Nahkampf mit der Leere

von Johanna Lemke

Leipzig, 12. November 2009. Irgendwann, gegen Ende, bewegt sich der splitterfasernackte Narr in zuckenden, fast grotesken Bewegungen über die Bühne. Angestarrt von den anderen, in deren Perpetuum der Verdrängung er sich in den letzten dreieinhalb Stunden als der einzig Erkennende gebärdet hat, ist sein Körper nun das Produkt des Verfalls, der schon seit Jahren unbemerkt gebrodelt hat.

Sebastian Hartmann macht mit Tschechows "Kirschgarten" das, was man inzwischen schon als eine Leipziger Handschrift Hartmanns bezeichnen kann: Er schält die Kernaussagen heraus, überspitzt diese bis an die Grenzen der nervlichen Erträglichkeit und fördert damit etwas zutage, das manchmal überwältigend klar ist. Hartmann und seine akribische Dramaturgie zerren Hintergründe des Stoffs hervor, die im Text oft gar nicht genannt werden. Und er lässt dies alles von Anfang an mitspielen: Den Anfang, die Mitte, das Ende. Und manchmal auch das Danach.

Ungeheuer komisch, krankhaft smalltalkend

In diesem Fall ist es die Erkenntnis, die in dem Stück nach dem Verkauf des Kirschgartens kommt: Das Eingeständnis der Gutsbesitzerin Ranjewskaja, dass die Zeit des sorgenfreien Lebens vorbei ist und eine neue Ära anbrechen wird. Tschechows letztes Stück, in großer Krankheit und am Vorabend der ersten Russischen Revolution geschrieben, zeigt noch mehr als seine vorherigen Stücke die Lethargie des alten russischen Adels. Tschechow meinte den "Kirschgarten" ungeheuer komisch, er beklagte noch zu Lebzeiten die "weinerliche" Interpretation Stanislawskijs am Moskauer Künstlertheater. Seine Tragik entfaltet das Stück in seinem Wissen um die Zerrüttung, Dialoge und Figurenzeichnungen sind hingegen vor allem eins: komisch überdreht und krankhaft smalltalkend, gerade um zu übertünchen, dass sie merken, wie sinnlos alles war und ist. Sebastian Hartmann hat sich denn auch deutlich von der musealisierenden Inszenierungsweise, wie sie Peter Stein und nach ihm zahlreiche "Kirschgarten"-Versionen pflegten, distanziert – und absurdes Theater gemacht.

Dafür wendet er seine schon in O'Neills Eines langen Tages Reise in die Nacht versuchte Improvisationstechnik an: Es gibt festgelegte Elemente und lose Versatzstücke, die den Schauspielern wie ein Repertoire zur Verfügung stehen und die – theoretisch jedes Mal anders – kombiniert werden. Das birgt im Spiel das Potential tiefer Wahrhaftigkeit, aber auch Gefahren, zumal die Schauspieler bei der Premiere noch nicht perfekt miteinander harmonieren und sich ein bisschen zu oft aus Versehen gegenseitig unterbrechen. Vor allem aber gelingt es Hartmann so, die Grundstimmung an den Zuschauer weiterzugeben, ohne sie theatral zu übersetzen. Wenn die Figuren gefühlte Stunden am Tisch sitzen, rauchen und ein Nicht-Satz den nächsten jagt, springt die Lethargie ganz schnell auf den Zuschauer über. Zum ersten Mal passt das Hartmann'sche Aushalten von Situationen wirklich zum Inhalt des Stücks: Die Größe dieses "Kirschgartens" liegt darin, dass die Langeweile schlicht absurd wird.

Warum immer so viel in sich hinein schlingen?

Alles weist auf etwas Größeres hin: Ein bisschen verarmter russischer Adel, so will man uns wohl sagen, steckt in uns allen. Das Bewusstsein, dass die Zeit abgelaufen scheint, steckt im amerikanischen Kleinstadtmief, dem die Bühne mit ihren Pastellfarben und dem ordentlich gemähten Rasen nachempfunden ist. Sie steckt auch in unserem System, in überholten Werten, von denen wir uns nicht trennen mögen. Irgendwann fasst der Narr die Sinnlosigkeit des Ganzen zusammen: "Warum muss man immer so viel in sich hinein schlingen. Und warum trinken? Und warum muss man immer so viel reden?" Die Wirklichkeit ist eben unfasslich – und selten scheint das so klar auf wie in den beiden Monologen von Maximilian Brauer und Manuel Harder.

Nach und nach wird die Inszenierung hysterischer, wird jeder Zustand im nächsten Moment wieder zertrümmert. Immer wieder wagen die Figuren die Flucht aus ihrer Realität, stehlen sich davon, lavieren sich heraus oder verlieren sich in sinnlosem Geschwätz. Alle kämpfen mit der gleichen Leere – buchstäblich, wenn der Nahkampf zum Schreckschusspistolenstunt mutiert. "Es ist die falsche Zeit für ein Fest", sagt die Gutsbesitzerin Ranjewskaja schließlich, denn im Grunde trauern sie alle noch um den verstorbenen Sohn, sie beweinen den Verlust der guten, alten Zeiten. In dieser Inszenierung ist immer alles da, alle Trauer, alle Angst und jeder Nervenzusammenbruch überpudern das Geschehen mit einer Schicht von Universellem. Das ist eine mutige Herangehensweise an einen Stoff. In Leipzig ist sie gelungen.

 

Der Kirschgarten
von Anton Tschechow
Deutsch von Werner Buhss
Regie: Sebastian Hartmann, Bühne: Susanne Münzner, Kostüme: Adriana Braga, Musik: Steve Binetti, Dramaturgie: Uwe Bautz.
Mit: Rosalind Baffoe, Maximilian Brauer, Artemis Chalkidou, Manuel Harder, Thomas Lawinky, Paul Matzke, Ingolf Müller-Beck, Hagen Oechel, Peter René Lüdicke, Lore Richter, Holger Stockhaus, Birgit Unterweger, Jana Zöll.

www.schauspiel-leipzig.de


Mehr zu Sebastian Hartmann im nachkritik-Archiv. Zuletzt inszenierte er im April 2009 Arsen und Spitzenhäubchen, im Februar 2009 O'Neills Eines langen Tages Reise in die Nacht.

 

Kritikenrundschau

Für Christopher Schmidt (Süddeutsche Zeitung, 20.11.) ist diese Inszenierung "ein Fanal, eine Anklage mit heißem Herzen". Und obwohl der Abend "einigen inhaltlichen Diskussionsstoff bietet, wird in Leipzig weniger über den Weltenbrand gesprochen, als vielmehr darüber, ob hier unter der Intendanz von Sebastian Hartmann gerade die Hütte brennt oder ob die Stadt vielmehr allmählich Feuer fängt für Hartmanns Vision eines Stadttheaters für das 21. Jahrhundert". Mit diesem "Kirschgarten" habe sich nämlich, weiß Schmidt, "eine Debatte entzündet, ob der Intendant den Mund zu voll genommen hat". Denn "während die einen ihn höhnisch als verspäteten Ankömmling in der postdramatischen Normalität begrüßen, schwärmen die anderen bereits für Hartmanns hohes C und beweisen im Internet (hier auf nachtkritik.de; die Red.) ihre Solidarität, indem sie die Schauspieler konsequent als 'Acteure' beschreiben". Ist Hartmanns Tschechow-Inszenierung "nun also ein "Kirschgarten", also nur heutiger Standard, oder eben doch ein "Cirschgarten", der eine blühende Zukunft verheißt? Die zugegeben langweilige Antwort lautet: beides." Man könne "vieles an diesem "Kirschgarten" bemängeln, aber die Kraft und Lebendigkeit, die Glaubwürdigkeit und die Dringlichkeit sowie die Unmittelbarkeit, die der Abend besitzt, wiegt schwerer als alle sauren Kirschen". Und "wenn das Theater so für seine Sache glüht wie in Leipzig, muss man sich um die Betriebstemperatur keine Gedanken machen".

Einen "über weite Strecken schwungvollen Abend" hat Torben Ibs (taz, 18.11.) gesehen. Im Vordergrund stünden, "wie oft bei Hartmann", vom Stück "losgelöste Spieleinlagen zwischen Action und Slapstick, die zum einen einen kryptischen Kommentar zum Stück darstellen, zum anderen sehr unterhaltsam sind". Diese Spielszenen können aber nicht den Abend tragen: "Hartmann schafft es besonders im zweiten Teil nicht, die Spannung konstant zu halten. Stockschlagduelle und Al-Capone-Schießereien vermögen auf Dauer nicht zu fesseln und es fehlen hier und da Ideen, die über den Krawall hinausgehen." Erst am Ende zaubere er "ein minimalistisch-dramaturgisches Ass aus dem Ärmel, wenn Holger Stockhaus beginnt, aus Tschechows "Erzählung eines Künstlers" zu rezitieren". Darin solle das Volk seine Ketten zerschlagen soll, statt sie weiter zu schmieden. Bei Hartmann fällt der gesellschaftliche Umsturz oder die Revolution dagegen einfach aus. "Ein Schelm, wer bei dieser Fabel auch an 1989 und seine Folgen denkt."

Als "Attacke, die aufs Unbehagen an der Gegenwart zielt und oft auch schwer fasslich trifft", empfand Ralph Gambihler in der Chemnitzer Freien Presse (14.11.) diese Inszenierung, der auch von einem "paradoxen Werk der Leipziger Postdramatik" spricht. Museale Tschechow-Staubigkeiten kämen in dieser "gründlich entpsychologisierten Unkomödie" bestimmt nicht auf, versichert er, berichtet aber auch, dass im Verlauf des Premierenabends so mancher Zuschauer die Flucht angetreten hat. Sebastian Hartmann hat aus Gambihlers Sicht ein "heutiges Endspiel von kulturellen Formen" inszeniert, die keinen Halt mehr geben, weil sie den wirklichen Verhältnissen nicht mehr entsprechen würden. "Streitbares Themen- und Thesentheater also. Schreckliche Entblößungen. Humanistisch motivierte Randale." Ärgerlich sei, dass "das Hartmannsche Theater der Eskalationen und die darin steckenden Diagnosen auch bei Tschechow etwas Abstraktes haben, weil sich die Regie der Geschichte von einzelnen Menschen nicht mehr zuwendet." Am Ende gehe wieder mal mindestens ein Riss durch den Saal: "Man applaudiert beglückt, sitzt versteinert oder klatscht aus freundlich-gelangweilter Distanz."


Bemerkenswert findet Andreas Hillger in der Mitteldeutschen Zeitung aus Halle (14.11.) diesen Abend, der außerdem staunend entdeckt hat, wie kurzweilig Langeweile sein kann. Denn in Sebastian Hartmanns "großflächiger Komposition, die den weit ausgreifenden Monolog ebenso selbstverständlich einbindet wie den knappen, bösen Witz", teile man diese Haltung als physische Erfahrung mit dem Ensemble. "Und erst wenn man durch die provozierten Phasen der Ablehnung und der Langeweile, des Zorns und der Belustigung hindurchgegangen ist, begreift man dies als unmittelbare Wirkung dieses Theaters. Es sucht sich seine 'Objektivität', seine 'Wahrhaftigkeit' jenseits der Buchstaben im Geist des Textes. Tschechows Drama diene ihm dabei nur als Vorlage: "Die Figuren wandern durch die Darsteller, jeder Einzelne kann vervielfacht werden und jede Gruppe in einer Person zusammenfallen." Das Leben als Leseprobe, "zwölf Schauspieler in Erwartung ihres Regisseurs. Weil der aber nicht kommen will, müssen sie improvisieren. Und das können sie!"


"Das hat man irgendwie alles schon mal gesehen auf der Bühne des Centraltheaters", beklagt sich Nina May in der Leipziger Volkszeitung (14.11.), "den improvisierten Wahnsinn in der 'Publikumsbeschimpfung', das Apokalyptische in der 'Matthäuspassion', den Slapstick in 'Arsen und Spitzenhäubchen'." Zar gelingt es Hartmann ihrer Ansicht nach, das "Aneinander-Vorbeireden einer zum Untergang verurteilten Elite, die sich selbst einredet, dass es so schlimm schon nicht kommen " auf den Punkt zu bringen. Doch hat sie das Grundprinzip der Inszenierung "nach einer Stunde begriffen", wie sie schreibt. Danach stellt sich ihr die Frage, "ob Theater Grausamkeit stets so aufgreifen muss, dass es die Zuschauer grausam behandelt." Denn was ihrer Ansicht nach in diesen knapp vier Stunden geboten wird, sind "einzelne Zirkusnummern, die kaum Orientierung bieten."


Hartmann benutze den 'Kirschgarten'-Text als Material, ergänze ihn, mische ihn mit Musik, und löse damit nicht nur den Text, sondern auch die Figuren auf, beschreibt Stefan Petraschewski in der MDR-Sendung Figaro (13.11.) die Inszenierung. "Jeder darf mal jeden spielen. Der ganze erste Teil bis zur Pause beruht textmäßig auf Improvisation nach dem Motto: Die Situation des 'Kirschgartens' ist klar, die Textbausteine liegen auf dem Tisch, jetzt macht mal was draus!" Und das gelingt Petraschewskys Ansicht zufolge auch ganz gut, für den diese Arbeit auf für Sebastian Hartmanns Suche nach einer neuen Struktur und Ästhetik für das Stadttheater im 21. Jahrhundert steht. Unterm Strich ist der 'Kirschgarten' eine daher gelungene Inszenierung für ihn. "Obwohl: Inszenierung? Da könnte schon der Fehler liegen. Ist es das eigentlich? Inszenierung. Will es das sein?" Denn trotzdem sei der Abend "auch eine Zumutung." Eine Zumutung im negativen wie positiven Sinn allerdings.

 

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