Wie stirbt man Tschechow richtig?

von Stefan Bläske

Wien, 25. November 2009. Den ganzen Abend liegt er nur im Bett. Bedeckt von weißen Laken. Sein Kopf schaut raus, und alles dreht sich stets um ihn. Wir hören ihn gurgeln und husten, Sekt schlürfen und seine letzten Sätze ausstoßen. Tschechow liegt im Sterben, und wir sollen Experten dieses historischen Moments werden. Dafür wird er uns wieder und wieder vorgespielt, in allen überlieferten Varianten. Und derer gibt es viele.

Cezary Tomaszewski macht das gut, er stirbt unaufdringlich und eindrucksvoll. Aber natürlich stirbt er nicht, sondern tut als ob. Ist ja Theater. Das sehen wir im brut-Künstlerhaus indes nicht direkt, sondern als Projektion auf einer großen Leinwand: zunächst ein vorproduzierter Film, dann live gespielt in einem kleinen Häuschen mit geschlossener vierter Wand und von vier Kameras übertragen. Tschechows Tod kann eben nur noch in der medialen Vermittlung nachvollzogen werden.

Ibsen? Ein überschätzter Autor!
Die jüngste Produktion von toxic dreams ist konzeptuell so klug und konsequent wie die meisten Arbeiten des Regisseurs Yosi Wanunu, sie bleibt nur leider (aber auch das könnte Konzept sein bei diesem Thema) etwas blutleer und unterkühlt, so dass man mit Tschechow röcheln möchte: "Man braucht kein Eis auf einem leeren Herzen". Oder wahlweise, je nach Überlieferung, "auf einem leeren Magen".

Das waren womöglich Tschechows letzte Worte. "Ich habe schon lange keinen Sekt mehr getrunken", soll er danach noch ausgehaucht haben. Und dann, schlussendlich und typisch wertneutral konstatierend: "Ich sterbe".

Er sagte es auf deutsch, denn das Herzversagen ereilte ihn in einem Kurhotel im Schwarzwald. Im weißen, fast schon himmlisch hellen Hotelzimmer sitzen oder stehen ihm bei: ein deutscher Arzt (Otmar Wagner), der russische Student Leo Rabeneck (Radek Hewelt), und seine Frau Olga Knipper (Irene Coticchio). Es ist eine Szene wie aus einem Tschechow-Stück. Oder eher – vermutet später die hornbebrillte, besserwisserisch-dozierende Autorin (Anna Mendelssohn) – wie von Ibsen. Den hielt Tschechow für keinen guten Bühnenautor, der habe nämlich keine Ahnung vom Leben.

Dramatischer oder theatraler oder was für'n Realismus?
Mit der Arbeit zu den letzten Atemzügen des Anton Pawlowitsch Tschechow beendet toxic dreams eine Trilogie über den Arzt und Autor, schließt das Triptychon zum Thema "Realismus", das seit 2006 sehr originell und intelligent verschiedene Ausdruckformen des Theaters erforscht.

Letztlich, resümiert Yosi Wanunu, sollte man wohl nicht von einem "Realismus"-Konzept ausgehen, das sich antithetisch zu beispielsweise "Formalismus" oder "Dekonstruktion" verhalte. Vielmehr müsste man alles gleichermaßen als Realismus begreifen, wobei der "dramatische Realismus" den Präsentationsapparat zugunsten des Inhalts ausblenden möchte, während der "theatrale Realismus" selbstreflexiv und ideologiekritisch den Illusionsapparat immer mit thematisiert – oder ihn zumindest nicht zu verbergen trachtet.

Drei solcher "Realisationen" von Onkel Tschechow und Onkel Wanja hat toxic dreams nun vorzuweisen, drei sehr verschiedene Reality-Shows: "Vanja 1" (2006) nahm die Zuschauer mit auf einen "Trip ins Land des Realismus", Videowände zeigten während einer Lecture-Performance Bilder von Orten, an denen Onkel Wanja geschrieben und aufgeführt wurde, so als käme man mit "method directing" und Doku-Film der Seele eines Stückes näher. Mit der Inszenierung "Pink Vanja" (2008) hingegen wollte toxic dreams "den Realismus fremd machen". Wanja wurde nicht als dialogisches Talk-Theater am Tisch, sondern als "Oper in 4 Akten" mit schräger Live-Musik in einem rosa Raum gegeben, eine musikalische Tschechow-Verweigerung. Mit "Ich sterbe" soll nun der "Realismus des Lebens" ins Theater einkehren, dem Tod sei Dank.

Klug, aber unterkühlt collagiert
Wie war das wirklich, als Tschechow starb? Mit Sekt, Sauerstoff und Eiswürfeln? Hat Tschechow tatsächlich von Matrosen halluziniert, und welche Rolle spielte der schwarze Nachtfalter? toxic dreams hat akribisch recherchiert und erspart den Zuschauern nichts: Die Erinnerungen von Olga, Leo und Doktor Schwöhrer, die russischen Zeitungsberichte, die Beschreibungen in englischen und französischen Biographien (von Daniel Gilles, Henri Troyat, Irène Némirovsky, V. S. Pritchett, Donald Rayfield, Philip Callow) und auch die Erzählungen von Raymond Carver ("Errand") und Nathalie Sarraute ("Ich sterbe") – sie alle werden wiedergegeben, verglichen, und nachgespielt. Möglichst "realistisch", sogar in den verschiedenen Sprachen. Da sich die Versionen letztlich aber nur in Nuancen unterscheiden, wirken die wiederkehrenden Sterbeszenen wie ein Spiel mit Matrjoschkas: ein Bild folgt auf's nächste, eine Version wird über die andere gelegt, ohne dass dabei ein "Original" auszumachen wäre.

Das toxische Dream-Team leistet mit "Ich sterbe" also nicht nur einen Beitrag zur biographischen Tschechow-Forschung, sondern auch zu Grundsatzfragen nach historischer Wahrheit und Fiktion, nach der (Un)Darstellbarkeit des Todes, sowie den Grenzen von dramatischem und theatralem Realismus.

Das klingt alles eher nach Hochschul-Seminar als nach Theater, und vermutlich war es das auch: mehr eine Collage aus "Found Knowledge" als ein unterhaltsamer und abwechslungsreicher Theaterabend. Damit freilich sei die Inszenierung all jenen ans Herz oder in den Magen gelegt, die sich kritisch mit Theater(wissenschaft) beschäftigen: Als intelligente Auseinandersetzung mit Historiographie und Performancetheorie – mit filmischen Mitteln im Theater.

 

Ich sterbe. I'm dying. Я умираю.
Koproduktion von toxic dreams und brut Wien
Text und Regie: Yosi Wanunu; Hausbau und Kameras: Yosi Wanunu, Otmar Wagner, Claribel Koss, Michael Strohmann; Komposition, Film- und Live Editing: Michael Strohmann; Bühne (Haus): Otmar Wagner. Mit: Cezary Tomaszewski, Anna Mendelssohn, sowie in Filmszenen: Irene Coticchio, Otmar Wagner, Radek Hewelt, Justin Poole.

www.brut-wien.at

 

Mehr zum brut, dem Produktionszentrum für Off-Theater in Wien, im nachtkritik-Archiv: Hier führte Barbara Weber im Juni 2008 Die Lears auf, über die Situation der Freien Szene Wiens schrieb Georg Petermichl im September 2007.

 

Kritikenrundschau

Margarete Affenzeller erinnert in Der Standard (27.11.2009) daran, dass die Performancegruppe um Yosi Wanunu es in den letzten Jahren bunt mit Tschechow getrieben habe. Als Stärke von toxic dreams und deren Dekonstruktionen sieht sie, dass "mit der Entzauberung" meist "eine neuerliche Verzauberung" einhergehe. Diesmal allerdings fand Affenzeller das "recht langatmig und gleichförmig – trotz der hinreißenden Schauspieler, die mit Japsen und Weinen für 'echte' Gefühle sorgten". Dem Realismusanspruch des Theaters weiche Wanunu "demonstrativ aus", indem er das "Geschehen auf Leinwände" verlagere, und damit ins "'realistischste' aller Medien, den Film".

Stefan Beig beschreibt die Inszenierung in einer Minikritik der Wiener Zeitung (27.11.2009) als makaber, erheiternd und intelligent sowie als "multimediale Reflexion über Fiktion und Wirklichkeit". Anna Mendelssohn als Autorin findet er "brillant", den Abend insgesamt "darstellerisch und filmisch überzeugend – auch dank der Filmmusik".

Im Kurier (27.11.2009) zitiert ein Kürzel namens caro erst ausgiebig Olga Kippers Beschreibung von Tschechows letzten Minuten und zeichnet dann nach, welche Elemente (Falter, Vogelzwitschern, Hotelportier, Matrose) sich seither in die verschiedenen Überlieferungen eingeschlichen haben. Die Inszenierung von toxic dreams empfand caro als "vergnügliche und gleichzeitig sehr kluge Arbeit, die auf der Suche nach endgültiger Wahrheit das (Un-)Wesen von Biografien aufs Korn nimmt".

 

 

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