Die Familie als Katastrophe

 von Rainer Petto

Saarbrücken, 22. November 2009. Programmgemäß um 20 Uhr 4 ging es am Donnerstagabend los. Während sich auf dem nahe gelegenen St. Johanner Markt Trauben um die Stände mit dem frisch eingetroffenen jungen Beaujolais bildeten, startete in der Saarbrücker Alten Feuerwache das andere Primeurs-Festival, ganz ohne Alkohol. Der Radiosprecher hatte gerade die Wetteraussichten für die Region Saarland-Lothringen-Luxemburg verkündet, da begann die Bühnenperformance eines Hörspiels, das live auf SR 2 KulturRadio übertragen wurde.

Und das hatte seinen eigenen Reiz: Schauspielern beim Hörspielmachen zuzusehen. Da standen sie, festgewurzelt hinter ihren Mikrofonstativen, konnten ihre Texte nur mit sparsamer Mimik, Blicken, Handbewegungen unterstützen, und kein Bühnenbild, keine Requisiten halfen, die gespielten Szenen anschaulich zu machen. Der Einkaufswagen, das Gewehr waren nur Werkzeuge der Geräuschemacherin, andere Geräusche, vor allem Musik, wurden vom ebenfalls auf offener Bühne stehenden Techniker zugespielt.

Mit der schlimmen Realität konfrontieren
Für "Eine Frage der Einstellung" (Originaltitel: "Le Plan Américain") reichen vier Sprecher: für die Eltern und die beiden Kinder. Es sind bitterböse Familienszenen aus der zeitgenössischen Mittelschicht. Der Mann ist ein sich ständig auf den internationalen Kriegsschauplätzen herumtreibender Fotograf, der seine Kinder schon früh mit der schlimmen Realität der Welt draußen konfrontieren möchte, es innerhalb der eigenen vier Wände aber gern schön ordentlich hat; die Frau ist Galeristin, lässt sich von den milden Schocks der Kunst stimulieren und mimt gleichzeitig die treusorgende Mutter. Brüderchen und Schwesterchen lieben keinen Menschen außer sich und einander, durchschauen gnadenlos den ganzen Familienzirkus und das Humanitätsgedusel und suchen den Kick in riskanten Tierschutzaktionen.

Vorgetragen wird dies im raschen Wechsel kurzer Szenen, die eine Zeitspanne von mindestens anderthalb Jahrzehnten abdecken. Die Dramatik der rund einstündigen Aufführung kommt weniger aus äußeren Handlungsabläufen als aus den Manifestationen einer Sprache, die vor Bosheit, Schärfe und Witz nur so blitzt. Die Verpflanzung einer Hörspielproduktion auf die Bühne erwies sich nicht als Notlösung, sondern nahezu als eigene, sehr spannende Kunstform.

Was fehlte dieser Aufführung mit vier hervorragenden Sprechern unter der Regie von Marguerite Gateau eigentlich gegenüber der Uraufführung des Theaterstücks in Montréal? Eigentlich nichts, bekannte das von der Saarbrücker Inszenierung sehr angetane kanadische Autorenpaar Evelyne de la Chenelière und Daniel Brière.

Sechs Stücke von fünf Autoren
"Primeurs", das Festival frankophoner Gegenwartsdramatik in Saarbrücken, zeigte sechs Stücke von fünf Autoren an drei Abenden. Die Werkstattlesungen und –inszenierungen konnten es naturgemäß an Perfektion nicht mit dem Live-Hörspiel aufnehmen, waren allesamt jedoch von jungen Regisseuren und Regisseurinnen mit großer Sorgfalt inszeniert und wurden von den Schauspielern mit großem Engagement vorgetragen. Alle Autoren waren nach Saarbrücken gekommen. Ein Tor nach Deutschland für die frankophonen Dramatiker will "Primeurs" sein, aber es ist weniger ein Schaulaufen vor Fachkräften als ein Festival fürs Publikum.

Alle Vorstellungen waren sehr gut besucht, auch von Theaterinteressierten jenseits der nahen deutsch-französischen Grenze, die Leute konnten nach jeder Vorstellungen Fragen an die Autoren stellen, eine Publikumsjury vergab am Ende einen Preis, bis weit nach Mitternacht wurde abgetanzt zur Musik der Straßburger Band "LéOparleur", und wer dann noch nicht genug hatte, konnte am Sonntagmorgen zum so genannten Künstlerfrühstück kommen.

Im Unterschied zu den vergleichbaren Veranstaltungen in Karlsruhe und in Halle steht Saarbrücken unter keinem Motto, dennoch ergab sich ein inoffizielles Leitthema, "Familie", ohne dass man daraus unbedingt auf einen Trend in den Herkunftsländern schließen könnte.

Chwein, Schwein, Chonchon, Cochon?
Die Familie, und zwar die Familie als Katastrophe – das zeigte auch "Glückseligkeit", das andere Stück aus Kanada (Uraufführung 2007 in Toronto). Ein schockierender Fall von Missbrauch eines Mädchens durch seine Familie war der Ausgangspunkt für Olivier Choinière. Er fragte sich, in was für eine Welt Isabelle sich wohl hineinversetzt hatte, um die Tortur zu überleben. Und er baute einen Text, der raffiniert die Arbeitswelt einer Walmart-Verkäuferin mit den Szenen der sexuellen Gewalt und dem in den Medien kitschig ausgebreiteten Privatleben der – realen - Sängerin Céline Dion verknüpft. Die Wirkung der szenischen Lesung (Regie: Jörg Wesemüller) war so gewaltig, dass man sich auch hier fragt, was die deutschsprachige Erstaufführung in Zürich dem im Januar 2010 noch hinzufügen kann.

Dass weniger oft mehr ist, das sehen auch manche Autoren so. Sie hätte sich vorstellen können, dass ihr Text auch nur auf drei Sprecher verteilt worden wäre, sagte Marion Aubert. Das Saarländische Staatstheater hatte für ihre hysterische Familienkomödie "Hochmut, Verfolgung und Enthauptung" immerhin fünf Schauspieler aufgeboten. An diesem Stück zeigte sich auch, wie sehr es bei den Übersetzungen auf Nuancen ankommt. Das markanteste Wort dieses Textes war "Chwein", laut Autorin aber ein Missverständnis des Übersetzers; denn jenes französische "chonchon" dürfe keineswegs mit "cochon" (Schwein) assoziiert werden, sondern sei eine viel poetischere, mystischere Vokabel aus der französischen Übersetzung eines Borges-Textes. "Chwein" gehe zu sehr in Richtung Klamotte. Schade um die wirklich reizende Wortneubildung! Was "chonchon" denn nun eigentlich heißt – auch die anwesenden Franzosen waren ratlos.

Gute Sätze drin, gute Fantasien
Ihr Stück poetischer machen, das wollte auch die ursprünglich von der Schauspielerei herkommende junge Dramatikerin Carine Lacroix. Ihr reichte nicht die klare, direkte Sprache der beiden Mädchen, die sich an einer quasi existentialistischen Tankstelle begegnen, über das noch ganz unerschlossene Phänomen der Liebe reden, den Pizzaboten umbringen und sich dann, weil man zu zweit stärker ist, gemeinsam ins Leben hinauswagen. Aus einem, im Prinzip richtigen, Gefühl des Ungenügens heraus hat die Autorin versucht, ihr Werk durch vielsagende Off-Texte poetisch zu tunen. Ein Stück nicht nur über, sondern wohl auch eher für Jugendliche. Wie sagte beim Rausgehen ein Heranwachsender zu seinem Kumpel: "Gute Sätze drin, gute Phantasien!"

Ganz aus dem Rahmen fielen nur "Weit weg von Hagedingen" und "Faire bleu" vom eigentlich schon gut etablierten Autor Jean-Paul Wenzel, zwei Arbeitswelt-Dramen aus dem Lothringter Montanrevier. Immerhin, die Regie begegnete der sehr konventionellen naturalistischen Machart der Vorlagen mit einem Experiment. Sie brachte die beiden Stücke, das eine auf Deutsch, das andere auf Französisch, parallel und ineinander verschränkt auf die Bühne.

Indirekte Türöffnerfunktion
Und so bescherte dieser Abend wenigstens die interessante Begegnung mit einer jungen Regisseurin, Leyla-Claire Rabih, die an der Berliner Ernst-Busch-Hochschule studiert hat und im deutschen ebenso wie im französischen Theatersystem zu Hause ist.

Das "Primeurs"-Festival erwies sich auch in seinem dritten Jahrgang als ideale Ergänzung zu den "Perspectives", dem deutsch-französischen Festival der Bühnenkunst in Saarbrücken, das in diesem Jahr schon zum 32. Mal stattfand. Die Türöffnerfunktion von "Primeurs" ist bislang eher eine indirekte, Übersetzungen werden angeregt, der Zugang zu Verlagen wird vermittelt. Noch repräsentiert einsam Yasmina Reza die französische Gegenwartsdramatik auf deutschen Bühnen, noch ist keines der in Saarbrücken gezeigten Stücke auf deutschen Spielplänen aufgetaucht.

Immerhin, in der kommenden Spielzeit geht das Saarländische Staatstheater mit gutem Beispiel voran und zeigt mit "Kiwi" von Daniel Dani ein Stück aus dem "Primeurs"-Programm von 2008.


Primeurs - Festival frankophoner Gegenwartsdramatik
Primeurs - Festival d'ecriture dramatique contemporaine


Eine Frage der Einstellung (Le plan américain)

von Evelyne de la Chenelière und Daniel Brière

Weit weg von Hagedingen (Loin d’Hagondange Faire bleu)
von Jean-Paul Wenzel

Burn, Baby burn
von Carine Lacroix

Glückseligkeit (Félicité)
von Olivier Choinière
DSE: 1/2010 Theater Neumarkt, Zürich

Hochmut, Verfolgung und Enthauptung (Orgueil, Poursuite et Décapitation)
von Marion Aubert

www.saarlaendisches-staatstheater.de

 

Mehr zu frankophoner Dramatik im nachtkritik-Archiv: die 2. Ausgabe des Festivals Primeurs in Saarbrücken zeichnete 2008 den 1974 in Togo geborenen Dramatiker Gustave Akakpo für sein Stück Die Aleppo-Beule mit dem Autorenpreis aus. Den deutsch-französischen Autorenpreis des Badischen Staatstheaters Karlsruhe, das sich im Kontext des Festivals Blickwechsel mit deutsch-französischer Gegenwartsdramatik befasst, gewann 2008 Gerhild Steinbuch und 2009 Marie NDiaye und Olivier Kemeid. In ihrem 4. Theaterbrief aus Paris schrieb Ute Nyssen im Juni 2009 über das Verhältnis französischer Gegenwartsdramatik zur Geschichte.

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