Die tausendundzweite Nacht in New York

von Reinhard Kriechbaum

Salzburg, 20. November 2009. James, der erfolglose Autor von Kitsch-/Knall-/Herz-/Schmalz-/Zeitgeiststücken, hat noch das Messer in der Hand. Gerade vor der Pause war er noch Haimon, Sohn des Kreon, Gespons der Antigone – und damit eines der Sophokleischen Tragödien-Opfer. Alle in dem bunten Bühnenvölkchen haben irgendwas (ein Kleidungs-, ein Ausstattungsstück) vom Stück zuvor an sich, damit der Wiedererkennungswert steigt. Sogar der Bote hat seinen Spieß dabei, auf den jetzt freilich ein Mikrophon gebunden ist. Er ist jetzt nämlich derjenige im Team, der das Mikro nahe zu den Schauspielern, aber tunlich aus dem Bild halten wird.

Eine Filmcrew ist da also versammelt. Lauter überdrehte Typen, die rasch ausflippen, wenn sie mal länger zu Wort kommen. Und die alle schwärmen von dem neuen Stück und versuchen, das wortlos dasitzende und vor sich hin staunende Starlet Olivia zu überzeugen, dass sie diese Rolle unbedingt spielen muss. Eine Art von Argumentations-Vergewaltigung.

Allerlei Wege gegen das System
Aber jetzt mal der Reihe nach. Wir sind in den Kammerspielen des Salzburger Landestheaters. Und sehen zuerst die "Antigone" des Sophokles. Christian Nickel hat sie äußerst konzis und ganz streng ausgerichtet auf die klassische Übersetzung des guten alten Stowasser. Eine blutjunge, fast ein bisserl pausbäckig wirkende Antigone, aber eben deshalb hehr und rein wie nur: Anna Unterberger. Die geht ihren Weg und tut, was sie tun zu müssen glaubt. Was schert sie die Anordnung des Königs Kreon, dass Polyneikes nicht begraben werden darf? Was interessieren sie Anordnungen, politische Sachzwänge oder auch nur Überlebensstrategien in eigener Sache? Sie stellt sich bewusst und eindeutig gegen das System. Dessen Protagonisten sind ihr völlig wurst. Und die sind ob Antigones funebralem Alleingang elementar verunsichert. Aus Unsicherheit wächst Gewalt. Aus dem Angedrohten wird Ernst. Wer kann schon zurück, wenn er sich mal so weit hinausgelehnt und Antigones Tod verkündet hat, wie König Kreon? Er will schließlich das Gesicht nicht verlieren.

All das hat Christian Nickel sehr klar und ordentlich arrangiert und mit der Sachkenntnis eines routinierten Schauspielers Rolle für Rolle, Dialog um Dialog durchgezogen und durchgearbeitet. Mit großem Vertrauen in ein noch nicht wirklich zusammengespieltes Ensemble. Der aus Stuttgart an die Salzach übersiedelte Intendant Carl Philipp von Maldeghem ist ja diesen Herbst erst angetreten in Salzburg, seine Schauspielertruppe wirkt frisch, unverbraucht und individualistisch (wie man schon an Maldeghems die Saison eröffnenden "Faust I" hatte ablesen können). Peter Kaghanovitsch (Kreon) gibt einen ganz heutigen Schmalspur-Politiker, einen von irgendwem irgendwie gemachten Politik-Macher wohl, dem die Rolle des Königs eigentlich zu groß ist. Aber nun ist er's mal, also wird der Königs-Part durchgezogen. Christoph Wieschke ist ein eloquent, smart und gleichsam mit offenem Visier argumentierender Haimon. Shantia Ullmann erfüllt als Ismene das Notwendige, so wie Susanna Szameit als Teiresias, Britta Bayer als Eurydike und Sebastian Fischer als Wächter.

Verliebt in einen Selbstmordattentäter
Und dann kippt der Abend nach der Pause hinüber in Mark Ravenhills hinterfotzige Farce auf Xeno- und Islamophobie. "Das Produkt", uraufgeführt beim Edinburgh Festival und in deutscher Sprache an der Berliner Schaubühne erstmals gegeben (2006 von Thomas Ostermeier), ist eine grelle Story, ein Märchen in der 1002. Nacht. Bei Ravenhill versucht der dauerquasselnde Autor James sein krudes Filmscript dem darob aus gutem Grund sprachlosen, ja ent-geisterten Starlet Olivia anzupreisen: Sie soll die Geschäftsfrau Amy spielen, deren Freund in den Twin Towers umgekommen ist.

Aber gerade sie verliebt sich in einen künftigen Selbstmordattentäter. Eigentlich hätte sie ihn ja einfach so erstechen wollen, aber dann hat es ihr der Attentat-Heilige, "noch fremd in unserer Welt der animalischen Sexualität", angetan. Er wird ordentlich hergebeutelt von Amy. Und nach manchem politisch inkorrektem Hin und Her wird Amy selbst zur Attentäterin, als islamistisch angehauchte Sex-Bombe.

Emanzipation von nine-eleven
11/9 als grell überdrehte Screwball Comedy? Ja, das geht. Und in dieser Aufführung setzt Christian Nickel noch eins drauf. Er lässt nicht nur den Script-Autor zu Wort kommen, sondern konfrontiert die Kaugummi kauende Olivia mit einem ganzen Filmteam. Der skurrile Text ist mit einigem Geschick aufgeteilt auf die vielen Rollen, und die Bizarrheit wird auf die Spitze getrieben. Da liegt man schon mal fast am Boden vor Lachen und schämt sich auch gleich dafür. Gehört sich doch nicht! Genau so soll's ja sein auf dieser Achterbahnfahrt durch die politische Unanständigkeit.

Und wie nun verträgt sich das mit "Antigone"? Das ist keine intellektuell-hintersinnige Paarung, sondern ganz einsichtig und geradlinig. Hier die moralisch eigenständige griechische Überfrau, die sich emanzipiert von aller Fremdbestimmung. Dort Olivia, das auf einer Requisitenkiste hockende blonde Bühnen-Dummerchen, das doch fühlt, dass ihr da etwas eingeredet wird, was faul ist und stinkt. Sie wird die Rolle nicht annehmen und davongehen.

"Antigone" und "Das Produkt" drängen nicht zueinander. Aber hehre griechische Tragödie und Ravenhills deftiger Verbal-Slapstick so nebeneinander sind Garanten, dass es einem garantiert nicht langweilig wird. Und in den winzigen Salzburger Kammerspielen ist die Gefahr sowieso nicht groß, dass die Dinge zu bedeutungsschwer aufgeblasen werden.

Antigone / Das Produkt
von Sophokles und von Mark Ravenhill
Regie: Christian Nickel, Ausstattung: Manuela Weilguni.
Mit: Anna Unterberger, Christoph Wiechke, Peter Kaghanowitsch, Shantia Ullmann, Susanna Szameit, Britta Bayer, Sebastian Fischer.

www.salzburger-landestheater.at

 

Mehr zu Christian Nickel im nachtkritik-Archiv: im Sommer 2009 inszenierte der 1969 in Heilbronn geborene Schauspieler und Regisseur bei den Luisenburg-Festspielen in Wunsiedel Henrik Ibsens Peer Gynt. In Thomas Langhoffs Wiener Wallenstein spielte er im Dezember 2007 Max Piccolomini und in Jan Bosses Burgtheater-Inszenierung Viel Lärm um Nichts, 2007 beim Theatertreffen zu Gast, den Claudio.

 

Kritikenrundschau
In den Salzburger Nachrichten (23.11.2009) bezeichnet Karl Harb den Doppelabend aus "Antigone" und "Das Produkt" als "seltsam aufgeblasen". In der Antigone sei "man damit beschäftigt", eine "gestelzt altertümliche Übersetzung (von Joseph Maria Stowasser) solistisch und im Chor steif zu deklamieren". Das "hohle Pathos des Aufsagens" schaffe eine "lähmend antiquierte Atmosphäre". Die Schauspieler wirkten ratlos, allenfalls arrangiert, nicht geführt. Nur Anna Unterberger, scheinbar "ein Rohdiamant", und Susanna Szameit seien Lichtblicke in beiden Stücken. Anna Unterberger, weil sie in der (fast) stummen Rolle der Filmschauspielerin Olivia kaugummikauend, das Tohuwabohu stoisch beobachte; Susanna Szameit, weil sie eine im Metier illusionslos gewordene Schnapsdrossel mit wenigen Strichen ("kann man noch aufpeppen") tragikomisch grundiere. Bei Ravenhill erzählt Produzent James Olivia die Handlung. In Salzburg teilt man die Nacherzählung des Drehbuchs auf alle Figuren auf. Es entstehe eine "überdrehte Slapstick-Farce", bei der "alle Sprengkraft" verpuffe. Statt einer "Mediensatire" sehe man den "krampfhaften Versuch, auf einer viel zu engen Bühne mit viel zu viel Aufwand ein viel zu üppiges B-Movie herzustellen".

 

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