Winnetou muss sterben

von Kerstin Edinger

Bochum, 24. November 2009. Eine verführerische Stimme schmeichelt uns: "Was willst Du sein? Willst Du weg? Du kannst sein, was Du willst." Der Zuschauer tritt durch einen Plüschvorhang in eine vernebelte Welt des Undefinierbaren. Wir sind im Bermudadreieck. An einem Ort, an dem sich zwei Schauspieler als Schriftsteller Karl May und Patricia Highsmiths' Romanfigur Tom Ripley vor zwei Schminktischen bereit machen. Ein Spiel im Spiel also.

Die Bühne: eine kleine weisse Fläche zwischen Stuhlreihen. Regisseurin Eva-Maria Baumeister und ihr Team kommen mit wenig aus, um das Stück und seinen Inhalt auf das Wesentliche zu verdichten. Kaum Requisiten und Kostümaccessoires, einige Licht- und Soundeffekte. Keine Effekthascherei, sondern klares schnörkelloses Theater, das sich am Text und an den Schauspielern orientiert.

Gerupfte Fassung
Auch das Stück musste Federn lassen: "Bermudadreieck" stellt sich in der Uraufführungsversion von Jungautor John Birke, Jahrgang 1981, anders dar, als noch in der angekündigten Fassung. Eine Figur wurde komplett entfernt: die Pilotin Amelia Earhart, die erste Frau, die den Atlantik überquerte und bei einem ihrer Flüge spurlos verschwand, kommt nicht mehr vor. Die Geschichte verzichtet auf diese starke, eigensinnige Frau und konzentriert sich auf die männlichen Verlierertypen – auf die historische Figur Karl May und die Romanfigur Tom Ripley.

Beide scheitern an der Realität, die sie zu Betrügern oder gar Mördern werden lässt. Sie suchen Zuflucht in einer erträumten Welt, an einem Ort, der Strafe in Freiheit verwandeln kann. Ihre kriminelle Energie ist ein Hilfeschrei: "Ich bin ein Dieb und ein Kranker", fleht uns Karl May an. Doch die geheimnisvolle Stimme des Bermudadreiecks lockt sie immer wieder: "Du kannst sein, was Du willst." Und nur an diesem geheimnisvollen Ort können sie die Lücke ihrer verschiedenen Identitäten schließen.

Gequälte Kreaturen
John Birke zeigt uns den erfolgreichen Schriftsteller Karl May als gequälte Kreatur, die Zuflucht im Schreiben von Romanen sucht und dort die große weite Welt erträumt. Er flieht vor sich selbst, dem kränkelnden Bengel und trickreichen Erfinder, der aufgrund kleinerer Diebstähle und dem Erfinden falscher Identitäten ins Gefängnis muss. Im Knast einem Schreibrausch erlegen, flieht er in seine ganz persönliche Traumwelt, in sein "Bermudadreieck", in dem er nicht nur verschwinden, sondern sich auch neu erfinden kann.

Tom Ripley macht genauso eine Wandlung durch: vom gebeutelten, linkischen Jungen zum Mörder, der durch die Tat sein altes Ich abstreift und an Selbstbewusstsein gewinnt. Wie Karl May zweifelt er immer wieder an sich selbst, kann nur durch das Annehmen einer neuen Identität sich selbst verändern.

Bei Eva-Maria Baumeister wechseln Martin Bretschneider und Christoph Jöde beide wie selbstverständlich ihre Erzählperspektiven und schaffen es, mit wenigen exakten Bewegungen und kleinen Nuancen die Tragik, aber auch Brutalität ihrer Figuren aufscheinen zu lassen. Obwohl sie sich als Figuren nicht begegnen, unterstützen sie sich bei ihren Monologen. Während der eine spricht, untermalt der andere musikalisch, trommelt auf den Tisch oder reicht ein Requisit – wenige, jedoch von Regisseurin Eva-Maria Baumeister klar gesetzte Handlungen, die durchaus Sinn ergeben.

Du Romanfigur!
Man wünscht sich den ganzen Abend über, dass die beiden Figuren aufeinandertreffen und ihre Verzweiflung miteinander teilen. John Birke aber nimmt die Einsamkeit und Kommunikationsunfähigkeit der beiden ernst. Nur kurz kommt es zu einem Dialog, wobei sich die Schauspieler dabei sofort von ihren Figuren absetzen. Sie brechen aus ihrer Selbstumhüllung, aus den ihnen zugewiesenen Rollen heraus und beschimpfen sich gegenseitig: "Du Romanfigur! Du Sachsen-Sau! Du Gossenkind! Du Möchtegern-Westernheld! Du Puppenspieler!" – und treffen den anderen damit in Mark und Bein. Wieder antworten sie mit Brutalität. Karl May strauchelt mit seinem makellosen Über-Helden Winnetou. "Ich kriege dich, Winnetou. Winnetou muss sterben." Karl May erschießt seine Figur und damit die Illusion einer selbsterdachten Freiheit.

Ein kleiner, feiner Abend ist so entstanden. Ein Theaterabend, der die Existenz einer wahren Identität in Frage stellt und die Suche nach ihr als Farce begreift. Wir alle sind im Bermudadreieck gefangen.

Der Abend endet mit dem Bermuda-Sound. Stille.


Bermudadreieck
Uraufführung nach Texten von John Birke
Regie: Eva-Maria Baumeister, Raumkonzept: Thomas George, Kostüme: Bettina Knaack, Licht: Denny Klein, Dramaturgie: Holger Weimar.
Mit: Martin Bretschneider, Christoph Jöde, Veronika Nickl.

www.schauspielhausbochum.de


Mehr über John Birke im nachtkritik-Archiv: Im November 2008 brachte Felicitas Brucker an den Münchner Kammerspielen sein Stück Armes Ding zur Uraufführung; und im Rahmen der Uraufführungswerkstatt Deutschlandsaga an der Berliner Schaubühne inszenierte Jan-Christoph Gockel Kill Willy.

Kritikenrundschau

In dem "engen, nebligen Rund" könne der Zuschauer "fast auf Tuchfühlung gehen", schreibt Ronny von Wangenheim in den Ruhr-Nachrichten (26.11.) über "Bermudadreieck" im Bochumer Theater unter Tage. Man sehe "jeden perlenden Schweißtropfen, jeden Perspektivwechsel der beiden Schauspieler", auch das mache "den Reiz der kurzweiligen Inszenierung" von Eva-Maria Baumeister aus. Martin Bretschneider als Old Shatterhand und Christoph Jöde als Tom Ripley gelinge es, "die Verzweiflung, die Hoffnung und auch Brutalität ihrer Figuren deutlich" zu machen.

 

 

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