Sternstunden des Unspektakulären

von Anne Peter

April 2009. Selten sind Special-Effects so wenig sensationell, so dilettantisch vorgeführt und doch so wunderschön! Ein ferngesteuertes Auto fährt zu Händel-Klängen eine Wunderkerze spazieren. Autoscheinwerfer blinken zu pompösem Walkürenritt durch Bühnennebel. Serge nennt das dann etwa "Light Effect on a music by Wagner". Und zwischendurch tanzt er im Dunkeln mit Glow-in-the-dark-Brille zu "Billy Jean".

Die Dinge zum Tanzen bringen

Serge, das ist der verschrobene Eigenbrödler in "L'Effet de Serge", eine Performance der um den französischen Regisseur Philippe Quesne versammelten Gruppe Vivarium Studio aus Paris und Liebling des europäischen Festival-Sommers 2008. Allsonntäglich lädt Serge (Gaëtan Vourc'h) Gäste in seine Einzimmerwohnung, um ihnen seine sonderbaren Special-Effect-Shows vorzuführen – kleine Sternstunden des Unspektakulären. Ein paar Spielzeuge, ein bisschen Musik, und schon bringt er die Dinge zum Tanzen. Sie scheinen plötzlich, wie beseelt, ein Eigenleben zu führen.

Dabei tut Vourc'h alles so, als säße er bei sich zuhause im Wohnzimmer und nicht auf einer Theaterbühne. Es ist, als würde die Vierte Wand hier postdramatisch umgewendet und wieder vor die Bühne genagelt. Gerade der unerschütterliche Ernst und das Ignorieren des Publikums ist unweigerlich hochkomisch. Minutenlang sieht man Serge einfach beim Fernsehen zu. Er sitzt an seiner Tischtennis-Allzweckplatte, langt seelenruhig in die Chipstüte und bestellt Bringdienst-Pizza. Echtzeitvertreib – wir sehen der Zeit beim Vergehen zu.

Herrlich unterspannte Nicht-Show-Show

Solch herrlich unterspannte Nicht-Show-Shows liefert sonst höchstens die britische Gruppe Forced Entertainment, zuletzt in Spectacular, in der auf ähnliche Weise anderthalb Stunden lang eine nicht vorhandene Performance imaginiert und nebenbei ein ebenso langer Bühnentod aufgeführt wird. Auch bei "L'Effet de Serge", dreht sich alles um die Abwesenheit der titelgebenden Show-Effekte, die hier allerdings nicht herbeigeredet, sondern von Serge hingebungsvoll als scheiternde Spektakularitäten präsentiert werden.

Damit sind sie zum einen szenische Miniatur-Metaphern des Vivarium-Konzepts, das sich konventionellem Als-Ob-Theaterspiel verweigert und stattdessen eine Art Einfach-da-Sein-Spiel veranstaltet. Zum anderen sind sie aber auch, wenn man der paradoxerweise dennoch angebotenen (und anrührenden!) Fiktion folgt, die Experimente eines Einsamen, ein Anbasteln gegen den Alltag und das Allein-Sein. Doch Serges Schau-Geschenke bleiben unverstanden. Seine Gäste – dargestellt von Laien, denen wir beim Zuschauen zuschauen – klammern sich betreten ans Weinglas und verschwinden nach einem Höflichkeitskompliment ("interesting", "fascinating", "touching") schnellstmöglich wieder.

Der Abend ist also nicht nur Meta-Theater, das die Zuschauerposition auf der Bühne installiert, das Publikum im Saal hingegen links liegen lässt, sondern handelt auch von den hilflosen Beeindruckungsversuchen eines liebebedürftigen Menschen. So bleibt "L'Effet de Serge" vielfältig lesbar: als Theater über Theater wie über das Sinnstiftungsversprechen der Kunst, als Parodie auf den Kunstbetrieb sowie als traurig zarte Studie heutiger Vereinzelung.

Imaginierter Freizeitpark in Kunst-Schnee-Landschaft

Am Ende kündigt Serge die nächste Sonntags-Attraktion an: eine Show mit dem Titel La Mélancolie des Dragons, "Melancholie der Drachen"; er wird darin eine Perücke tragen – "but above all I will be invisible". Sagt's und lässt vor dem Fenster drei Perücken an Schnüren zur E-Gitarre hotten: unsichtbare Hardrocker. Die begegnen einem, allerdings auch ganzkörperlich sichtbar, dann tatsächlich in der nächsten Vivarium-Produktion wieder. Sie stecken mit ihrer kaputten Karre in einer Kunst-Schnee-Landschaft fest, trinken Dosenalk, betreiben Autoradio-Zapping und führen der Reparatur-Frau alsbald die Attraktionen ihres vorerst bloß imaginierten Freizeitparks vor. Und wieder findet dabei ziemlich viel hinreißende Dingbeseelung statt. Unter anderem richten sich da schwarze, Luft befüllte Riesenplastiksäcke sanft-bedrohlich auf. Wie Drachen.

Dass die letzte Minute des vorhergehenden Stücks zu Beginn der nächsten Performance wieder aufgenommen wird, ist nur eine der absonderlichen Spielregeln, die der 1970 geborene Philippe Quesne, von Haus aus Bildender Künstler und Bühnen-Ausstatter, für sein Theater gefunden hat. Hund Hermès beispielsweise muss, als improvisierender Echtheitsmarker, mit von der Partie sein, die Nebelmaschine angeworfen werden und ein berühmtes Gemälde – hier Dürers "Melancholia" – eine Rolle spielen. Außerdem lädt Vivarium Studio, gegründet 2003 und selbst eine bunt gemischte Gruppe aus Schauspielern, Bildhauern, Tänzern, Musikern, an den jeweiligen Tourneeorten oft Gäste ein, etwa für die Rollen der staunenden bis ratlosen Zuschauer. Die Gelegenheit, es ihnen gleich zu tun, zu staunen, zu schmunzeln über die Wunderlichkeiten der Vivarium-Welt, sollte man sich auf keinen Fall entgehen lassen.

In einer leicht veränderten Fassung zuerst erschienen am 28. April 2009 in der tageszeitung.

 

 

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