergerippe, dass sie zärtlich in ihren Armen wiegt.

Wärmendes Schlussbild mit Kaffeebechern
Am Schluss stehen die drei jungen Mädchen mit Kaffeebechern beieinander, ganz normal, wie in irgendeiner Mensa in irgendeiner Stadt irgendwo in Europa, während man noch darüber nachgrübelt, was es zu bedeuten hatte, dass eine nicht unwichtige Nebenfigur einen Fuchsschwanz trug. Schweden 20 Jahre nach dem Fall der Mauer erscheint hier als ein desolates Gebilde, – junge Menschen mit Psychosen, falschen Träumen und richtigen Kindern, ein Ensemble traumatisierter Gestalten in einer Welt sich auflösender Strukturen, die gerade mal noch zusammengehalten wird von einer rosa-weißen Schrankwand mit vielen Türen und Klappen. Diese Aussage sollte man erst einmal so stehen lassen in der Hoffnung, dass einem die seltsamen Geschehnisse dieses Theaterabends in seiner nicht ganz fassbaren Mischung aus psychologischen Inhalten, surrealen Bedeutungsebenen und handfesten Gruseligkeiten nicht durch die Alpträume marschieren. Na dann: Gute Nacht.

 

WennMädchentötenkönnten ("Ornflickorkundedöda")
von Åsa Lindholm, Gastspiel des Östgötateatern (Schweden)
Regie: Tereza Anderson.
Mit: Bahare Razekh Ahmadi, Tobias Almborg, Gustaf Appelberg, Leila Haji, Eva Melander, Liselott Lindeborg, Ellen Siöö These.

www.staatsschauspiel-dresden.de
www.ostgotateatern.se
www.goethe.de

 

Mehr über After the Fall im Nachtkritik-Archiv: Mit Dirk Lauckes Für alle reicht es nicht und Nicoleta Esinencus Antidot wurde das Festival Ende Oktober 2009 eröffnet. Nach der Pressekonferenz im Mai 2009 stellte Petra Kohse das Gesamtkonzept des europäischen Theaterfestivals vor.

 

 

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