Nimm den Blätterhaufen vom Kopf

von Otto Paul Burkhardt

Karlsruhe, 26. November 2009. Das also soll er sein, Dionysos, Sohn des Zeus, Gott des Weins und der Ekstase, Guru einer blutgierigen Sekte, Aufwiegler der Frauen. In Karlsruhe ist er eine Art Horror-Hexer. Ein Mann in gelber Latexhaut. Einer, der "aus dem alten goldenen Asien" nach Theben heimgekehrt ist und sich seine Gummimaske nun vom Leib reißen kann. Doch was zum Vorschein kommt, ist wieder nur Verkleidung.

Denn dieser Dionysos offenbart bei Sebastian Kreutz unterm Tarnanzug nur eine weitere Kunstfigur – ein androgyn blondiertes, leises, undurchsichtiges Wesen in Hosen und Pumps. Vielleicht eher ein Scharlatan als ein wahrhaftig wilder, exaltierter Gott? Kreutzens Dionysos, ein verletzter, rachegeiler Narziss (weil ihm die Anerkennung als Sohn des Göttervaters verweigert wurde), lacht jedenfalls nie. Und wenn, dann ist davon nur ein kurzes, fieses Kichern übriggeblieben.

Maskenspiel von unaufdringlicher Heutigkeit
Es stimmt schon: Raoul Schrotts Nachdichtung der Bakchen hat eine gewisse Leichtigkeit und eine unaufdringliche Heutigkeit, die uns den uralten Euripides-Plot wieder näher rückt, als dies handelsübliche Übersetzungen zuletzt vermochten. Die vielgerühmte Pointe – wenn Schrott "sophos" mit "Klugscheißer" übersetzt – ist eine der eher seltenen Auffälligkeiten dieser Übertragung, die vor allem eine durchgehend rhythmische Eleganz entwickelt. Eben dies nutzt Regisseur Thomas Krupa. Er lässt einen neunköpfigen Frauenchor zu diskret pochendem Ambient-Groove von Mark Polscher leicht swingend sprechen (rappen wäre zu heftig), teils sogar singen – wodurch das Ganze manchmal klingt wie ein Sakralpopchor im Jugendgottesdienst.

Ein erzählerischer Sog, ein Sinn für punktuell starke, überrumpelnde Bilder (siehe die Latexhaut; sogar eine echte Ziegenherde tritt auf) und eine andrerseits oft karge, die Imagination fördernde Spielweise (kein Blut weit und breit): Diese drei Komponenten sind es, aus denen Krupa eine wieder sehens- und nachdenkenswerte, spannende, bezugsreiche Inszenierung webt – mal abgesehen von seiner erneut dezent durchgezogenen Manier, allerlei mediale Verdopplungen mit Livekameras und Videoscreens beizusteuern. Und Pentheus, der amtierende Herrscher Thebens? Der ist bei Timo Tank ein moderner, auftrittssicherer Durchregierer in Anzug und Krawatte. Freilich auch einer, der in dem skurrilen Frauenentfesseler Dionysos sofort die Achse des Bösen wähnt, einen Gegner, dem er sofort "den Kopf abhacken" will.

Befreiender Rausch versus kontrollierte Vernunft
Während Euripides Sympathie für Pentheus durchschimmern lässt, meint Krupa, hier gegensteuern zu müssen: So, dass Tank seinen Pentheus als brüllenden Polit-Hysteriker kenntlich macht, der gegen die "wild gewordenen Weiber", wenn's sein muss, subito "in den Krieg" ziehen will. Hier also ein leiser, fieser Dionysos – mehr ein Dionysos-Darsteller denn ein veritabler Gott. Und dort ein lauter, cholerischer Pentheus – ein Berufspolitiker, der auch mal beifallheischend das Publikum agitiert.

Befreiender Rausch und kontrollierte Vernunft – beides schlägt um in Wahn und Gewalt: Auch Thomas Krupa übt sich hier in fein austarierter Ausgewogenheits-Dialektik. Die altvordere Machtelite Thebens macht auch keine bessere Figur: Hannsjörg Schusters blinder Seher Tiresias hält kluge, ausweichende Reden, und Stefan Vierings Kadmos muss sich als tanzwilliger Dionysos-Fan – in schickem Push-up-BH und Lorbeerkranz – erstmal  mit Dehnübungen fit machen. Pentheus hasst das. "Nimm den Blätterhaufen vom Kopf", raunzt er den alten Kadmos an.

Umschlossen von steigenden Flüssigkeiten
Überhaupt, Thomas Krupa nutzt die Weitläufigkeit der Nancyhalle, der Staatstheater-Spielstätte für besondere Inszenierungen. Das Publikum wandert zur Hälfte des Stücks von einem Hallenareal in ein anderes – so wechseln auch Blick, Sichtweise und Standpunkt. Und für den Moment, in dem Timo Tanks Pentheus von den Dionysos-Frauen zerrissen wird, findet Krupa ein vieldeutiges Bild – von draußen wird die Glaswand der Halle mit einer schmutzig-weißen Flüssigkeit vollgesaut. Kübelweise. Bis niemand mehr durchblickt.

Vollends Agaue: Sie bekommt in Schrotts Übertragung ein großes Finale – eine schwierige Aufgabe, die Ursula Reiter als Frau in Trance (aber ohne Blut und Pentheus-Kopf) verhalten klagend und schauspielerisch achtbar löst. Kurzum, dieser Karlsruher Schrott-Euripides lohnt sich. Thomas Krupas Inszenierung bietet vieles – feinste Dialektik, heftige Bilder und dennoch Raum für Imagination. Und ein realer Standpunkt-, pardon Sitzortwechsel, ist in den Weiten der Nancyhalle sozusagen mit inbegriffen. Am Ende bleibt das Dunkel, ein trauernder Chor und ein fernes, bedrohliches Wummern aus dem Off.

Bakchen
von Raoul Schrott, Neudichtung nach Euripides
Regie: Thomas Krupa, Bühne: Thilo Reuther, Kostüme: Pia Janssen, Komposition, Chor, musikalische Leitung: Mark Polscher.
Mit: Sebastian Kreutz, Timo Tank, Ursula Reiter, Hannsjörg Schuster, Stefan Viering, Jochen Neupert, Marc-Philipp Kochendörfer, Olaf Becker, Anne-Kathrin Bartholomäus u.a.

www.staatstheater.karlsruhe.de


Mehr über szenische Umsetzungen der Bakchen im nachtkritik-Archiv: Als Hommage Jürgen Gosch, der die Inszenierung der "Bakchen" nicht mehr vollenden konnte, präsentierten seine Schauspieler im Juli 2009 bei den Salzburger Festspielen eine szenische Lesung des Euripides-Stücks. Und im Juni 2008 wurde es von Robert Schuster in Bremen rasant modern auf die Bühne gebracht.

Kritikenrundschau

"Rasende Bacchantinnen? Wilde Weiber im Weinrausch? Nix da", schreibt Andreas Jüttner von den Badischen Neuesten Nachrichten (28.11.). Stattdessen seien die Bakchen in Thomas Krupas Karlsruher Inszenierung "ein Chor braver Heimchen". "Spreizend-ekstatisch" gebärdeten sich auf der Bühne eher die Herren. So betone die Regie unter allen dem Stoff eingewobenen Konflikten "vor allem den der Geschlechter". Die Kluft zwischen antikem Drama und unserer Gegenwart werde dadurch spürbar, dass Krupa "zwar in zeitgenössisch wirkenden Kostümen (Pia Janssen) spielen lässt, sich aber eine eindeutige Übertragung des Dionysos-Kultes auf heutige Zeiten verkneift und lieber Fragen aufwirft". Am ehesten könne man in Pentheus noch den "Rambo-Manager einherwalzen" sehen. "Aber was", fragt Jüttner, "versinnbildlicht das meist sanfte chorische Sprechen der Frauen (...), dessen Erregungskurve sich auf säuselnde Melodien beschränkt? Ist Nüchternheit der neue Rausch? Wirkt angesichts des heutigen Individualismus ein uniformes Auftreten ähnlich provokativ wie eins der ekstatische Tanz? Oder ist der Bacchantinnen-Kult nur eine Projektion der Männer"? Der "an sich reizvolle Bogen des Assoziationsreichtums in Krupas Regiearbeiten" werde hier "sehr weit gespannt – doch auf der Suche nach einem Pfeil, den er abschießt, läuft man wiederholt ins Leere".

Rüdiger Krohn in der Rheinpfalz (30.11.) findet, dass das Stück in der Neudichtung von Raoul Schrott "zu einem Stück von durchaus neuzeitlicher Färbung" geworden sei, "das pessimistische Zweifel an den vermeintlichen Errungenschaften unserer Moderne anmeldet". Der Kontrast von "kontrolliertem Kalkül und elementarem Trieb" stünde im Mittelpunkt der Bearbeitung – ein Kontrast, der in der Inszenierung von Thomas Krupa allerdings mehr "behauptet als belegt" würde. Der Regisseur "weigert sich folgenreich, die Geschichte des Stückes schlüssig zu erzählen" und konzentriere sich statt dessen auf eine "spektakuläre Bebilderung einzelner Momente". Die Schauspieler hätten es da "nicht leicht" und sowieso müsse man sie aufgrund "unzulänglicher Verstärkung durch verwirrende Lautsprecher" auf der Bühne immer erst einmal suchen und "verorten".

 

Kommentare  
Krupas Bakchen: Bühnen- u. Kostümbilder werden ignoriert
Als Bühnen und Kostümbildnerin arbeite ich im Team und ich wundere mich immer wieder mit welcher Respektlosigkeit Kostümbildner in der Kritik ausgespart werden, hier bei der Karlsruher Inszenierung ist es ja in der Kritik "noch nicht einmal" der Bühnenbildner erwähnt, aber dann sollte doch wenigstens im Abspann alle des Teams genannt werden. Vielleicht sollten sich die Herren und Damen Kritiker vergegenwärtigen das Theater ein gemeinschaftlich kreativer Prozess ist und das was sie auf der Bühne tatsächlich sehen immer von der Ausstattung geleistet wird. Das Ideen und Konzepte sich gegenseitig befruchten und daraus etwas ganz anderes wird als man zu Beginn einer Arbeit denken konnte, dieser Prozess ist ja gerade das spannende und der Grund warum wir Theater machen. Die Würdigung durch Kritik ist so gut wie nicht vorhanden. Die Technik des Kritikschreiben unterliegt einer überholten Konvention die immer noch von dem großen Regietheater ausgeht, das aber gerade auch in der jungen Theatermachern Generation (Ausstatter Dramaturgen, Autoren inbegriffen) eine Ablösung dieser patriarchalen Hierarchie stattfindet, könnte doch mal interessant sein zu beleuchten. Da wir uns im Theater ja nicht ein Hörspiel "anschauen" wäre es doch mal sehr interessant Kritiken zu lesen, die sich mit dem Visuellen auseinandersetzten. Raum, Licht, Kostüme, Sound bilden ja das was Sie sehen. Viel Spaß beim Hinschauen! - und ich bitte um die Korrektur im Abspann.


(Liebe Pia Janssen,
Sie haben natürlich Recht, Ihr Name sollte im Besetzungskasten auf keinen Fall fehlen, wir haben ihn ergänzt.
Mit freundlichen Grüßen,
Anne Peter / Redaktion)
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