Die Abschaffung der Arten - Kevin Rittberger nimmt Dietmar Daths Wissenschaftsroman leicht
Pappfigur, Krone der Schöpfung!
von Esther Slevogt
Berlin, 8. November 2009. Ein Bild mit hügeliger und giftgrüner Landschaft, das die hintere Bühnenwand ausfüllt. Irgendwo oben links ein Haus mit vager futuristischer Anmutung. Trotzdem ist der Malstil eher naiv, fast comichaft simpel, und macht die kleinste Bühne des Deutschen Theaters zum begehbaren Bilderbuch für Erwachsene. Wir wollen uns schließlich mit Dietmar Daths modischem Wissenschaftsroman nicht allzusehr mühen müssen, gell? Bald kommen überlebensgroße Aufsteller von Comicfiguren mit herausnehmbaren Gesichtern ins Spiel – da stecken die Schauspieler später ihre Gesichter durch: darunter ein Dachs, ein Wolf, ein Löwe und eine Libelle.
Und dann wird es niedlich, denn jetzt wird Theater gespielt. Olivia Gräser steckt ihr Puppengesicht durch die Libelle und beginnt, in zwitscherndem Ton zu reden. Wir erfahren nun von jener merkwürdigen Welt fünfhundert Jahre nach unserer Zeit, in der die unausgereifte, für diesen Planeten schädliche Spezies Mensch überwunden, ja, besiegt worden ist. In der nun die Gente das Sagen haben, jene fabelhaften Pappaufsteller, die wir hier gerade vor uns sehen, und die zwar wie Tiere aussehen, aber längst evolutionär weiterentwickelte Wesen sind, deren Existenz von einem Körper nur noch bedingt abhängig ist, was am Ende den Fortbestand der Arten an sich überflüssig macht.
Der mit dem Dachs tanzt
Es hat ja gewisse pädagogische Tradition, dem Menschen zur Demonstration seiner mangelhaften moralischen und sonstigen Ausstattung als warnendes Exempel das Tier vorzuhalten: evolutionär zwar unterlegen, aber grundsätzlich doch naturkompatibler angelegt. Damit hat schon die antike Fabel operiert, die außerdem gern das Menschenähnliche am Tier (und vice versa) zu Demonstrationszwecken eingesetzt hat. Ein paar tausend Jahre später haben die Autoren gern auch tierische Gemeinwesen wie die Animalfarm oder den Planeten der Affen bemüht, um die fehlgeleitete Menschheit zur Umkehr zu bewegen. Wobei der Mensch mit seinem uneffektiven, aber irgendwie ja auch liebenswerten chaotischen Gefühlshaushalt samt daraus folgender erotischer Verwicklungen letztlich selbst in diesen Schreckenvisionen für die Menschheitsüberwinder das Höchste der Gefühle bleibt.
Das ist auch bei Dietmar Dath und Kevin Rittberger so, wo die Tiere bald anfangen, Menschen zu spielen. Da hüpfen und tanzen Olivia Gräser und Elias Arens in allerliebsten Verrenkungen umeinander herum. "So ging das damals", quietscht Olivia Gräser, imitiert Discotanzstile und Arens schaut wunderbar verwirrt, windet sich dann um sie, tanzt bald auch den Pappdachs an, den das naturgemäß kalt lässt. Und lässt uns mit der Frage allein, wohin wir uns denn kehren sollen, wenn wir uns die Dinge zu Herzen nehmen wollen, die man uns nahelegt. Aber dann legt man uns gar nichts nahe.
Zeigefinger ohne Mission
In seinem Roman "Die Abschaffung der Arten" führt Dath auf mehr als fünfhundert Seiten in eine hochentwickelte Tierwelt ein, die natürlich totalitäre Züge hat, von einem Löwen beherrscht wird und am Ende untergeht, weil eine andere, wesentlich gröbere Spezies, die Keramikaner aus dem brasilianischen Dschungel die Macht übernommen haben. Rittberger hat das Buch auf gut hundert Minuten Spielzeit eingedampft und inszeniert.
Doch während, sagen wir: Pierre Boulle ("Planet der Affen"), George Orwell und selbst noch Juli Zeh, die in Corpus Delicti eine Gesundheitsdiktatur (ohne Tiere!) beschwört, immerhin noch eine pathetische, demokratische oder aufklärerische Mission mit ihren Parabeln verfolgen, weiß man hier nie, wozu man den Dingen bei Dath eigentlich folgen soll. Möchte er für sein beträchtliches naturwissenschaftliches Wissen gelobt werden, das er so wacker in sein Buch eingearbeitet hat? Oder fordert er einfach zum ziellosen Delirieren auf? Was ja völlig in Ordnung wäre, wenn dann aus den sprachlich oft nicht unattraktiven Szenen am Ende nicht doch ein warnender Zeigefinger ragen würde, ohne dass man die Mission dieses Fingers verstehen würde.
Despotischer Löwe und laszive Luchsin
Rittberger lässt seine vier Akteure anfangs wild aus dem giftgrün gebundenen Buch lesen, als hätte er es selbst nicht kapiert: wirre Passagen, wild weiterblätternd, ausgewählte hereinkommende Zuschauer dabei immer wieder mit fragenden Blicken fixierend. Fragen, die der Abend nicht beantworten kann. Außer dass man viel Spaß mit vier Schauspielern hat, die wahrscheinlich noch das sprichwörtliche Telefonbuch zum Ereignis machen würden: Elias Arens, Olivia Gräser, Jörg Pose und Judith Hoffmann.
Pose, der den Löwen mit wilder Mähne und egozentrischen Marotten als despotische Künstlerkarikatur anlegt, Judith Hofmann, die Daths Texte mit stoischer Ruhe filettiert und serviert – und aus ihnen dabei manchmal Schreckenstableaus von geradezu breughelscher Wirkung macht: Ihre Schilderung eines Menschenbordells in diesem Reich der Tiere zum Beispiel, das sie sprachlich beschwört, derweil sie mit ironischer Miene durch das ausgeschnittene Gesichtsloch ihrer Pappfigur blickt. Olivia Gräser, ihr naives Gegenüber, zwitschert und quietscht ihre Libelle Philomena und ist auch als laszive Luchsin höchst überzeugend. Und Elias Arens, ein melancholischer Komiker und aberwitziger Wortakrobat, der macht auch völlig sinnfreie Passagen zum Hochgenuss.
Die Abschaffung der Arten (UA)
nach dem Roman von Dietmar Dath
in einer Bearbeitung von Kevin Rittberger
Regie: Kevin Rittberger, Bühne: Christoph Ebener, Kostüme: Ines Alda, Musik: Boram Lie, Illustrationen: Dirk Rittberger, Dramaturgie: Ulrich Beck.
Mit: Elias Arens, Olivia Gräser, Judith Hoffmann, Boram Lie (Cello), Jörg Pose.
www.deutschestheater.de
Mehr zu Kevin Rittberger im nachtkritik-Archiv: Im November 2008 inszenierte er am Hamburger Schauspielhaus sein eigenes Stück Fast Tracking oder der Tod der Kunqu-Oper, das sich mit der Tradition der chinesischen Oper auseinandersetzt.
Kritikenrundschau
Langweilig ist die Inszenierung auf keinen Fall, aber Daths Stoff bleibt auf der Bühne genauso verwirrend wie im Buch, so Doris Akrap in der Berlin-Kultur der tageszeitung (11.11.) Die Black Box im Deutschen Theater sei der richtige Ort, um den Dath'schen Theoriemix zu präsentieren. "Auch Dietmar Dath ist eine Black Box. Kausalität ist bei der einen wie der anderen Box keine zwingende Voraussetzung für die Bewertung dessen, was drinnen passiert." Bedeutend sei allein Reiz und Reaktion. "Das Publikum schwieg entweder betroffen - angesichts der Schreckensszenarien von postbiotischer Großmacht und brutaler Kriege - oder lachte schallend - angesichts opaker Vorträge über Mathematik und Musik, Nazis im ICE; oder einem durchdrehenden Kunden, der erst Unmengen von Fragen nach Kohlensäure, Größe, Paybackkarte und Treueherzen beantworten muss, bevor er eine Flasche Wasser kaufen kann."
Kevin Rittberger setze bei seiner Inszenierung von "Die Abschaffung der Arten" mit "zweidimensionalen Pappviechern" "voll und ganz auf die Atmosphäre eines veritablen Streichelzoos", schreibt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (10.11.): "In einer putzigen Mischung aus pädagogischem Schwank und salopper Infantilität wird das utopische Glatteis des Buches so niedlich wie beschränkt überspielt: eine Art Theatersendung mit der Maus." Begeistert und mit Süffisanz stürze sich das Ensemble in den Text, aber "zwischen Pop und Papperlapapp ausgesetzt, läuft sich Kevin Rittbergers Inszenierung bei allem handwerklichen und formalen Geschick an ihrem eigenen intellektuellen Spiegel platt" (sic!). Man müsse das Buch kennen, um folgen zu können. Aber wenn man das Buch kenne, bräuchte man den Theaterabend nicht mehr.
Am Deutschen Theater Berlin setze sich mit der "Abschaffung der Arten" Dietmar Daths kuriose Theaterkarriere fort, so Eberhard Spreng im Deutschlandfunk (10.11.). Offensichtlich erscheine vielen deutschen Theatermachern "seine mit Erkenntnissen aus Naturwissenschaften angereicherte, nunmehr auf Suhrkamp-Niveau hochgejazzte Subkultur als Garantie für Gegenwartshaltigkeit". Dabei scheinen Daths Texte wie Lehman-Zertifikate zu Beginn des letzten Booms zu funktionieren: Sie sind hoch spekulativ, zu kompliziert, um sie völlig zu begreifen, und versprechen dank ihrer ungehemmt wuchernder Zeichensysteme ungeahnten Zugewinn. Aber: "Die lustig-fröhliche Theaterversion reduziert den Roman, aber sie erhellt ihn nicht und wer ihn nicht gelesen hat, muss im Theater ziemlich ratlos bleiben."
Auf Spiegel online (9.11.) hingegen zeigt sich Hannah Pilarczyk begeistert. Sie hält "Die Abschaffung der Arten" für einen "großartigen Bühnenstoff", und es sei ein "Glück", dass Kevin Rittberger dies entdeckt habe. Seine Inszenierung sei die "amüsanteste" Auseinandersetzung mit Dath, die es "in den letzten Jahren" gegeben habe. Wo der Autor sich bemühe, der neuen Spezies der tiermenschlichen Gente eine eigene Kommunikation anzudichten, mache Rittberger mit den Papaufstellern, durch die die Darsteller die Köpfe streckten, klar, dass es sich doch nur um menschliche Verlautbarungen handle, die den Tieren untergeschoben würden – um des Autors "nörgeligen Wissensdurst" nämlich, seine eigenen Gedanken, die er "dringend loswerden" wolle, notfalls "auch durch das Maul eines Löwen". Auch die Dürftigkeit des Plots stelle Rittberger aus und ironisiere die Messiasrolle des Löwen als die eines "abgeschmackten, 68-er angehauchten Patriarchen". Aber nicht nur in der Kommentierung punkte die Inszenierung, sondern auch aus den Situationen heraus werde szenischer Witz entwickelt.
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Ob sich G.St. daran erinnern kann, dass 1994 Andrea Breth an der Schaubühne wenige Tage vor der Premiere Karl Philipp Moritz' "Blunt oder Der Gast" platzen ließ, weil man zu "keinem vorzeigbaren Ergebnis" kam? Ich jedenfalls erinnere mich, dass G.St. die Breth'sche Absage damals als einen Akt künstlerischer Wahrhaftigkeit pries. Wäre es denkbar, dass G.St. mit zweierlei Maß misst? Oder ist er nur reifer geworden?
Leider kenne ich das Stück von Dath nicht und hätte schon gern gewusst, ob es noch zu einer Premiere kommt oder zumindest, wo genau die konzeptionellen Probleme gelegen haben. Gerade in Bezug auf Dietmar Dath hat das einen merkwürdigen Beigeschmack, siehe Thread Gudzuhn, Der Heiler.
Ach, ich habe noch eine ganze Menge anderer Sorgen, wie Dioxinskandal, Weltfrieden, Neoliberalismus und ob Rene Pollesch jetzt noch eine Ego hat oder als Schmetterling seelen- oder sogar körperlos durch die Gegend flattert, aber im Moment interessiert mich eben, warum das Stück von Dath abgesagt wurde. Da ich Kraft meiner Wassersuppe nicht selber an diese Information komme, wäre es eben für einen Journalisten doch wohl noch möglich, stellvertretend für die geneigte Leserschaft so etwas heraus zu bekommen, aber nein man nörgelt aneinander herum. Das Stück Dietmar Dath interessiert niemanden wirklich. Über den Ärger im Theaterverbund Neubrandenburg/Neustrelitz werden wir dagegen lang und breit unterrichtet.
würde mich sehr über eine persönliche rangliste von dir freuen.
"Die Premiere von Dietmar Daths 'Annika oder Wir sind nichts', die für Freitag, 14. Januar geplant war, müssen wir leider absagen.
In der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Stück konnten Ensemble und Regie nicht an einen vertretbaren Punkt für die Umsetzung auf der Bühne gelangen. Wir haben uns deshalb entschieden, die Premiere abzusagen.
Die Vorstellung am 15. Januar entfällt ebenfalls ersatzlos, über Ersatzvorstellungen der weiteren geplanten Termine informieren wir Sie in Kürze."
Die gab es vielleicht für Sie, aber wo ist die denn mal veröffentlicht worden? Auf der Homepage des DT jedenfalls nicht.
Wenn Sie mir jetzt noch freundlicherweise mitteilen könnten, wo man das lesen kann, wäre ich wunschlos glücklich.
Ok, ich gebe es zu, die Pressemitteilung ging an die Presse, und die Presse hat es offensichtlich nicht für nötig befunden, sie weiter mitzuteilen. Mit Ausnahmen: G.St. in der FAZ gehört dazu. Und das "Neue Deutschland", das sich sogar ausführliche Gedanken macht. Schauen Sie doch bitte einmal hier:
www.neues-deutschland.de/artikel/188463.vorhang-zu-und-alle-fragen-offen.html
Mit herzlichem Gruß
wb
Die Autorin ignoriert diese Tatsache jedoch konsequent und scheint Herrn Dath für die bühnengstalterische Umsetzung seines Romans verantworlich machen zu wollen. Man fragt sich, ob man in einer Rezension zu Romeo und Julia aus der Feder von Esther Slevogt wohl auch lesen könnte "Die Auswahl des Bühnenbildes wurde von Shakespeare sehr unvorteilhaft vorgenommen".
Ob die Tatsache, dass ein Roman prinzipiell eine literarische Gattung ist, die in Reinform nicht dazu konzipiert ist, auf einer Bühne aufgeführt zu werden, bleibt beim Lesen ihrer Rezension fraglich. Wenn Frau Slevogt sich dazu genötigt sieht, Dietmar Dath hier als Gernegroß und wissenschaftlichen Aufreißer zu bezeichnen, so empfehle ich, eine Literaturrezension zu verfassen oder ein ordentliches Germanistikstudium zu beginnen. Verloren hat solche Ungelenkte Offenbarung eigener literaturtheoretischer Defizite, die nebenbei bemerkt in jeder Hauptschule Teil des Lehrplans sind, wohl eher nichts.
Welche sinnfreien Passage man in einem Roman wie "Die Abschaffung der Arten" finden kann, bleibt mir rätselhaft. Wer mit fiktionaler Literatur nichts anfangen, darf auch gern die Finger davon lassen. Falls Sie allerdings vom Theater immernoch eine Katharsis erwarten, so suchen sie demnächst eine klassische Aufführung von Sophokles "Antigone" auf. Allerdings denke ich eher, dass man hier versucht, das eigene Unverständnis für philosophische Zusammenhänge zu verschleiern... Oder man simpel und ergreifend das Buch, welches man zum Ziel seiner negativen Kritik macht, wohl nicht gelesen hat. Niemand erwartet für eine simple Theaterrezension die Lektüre eines 600 seitigen Romans. Doch man sollte seine Kritik in einem solchen Fall der Unkenntnis wohl auf die Inszenierung als solche beschränken.
Als weitere Textzeile möchte ich hier folgende Passage anbringen: "Oder fordert er einfach zum ziellosen Delirieren auf?" Hier bin ich mir nicht sicher, ob die Autorin sich des Unterschiedes zwischen dramatischer und epischer Literatur bewusst ist, impliziert doch die Erwartungshaltung einer Katharsis an epische Literatur. Das Shakespearebeispiel war an dieser Stelle zugegebenermaßen eine Übertreibung. Doch falls ihnen das Fingerspitzengefühl für stilistische Feinheiten fehlt, so möchte ich ihnen gern eine Nachhilfestunde in Stilistik geben.
Ihr zweites Beispiel: Ich sehe nicht wirklich, dass es E.S. um Katharsis geht. Fragt sie sich nicht an der Stelle, warum das Ganze überhaupt o.Ä.? Natürlich kenne ich auch hier E.S.s mutmaßliche Meinung nicht und habe den Text nicht gelesen und weiß somit nicht, wie gerechtfertigt eine solche Frage ist.
Ihr letzter Satz ist wirklich nett.