Sing die Saga!

von Georg Petermichl

Wien, 6. November 2009. Manchmal beginnt großartiges Theater, wenn das Theater längst zu Ende ist: Das Mobiliar, das sich auf einer Länge von dreißig Bodenmetern ausbreitet, erzählt Bände einer gescheiterten Familiendynastie. In einer Ecke die Couch, auf der es sich die Familie Esterházy sichtlich ungemütlich gemacht hat. Auf der anderen Seite so etwas wie ein Beichtstuhl. Ein 4-fach-Stockbett, ein Mini-Sekretär. Über dem Szenario thront eine Satellitenschüssel. Seitlich zwei Überwachungskabinen. Eine ist als väterlicher Bürokäfig eingerichtet. Dazwischen einige Elektro-Orgeln. Am Bühnenrand zur Zuschauertribüne wurden ein Dutzend Umzugskartons auf die Teppichfliesen geworfen.

In der Bühnenskulptur von Alissa Kolbusch findet man die späte Geschichte des ungarischen Fürstenzweigs der Esterhazys komplett wieder: Die Enteignung durch die ungarischen Kommunisten im Jahr 1951. Der entwurzelnde Aufprall in einer schmalspurigen Bürgerlichkeit. Die Aufrechterhaltung der katholischen Familienwerte. Die eigene Geschichte als Mäzenatenmagnaten. Der stumpfe Glanz eines verwelkten Kosmopolitismus. Wenn Johann Ebert mit Knabensopran dann auch noch Haydns "Salve Regina" in Es-Dur anstimmt und der Nostalgie hellstimmig den nötigen Hintergrund verpasst, dann fühlt man sich in diesem Theaterstück, das Anleihen an Tadeusz Kantors "Die tote Klasse" nimmt, endgültig im ewigen Gestern.

Im Fuchspelz
Was auf dieser Bühne in David Martons Inszenierung von "Harmonia Caelestis" dann allerdings passiert, ist etwas völlig anderes, auch wenn das Geschehen inmitten dieser Requisitenfülle schwer in Gang kommt. Der ungarische Regisseur David Marton (Jahrgang 1975) empfiehlt sich derzeit als Erneuerer der Beziehung zwischen Sprech- und Musiktheater im deutschsprachigen Raum. Und tatsächlich ist seine hochmusikalisch ausgeführte Kombination von Oper-, Chanson- und Texttheater dermaßen ungewohnt und faszinierend, dass das Premierenpublikum im Burgtheater-Kasino am Schwarzenbergplatz zu Standing-Ovations hingerissen wurde. Was bei der Abgeklärtheit der Wiener nachgerade eine Sensation ist.

Worin liegt nun die Kraft von David Martons Theater? Der Stoff von "Harmonia Caelestis" selbst ist (in seiner Bühnenumsetzung) nicht bahnbrechend. Wir treffen auf rätselhaft knorrige Fürsten-Vaterfiguren (Peter Matić), die sich lieber in ihrem Büro einsperren und sich in Sekretärinnen verschauen, anstatt eine emotionale Verbindung zur Familie aufzubauen. Wir finden flamboyante Muttertiere (Yelena Kuljic), die sich in Fuchspelz hüllen, aus ihrer Depression eine Tugend zimmern – ihre Liebhaber lieben und den Ehemann hassen. Und wir stoßen auf eine Nachfolgegeneration (Bettina Stucky, Philipp Hauß), die sich fragt, warum sich Familienleben so beschissen anfühlen muss. Eine Aristokraten-Ruine. Und natürlich bleibt kein Darsteller seiner Figur treu.

Im Rausch der Musik
Péter Esterházys bissig geschriebener Roman hätte hier einiges zusätzlich zu sagen: Über den prekär werdenden Begriff von Familie, über die Suche nach Vaterqualitäten oder entgleiste Ehebeziehungen. Er führt wirklich an den Abgrund – aber damit auch ins Pathos, und genau darauf hat sich Marton nicht eingelassen und statt dessen sämtlichen Schwermut in die Musik verbannt. Wo er mit Spitzeninterpreten aufwartet. Allen voran Jan Czajkowski, der auf Tasteninstrumenten alle Gefühlsregister ziehen kann und auch für das gesamte Musikarrangement verantwortlich zeichnet. Oder Yelena Kuljic, deren Vocals unmerklich zwischen Arien-, Schlager- und Jazzgesang changieren können. Dazu Paul Brody an der Trompete, Nurit Stark an der Violine und Johann Ebert. Zu fünft geben sie der Geschichte ihre Atmosphäre, während Bettina Stucky, Phillip Hauß und Peter Matić die Handlung vorantreiben.

Marton hat also eine intelligente Ausweichstrategie für das traditionelle Familienepos gefunden: Da, wo Gefühl benötigt wird, regiert die Musik, und dort, wo Theater üblicherweise selbstreferenziell wird, sorgen starke Figurenkonstellationen dank dem erfindungsreichen Ensemble für Energie. Wirklich bemerkenswert bleibt allerdings der Umgang mit Musik: Verdis "La Traviata" findet genauso Eingang wie Josef Haydn, Béla Bartók, oder Franz Schubert. Zum Höhepunkt gibt es eine Verschmelzung von Ennio Morricone mit Mozart. Free-Jazz trifft Klassik und Schlagergesang. Zwei Stunden verfliegen daher letztlich in einem musikalischen Rauschzustand.

 

Harmonia Caelestis
nach dem Roman von Péter Esterházy
Regie: David Marton, Ausstattung: Alissa Kolbusch, Musikalische Leitung: Jan Czajkowski, Dramaturgie: Amely Joana Haag.
Mit: Paul Brody, Jan Czajkowski, Johann Ebert, Philip Hauß, Yelena Kuljic, Peter Matić, Nurit Stark, Bettina Stucky.

www.burgtheater.at

 

Mehr zu David Marton im Nachtkritik-Archiv: Im Januar 2009 inszenierte er Lulu in Hannover – von Frank Wedekind und Alban Berg.

 

 

Kritikenrundschau

Der Abend scheint in einer Art Geheimsprache abgehalten, schreibt Martin Lhotzky in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (11.11.). "Profunde Kenner des literarischen Werkes Esterházys – die Enthüllung der väterlichen Untaten etwa stammt direkt aus der 'Verbesserten Ausgabe', dem Romannachtrag – haben die besten Karten in diesem kryptischen Spiel." Für die vielen Vertreter der adligen Sippschaft, die bei der Premiere dabei waren, ergebe sich ein Blättern im Familienalbum. Für Nichteingeweihte aber bleibe die szenische Lesung mit Musikbegleitung dagegen rätselhaft.

Das Feine an David Martons Inszenierung des Romans "Harmonia Caelestis" von Péter Esterházy, sei, so schreibt Ulrich Weinzierl in der Welt (9.11.), dass der Regisseur "jenseits von Christoph Marthalers mittlerweile häufig kopiertem Stil seine eigene szenisch-musikalische Kunstsprache entwickelt: Marton 'marthalert' nicht, er 'martont'." Nicht nur schlummere bei ihm "in allen Dingen ein Lied, sondern auch in jeder Melodie eine Geschichte", wobei sich u.a. zeige, dass "tönende Bilderfolgen (...) stärkere Wirkungskraft" hätten als das gesprochene Wort. "Vorbedingung ist freilich hohe Professionalität, Timing und Rhythmus müssen stimmen, Annäherungswerte würden den Gesamteindruck sofort zerstören." Doch Martons Musiker und SängerInnen kann Weinzierl ausschließlich loben, ebenso wie die hinreißenden Schauspieler. "Alle hangeln sie sich ungemein geschickt durch Haydn, Schubert, Bartók und Mozart". Marton bringe "die Tradition zum Tanzen, verwandelt ein Requiem in einen melancholischen Walzer, der noch das Tragische witzig tarnt: Diese zwei Stunden bereiten allerhöchstes k. u. k. Vergnügen".

Dies sei wahrscheinlich "die bisher beste Produktion" der jungen Ära Hartmann, stimmt Norbert Mayer von der Presse (9.11.) in die Begeisterung ein. "Zwei Stunden komischer, melancholischer Disharmonie mit einem fabelhaften Ensemble". Das Bühnenbild schaffe "kein Ambiente für schicken, weltgereisten Adel", sondern sei "ein Schicksalsraum für Menschen, die Gefahr laufen, vertrieben zu werden. Aber sie singen noch, und wie!" Die Wandlungsfähigkeit der mehrsprachigen Gesangsakteurin Yelena Kuljic etwa sei "einfach zauberhaft." Jan Czajkowski biete mit seinen "wunderbar leichten Arrangements" nicht nur den Profis, sondern auch den Schauspielern eine "Chance auf musikalischen Ruhm". Und Peter Matić singe seine "beschädigte Seele in den Grammofontrichter". Der Abend handele auch von Verrat, erreiche allerdings nicht "die unheimliche Tiefe des Romans". Die "schärfsten Konturen" setzten Bettina Stucky und Philipp Hauß. Stucky gelängen dabei "unglaubliche Momente der Intensität, Komik und Trauer verdichten sich bei ihr zu einem Gesamtkunstwerk. Kongenial passt dazu der subtile Weltschmerz von Hauß".

Auch dem Schriftsteller Péter Esterházy selbst hat die Inszenierung gefallen, wie er im Interview mit Ronald Pohl (nicht genauer zu verlinken, bitte durchklicken) im Standard (8.11.) sagt: "Ich möchte mich auf der Bühne nicht zurückerstattet bekommen. Ich möchte mich nicht finden. Das Schlimmste ist, wenn man sich einem Buch mit Achtung nähert. Mit Achtung kann man nichts anfangen. Achtung muss man Tanten entgegenbringen, aber keinem Buch. Natürlich hatte Marton gegenüber meinem Text Achtung, aber nur in einem ersten Schritt. Dann hat er das alles vergessen und nur an den Raum im Kasino am Schwarzenbergplatz gedacht. Nur das zählt, was hier geschieht. Und was hier geschah, fand ich grandios. (...) Er hat etwas über das Wesen meines Romans in Erfahrung gebracht. Er hat sprachliche Nähe erzeugt, die Welt der Esterházys gezeigt mit allen ihren traurigen und lächerlichen Momenten. Wie er mit Musik umgeht, ist konsequent und radikal."
Eine eigene Kritik ist im Standard nicht zu finden.

"Ein Glasperlenspiel mit bunten Scherben, an denen man sich durchaus schneiden kann", nennt Uwe Mattheiss Esterházys Roman in der taz (10.11.), "aber auch die singulär gelungene Adaption postmoderner Perspektiven in der Literatur hiesiger Breiten- und Längengrade." Dies auf der Bühne musikalisch zu ordnen, leuchte durchaus ein, zumal wenn so "exzellent musiziert" würde, wie hier bei David Marton, der "als studierter Pianist zum Theater gestoßen ist, als es Musik unter Marthaler nicht mehr nur als Beiwerk gebrauchte, sondern als konstitutives Element und Erkenntnis förderndes Ferment wiederentdeckte". Allerdings hangle sich die Musik dann "über Haydn, Mozart, Bartók zu Gassenhauern wie 'Oh mein Papa' und der bürgerlichen Albumblattschmonzette vom 'Erlkönig'" und verliere zunehmend "den Charakter der Wahrheitsdroge". "Ihr geht der Gaul der Affirmation durch mit falschen Harmonien für die Disharmonien der Welt. Was im Marthalerpfad beginnt, landet auf der Wittenbrinkstraße und lähmt den Abend eher, als es ihn kurzweilig macht."

 

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