Verschlafene Revolution

von Wolfgang Behrens

Neustrelitz, 21. November 2009. Ab und an ertappt sich wohl jeder theateraffine Großstädter bei einer gewissen Arroganz gegenüber der Provinz. Und manchmal wird er sich auch bestätigt fühlen, wenn er etwa mit Hungergefühl am Zielort eintrifft, die Theaterkantine geschlossen vorfindet und in der Premierenspielstätte nur die kulinarische Auswahl zwischen Wiener Würstchen und Schmalzstulle hat.

Andererseits ist sich der theateraffine Großstädter sehr wohl bewusst, dass es das Lob der Provinz zu singen gilt. Neustrelitz in Mecklenburg zum Beispiel. Am dortigen Landestheater, das heute unter der Flagge Theater und Orchester GmbH Neubrandenburg/Neustrelitz segelt, hat der rührige Intendant Ralf-Peter Schulze vor allem im Opernbereich so manche Rarität gehoben, die auch den Berliner in das Residenzstädtchen zu ziehen vermochte: eine "Salome", nicht von Richard Strauss, sondern von Antoine Mariotte; oder die selten gespielte "Adriana Lecouvreur" von Francesco Cilea. Das sind nicht gering zu schätzende Verdienste.

Intellektuelle und Lebenskünster

Die Schauspielsparte des Landestheaters setzt seit Jahren erfolgreich auf die Zusammenarbeit mit der privaten "Berliner Schule für Schauspiel", von deren Absolventen hier stets einige im ersten Engagement stehen. Begabte Leute, die sich in der Provinz ausprobieren können und gleichzeitig ein bisschen Schwung in die Bude bringen – das ist wohl das, was man eine Win-Win-Situation nennt. Und damit die Lockung für den theateraffinen Großstädter nicht zu kurz kommt, wird auch schon mal im Schauspiel etwas Rares (oder rar Gewordenes?) angesetzt, wie in dieser Spielzeit Christoph Heins "Die wahre Geschichte des Ah Q". Selbstredend sind drei Absolventen der Schauspielschule beteiligt, ein weiterer Darsteller (Thomas Pötzsch) wirkte dort als Dozent, und der Regisseur Ekkehardt Emig ist gar ihr Leiter.

In Heins 1983, also noch in der DDR uraufgeführtem Stück, dem die gleichnamige Erzählung des 1936 verstorbenen Chinesen Lu Xun zugrunde liegt, begegnet uns ein Paar arbeitsscheuer Intellektueller und Lebenskünstler, das in seinen philosophischen Eskapaden und absurden Kabbeleien immer auch ein wenig in Richtung der Beckett'schen Clowns schielt. Ah Q und Wang (so heißen die beiden) reden viel und handeln wenig: Sie berauschen sich am Gedanken von Anarchie und Revolution – und sind doch jederzeit bereit, ihre unausgegorenen Visionen für eine gute Zigarre einzutauschen. Sie sagen viel Wahres, doch es folgt daraus: nichts. Am Ende verschlafen sie sogar die lang erwartete Revolution, die indes lediglich die alte Herrschaft mit neuer Nomenklatur bestätigt.

Dumpfe Vollzugsgewalt

In der schönen, neugotischen Geist atmenden Neustrelitzer Nebenspielstätte, dem ehemaligen Marstall, hausen Ah Q und Wang auf angeschrägten Podien und Matratzen unter einigen zeltartigen Stoffbahnen, zwischen Holzkisten, Büchern, alten Fotos und Musikinstrumenten (Ausstattung: Hans Ellerfeld). Es sind Edelgammler, allein: von der lakonischen Gammler-Intelligenz, die sie bei Hein auszeichnet, bleibt in Emigs Regie nicht viel übrig. Aus dem Geiste der Pantomime und des Slapsticks befleißigen sich Ralph Sählbrandt als Ah Q und Michael Berndt als Wang eines beständigen Overactings, das die Dialoge zerdehnt und da, wo sie schnell sind, mit Zappelei zukleistert. Im gewollt Witzigen wird so der Hein'sche Witz zur Strecke gebracht.

Dieses Grundübel der Aufführung verschlimmert sich noch in den Nebenfiguren. Der Büttel der vorrevolutionären Herrschaft, der auch der Büttel der nachrevolutionären Herrschaft sein wird, und gegenüber den beiden zerlumpten Intellektuellen die dumpfe Vollzugsgewalt repräsentiert: Christoph Bornmüller muss ihn als säbelrasselnden und peitscheschwingenden Hampelmann geben, eine harmlose Witzfigur.

Fehlgeleitete Liebesgeschichte

Und vollends der Tempelwächter, der Ah Q und Wang den Aufenthalt in ihrem schäbigen Asyl ermöglicht: Ausstaffiert wie eine Mischung aus Scrooge und heruntergekommenem Varieté-Star, ist Thomas Pötzsch immerzu damit beschäftigt, dem Affen mehr Zucker zu geben, als dieser verträgt. Ein eitles Nümmerchen jagt das andere – auf Kosten der Figur.

Allein Ralph Sählbrandt, langjährige Neustrelitzer Ensemblesäule, findet für seinen Ah Q mitunter leisere und weniger gespreizte Töne. In seiner fehlgeleiteten Liebesgeschichte zu einer mildtätigen Nonne (Nancy Spiller als witzlos überzeichnete Mutter-Teresa-Karikatur) blitzt dann etwas wie Sehnsucht oder Schmerz auf.

Das wenigstens macht dem theateraffinen Großstädter Hoffnung auf ein nächstes Mal. Denn für diesmal war's doch relativ trostlos in der Provinz.

 

Die wahre Geschichte des Ah Q
von Christoph Hein
Regie: Ekkehardt Emig, Bühne und Kostüme: Hans Ellerfeld, Dramaturgie: Matthias Wolf.
Mit: Michael Berndt, Christoph Bornmüller, Thomas Pötzsch, Ralph Sählbrandt, Nancy Spiller.

www.theater-und-orchester.de

 

Mehr zu Christoph Hein im nachtkritik-Archiv: Armin Petras adaptierte 2006 am Schauspiel Leipzig Heins Roman Horns Ende für das Theater. Im Juni 2009 brachte am Theater Heilbronn Axel Vornam In seiner frühen Kindheit ein Garten auf die Bühne. 2008 erhielt Hein den Walter-Hasenclever-Preis der Stadt Aachen.

 

Kritikenrundschau

"Die wahre Geschichte des Ah Q" lasse, schreibt Susanne Schulz im Nordkurier (23.11.) aus Neubrandenburg, "bis heute spüren, wie und warum es in der DDR der 80er-Jahre einschlug". Zwei "heruntergekommene Lebenskünstler" bibberten in "clownesker Symbiose", "hungern auf Veränderung, zu der sie allerdings selbst nichts beizutragen vermögen". "Hin und her gerissen zwischen Berufung und Begehrlichkeit" spiele Nancy Spiller das Nönnchen Maria. An Charles Dickens’ "zwielichtige Romanfigur Uriah Heep gemahnend, wieselt Thomas Pötzsch" als Tempelwächter "mit enormer Körperlichkeit den Neuigkeiten von Drinnen wie Draußen hinterdrein". Eine "Spagat-Figur" gebe Michael Berndt als Wang, "der von einst 300 gesammelten Lebensweisheiten nicht eine mehr besitzt". Ralph Sählbrandt wandle traumwandlerisch durch "die Untiefen der Titelrolle", lasse "Unbedarftheit umschlagen in Schlitzohrigkeit, Empfindsamkeit in barsche Begierde, Schmach in Hoffnung, Begeisterungsfähigkeit in Bedenken".

Kommentare  
Ah Q in Neustrelitz: abseits der Metropolen
Sehr schön, dass die Nachtkritik auch die Spielstätten außerhalb der Theatermetropolen beobachtet, auch wenn es sich in diesem konkreten Fall nicht unbedingt gelohnt zu haben scheint (ich meine damit die Inszenierung, nicht die Kritik). Aber das gehört auch dazu. Bitte weiter so!
Kommentar schreiben