Das ist der Anfang

von Regine Müller

Nordrhein-Westfalen, 28. November 2009. Von außen betrachtet, befindet sich die Kultur in Nordrhein-Westfalen derzeit in einer absurden Schieflage. Oder sind es gar schon veritable Parallelwelten, die unabhängig voneinander existieren?

Rund ums Ruhrgebiet wird im Moment hektisch für die Kulturhauptstadt Ruhr2010 getrommelt, üppig besetzte Teams versenken unbekümmert Millionen in Leuchtturmprojekte. Die noble RuhrTriennale präsentiert stolze Bilanzen, das Klavierfestival Ruhr wird noch größer und schöner, und die nordrhein-westfälische Landespolitik prahlt mit ihren ambitionierten Kulturprojekten. Ein Schlaraffenland der Kultur? Weit gefehlt. Denn stell dir vor, es ist Kulturhauptstadtjahr – und die Kultur ist weg. Wenn es nämlich so weitergeht, könnte dieses Horrorszenario Wirklichkeit werden, da gleich mehrere der traditionsreichen Theater – und weitere Teile der kulturellen Infrastruktur – in Nordrhein-Westfalen akut in ihrer Existenz bedroht sind.

"Wir sind ratlos"
Ganz böse kommt es nun in Wuppertal. Dort herrscht Schockstarre. Der in dieser Spielzeit mit viel Verve neu angetretene Schauspielintendant Christian von Treskow sagt: "Wir sind ratlos." Keine Rede sei vorher vom drohenden Kahlschlag gewesen, und jetzt sei man plötzlich mittendrin in der Existenzdiskussion. Dabei muss an dem 131 Seiten starken Haushaltssicherungskonzept, das den zynisch klingenden Titel "Sparen, um zu gestalten" trägt, seit geraumer Zeit gefeilt worden sein. Das Papier sieht für den Kulturbereich Kürzungen von 30 Prozent vor, die Wuppertaler Bühnen müssen künftig jährlich mit zwei Millionen Euro weniger auskommen, unter anderem soll das Schauspielhaus ganz geschlossen werden.

Einen derart radikalen Kurs hätte die Politik zu Lebzeiten von Pina Bausch kaum gewagt, so von Treskow, denn: "Sie hat über das Schauspielhaus immer ihre schützende Hand gehalten." Ein internationaler Aufschrei wäre gewiss gewesen, würde Bausch noch leben. Irreführend sei es seitens der Stadt, zu behaupten, es gehe ja "nur" um das Schauspiel, rechnet von Treskow vor: "Auf lange Sicht bedeutet das Sparkonzept das Aus für alle Sparten, denn wir können einfach nichts mehr selbst produzieren. Wir sind jetzt schon so abgespeckt, dass nichts mehr einzusparen ist." Das traditionsreiche Wuppertaler Theater verkäme dann zum Durchlauferhitzer von mittelmäßigen Tourneeproduktionen.

Brot und Butter
Dabei war Wuppertal bislang noch nicht auf der Liste der akut bedrohten Theater. Doch die zunächst noch vereinzelten Kassandra-Rufe aus Hagen, Oberhausen, Krefeld-Mönchengladbach und sogar Essen werden nun zum anschwellenden Strophengesang, in den immer mehr Theater werden einstimmen müssen. 30 Prozent weniger für die Kultur planen auch die Kämmerer in Dortmund, Köln und Mülheim an der Ruhr. Vielleicht auch deshalb ist das Echo auf den Wuppertaler Vorstoß, der womöglich einen Dammbruch auslöst, einstweilen noch verhalten. So, als wolle man den Ernst der Lage noch ein Weilchen ignorieren.

"Wir wollen keinen Sonder-Jammerstatus", sagt von Treskow, denn das "Horrorpapier" betrifft die gesamte städtische Infrastruktur: Bibliotheken, Kindergärten und Bäder sollen geschlossen und dringend nötige Sanierungsprojekte aufgegeben werden. Es drohen Verwahrlosung und Verödung der ganzen, ohnehin vom Bevölkerungsschwund gebeutelten Stadt.

Und die Hefe im Teig
"Ich habe von Gerd Leo Kuck, der die Wuppertaler Bühnen aus der unglücklichen Theaterehe mit Gelsenkirchen herausgeführt und konsolidiert hat, ein kerngesundes Haus mit stabiler Auslastung übernommen", berichtet von Treskow. "82.000 Besucher besuchten in der Spielzeit 2007/08 die Wuppertaler Bühnen, 81.500 waren es in der vergangenen Spielzeit, die ca. 12.000 Besucher der Gastspiele auf benachbarten Bühnen jeweils nicht mit eingerechnet", sekundiert Geschäftsführer Enno Schaarwächter. "Die Zahlen entsprechen einer Auslastung von 80 Prozent im Musiktheater und 60 im Sprechtheater, Tendenz steigend."

Das bedeute einen Zuschuss von 136 Euro pro Theaterkarte, womit Wuppertal sich in der nationalen Statistik im mittleren Bereich aufhalte. Der Vorwurf der teuer bezuschussten Elitekunst für Eingeweihte greift in Wuppertal ohnehin nicht. "Wir machen keine Hochkultur, wir sind die kulturelle Grundversorgung, Brot und Butter", so von Treskow.

So ähnlich hat das einst der gebürtige Wuppertaler Johannes Rau ausgedrückt: "Kultur ist nicht die Sahne auf dem Kuchen, sondern die Hefe im Teig." Er dürfte sich nun im Grabe herumdrehen.

Zehn Prozent für die Kunst
Doch warum stehen plötzlich so viele Theater am Abgrund? Liegt es nur am politischen Willen vor Ort, der den Glamour der Großveranstaltung dem Alltag kontinuierlicher Kulturarbeit vorzieht? Ja und nein. Die Wurzeln des Theaterproblems liegen tief.

Die Theater werden von den Kommunen betrieben und finanziert, die jeweiligen Etats werden zäh verhandelt und auf lange Sicht festgeschrieben. Im Durchschnitt 90 Prozent der Budgets fließen in Fixkosten, die mit der Kunst noch nichts zu tun haben. Schon wenn Tariferhöhungen anstehen, geht's unweigerlich ans Eingemachte, denn auf diesen immensen Mehrkosten bleiben die Theater stets sitzen. Was bedeutet, dass selbige von den mickrigen zehn Prozent für die Kunst bestritten werden müssen.

Auch ohne Finanzkrise und deren fatalen Folgen für die Kommunen, auch ohne Haushaltssicherungskonzepte kochen die Finanzierungsprobleme der Theater deshalb alle Jahre wieder hoch, sinnvoll gelöst wurden sie noch nie. Denn die klammen Kommunen stehen finanziell mit dem Rücken zur Wand und geben sich handlungsunfähig.

Und jetzt?
Müsste jetzt also nicht die Stunde der nächsthöheren politischen Instanz schlagen? Sollte jetzt nicht schleunigst das Land Nordrhein-Westfalen Flagge zeigen, das sich mit seiner Kultur brüstet, sie als Standortfaktor feiert und zur Imagepolitur nutzt? Das Kultursekretariat NRW hat bereits zu einem Bestandspakt für die Bühnen aufgerufen und das Land aufgefordert, die bedrohten Theater gezielt zu unterstützen. Doch vorerst gibt man sich noch zugeknöpft, und zudem sehen die Kommunen ihre Eigenständigkeit gefährdet.

Die kulturelle Grundversorgung des Landes mit seiner unvergleichlichen Theaterlandschaft und deren Erhalt darf aber nicht nur Sache der Kommunen bleiben und weiterhin der Schacherei kommunaler Kämmerer überlassen werden.

Andernfalls bekäme das Mantra der Kulturhauptstadt "Wandel durch Kultur - Kultur durch Wandel" einen üblen Beigeschmack.

 

Weitere Informationen zu aktuellen Sparplänen und der Debatte um die finanzielle Situation der Theater und Künstler finden Sie im nachtkritik-krisometer. Ein Bild von der Situation des Mannheimer Theaters und den krisenhaften Verhältnissen im Südwesten hat sich Harald Raab gemacht – und berichtet, dass es auch anders geht, zum Beispiel in Frankfurt am Main.