Kaiserreich der zerrissenen Seelen

von Caren Pfeil

Dresden, 3. Dezember 2009. Was ist das für eine Generation, die weder Hoffnung hat noch Träume? Was ist das für ein Peer Gynt, der nicht schillert, der keine Visionen hat außer dem stereotyp wiederholten Vorsatz, Kaiser werden zu wollen? Der so mutlos, verbittert und armselig ist wie die ganze jugendliche Clique, zu der er gehört und die ihn verachtet. Was ist aus ihm geworden, dem "nordischen Faust", der einmal wild war auf die Eroberung der Welt, und sei es auch nur um seiner selbst willen, der scheiterte, aber wenigstens mit einem Zugewinn an Erfahrung?

Hier ist er weder Abenteurer noch Träumer, sondern ein aggressives Großmaul, ein sexsüchtiger Hampelmann und ein weinerlicher Alter, ergänzt durch eine Männerriege, die sich vorwiegend in Strapsen und hohen Schuhen präsentiert. Sieht so der Mann des 21. Jahrhunderts aus? Auch wenn mir die Theatersprache stellenweise fremd und öde ist wie die Alltagskultur, aus der sie stammt – die Botschaften der Inszenierung sind weniger schwer zu entschlüsseln als hinzunehmen.

Sprachrohr der vergessenen Kinder
Nuran David Calis hat die Geschichte im Staatsschauspiel Dresden direkt ins Heute verlegt. Peer ist ein Ghettokind ohne kulturelle Identität. Einzige Heimat ist ihm die Mutter. Als sie stirbt, ist er endgültig entwurzelt, ein leeres Gefäß, aus dem nur noch Hass quillt. In einem Monolog, in dem jedes zweite Wort "ficken" heißt, macht er sich Luft, wird zum Sprachrohr der vergessenen Kinder am Rande der Gesellschaft, chancenlos und bereit zu zerstören, wofür sich nicht zu leben lohnt.

Es ist ein durchweg überzeugender Einfall von Calis, Peer Gynt mit drei Schauspielern zu besetzen: die Jugend, die Mitte, das Alter. Es geht ihm aber nicht um Entwicklung. Er behauptet vielmehr die Gleichzeitigkeit von Ende und Anfang, das Nebeneinander der verschiedenen Aspekte. Peers Möglichkeiten und Grenzen sind gleichermaßen präsent.

Christian Friedel ist ein trotziger, in seiner Verbitterung auch gerissener junger Peer, ein Ausgestoßener von Anfang an. Nur mit der Mutter kann er die Verpanzerung auflösen, leuchtet der Träumende durch und einer, der auch lieben kann. In der Welt, in die er geht, gibt es nur zwei Räume, zwei sich gefährlich aufeinander zu drehende quadratische Kästen, zwei Ich-Gefängnisse: Ein Tonstudio, in dem der junge Peer versucht, mit einem Rap seiner zerrissenen Seele Ausdruck zu verleihen. Der andere ist Kneipe, Bordell, Luxusvilla des erfolgreichen Geschäftsmannes, und schließlich das Irrenhaus, in dem Peer endlich Kaiser sein darf.

Gleichzeitigkeit von Suche und Scheitern
Tom Quaas brilliert als der nach allem, was Liebe vortäuscht, süchtige Großkotz, und treibt die Figur in Abgründe jämmerlichster Dekadenz. Albrecht Goette streift als alter Peer durch die Szenen seiner Jugend wie ein Wanderer durch verbranntes Land und findet erst in der Selbstverteidigung gegen eine wütende Jugend, die ihn fast zertrampelt, zu einem Lebenswillen, der ihn die Knopfgießerin um die Verlängerung seiner Frist anbetteln lässt.

Auch viele Mehrfachbesetzungen in einem mit elf Schauspielern vergleichsweise kleinen Ensemble unterstützen sinnvoll diese Gleichzeitigkeit des Suchens eines von Anbeginn Gescheiterten. Calis hat nicht nur den Text stark, aber dramaturgisch einleuchtend verkürzt, sondern in heutige Sprache übersetzt, was selten schön klingt, in der Vergröberung aber deutlich Zeitgeist transportiert. Überhaupt hat er die Figuren geerdet, sie auf den Grund kalter, dreckiger Realität gezerrt, ihnen damit aber auch den Mythos, das Geheimnis genommen.

Für die Trollwelt bedeutet das, sie herunterzurechnen auf eine alberne, sexistisch-karnevaleske Party, hier läuft die Inszenierung ins Leere. An anderer Stelle, etwa in der Darstellung der Clique um den jungen Peer, die so hilflos wie sehnsüchtig versucht, ihre innere Leere aufzufüllen, überzeugt das Konzept und zeichnet die Welt, aus der Peer sich herauskatapultieren will, so illusionslos wie sie von dieser Generation empfunden wird. Die sensible und zugleich schon von Vergeblichkeit geprägte Annäherung von Solvejg und Peer hält vorsichtig dagegen.

Euphorie von der Fanbank
Der dritte Raum freilich, der eröffnet wird, ist die leere Bühne mit einem hellen weiten Rundhorizont, vor dem Peer seiner sterbenden Mutter in einem furiosen Tanz mit dem Krankenbett die Welt zeigt, wie sie sein könnte.

Am Schluss bleibt dem alten Peer nur der Weg mit dem Knopfgießer, zurück bleiben die beiden anderen Selbste, eingesperrt in je einen Kasten. Als sie aufeinander zugehen, knistert Elektrizität. Black.

Ein eher verhaltener Schlussapplaus, durchsetzt mit Euphorie von der Fanbank und vereinzelten Buhs, als (reichlich spät) das Regieteam auftritt. Eine neue Generation hat sich nachdrücklich mit ihrer eigenen Theatersprache die Bühne erobert, und ein Teil des Stammpublikums wird vermutlich seine Plätze räumen, und ein neues, jüngeres wird nachrücken. Der Generationskonflikt hat sich sozusagen direkt von der Bühne in den Zuschauerraum fortgepflanzt. Dieser Tatsache wird man sich in Dresden stellen müssen.


Peer Gynt
von Henrik Ibsen in einer Bearbeitung von Nuran David Calis
Regie: Nuran David Calis, Bühne: Irina Schicketanz, Kostüme: Marysol del Castillo, Musik: Vivan Bhatti, Video: Karnik Gregorian, Geraldine Laprell. Mit: Christian Friedel, Tom Quaas, Albrecht Goette, Olivia Grigolli, Picco von Groote, Sascha Göpel, Svenja Wasser, Mathias Bleier, Joy Maria Bai, Mike Adler, Hannelore Koch. Musiker: Clemens Pötzsch, Lars Kutschke, DJ Thomas Heil / Studio 17.

www.staatsschauspiel-dresden.de

 

Mehr zur Arbeit von Nuran David Calis lesen Sie in den Kritiken zu seinen Inszenierungen von Romeo und Julia im April 2009 im Berliner Maxim Gorki Theater, Bruckners Krankheit der Jugend im Februar 2009 in Essen oder Einer von uns, einem Projekt mit HipHop-Studenten am Thalia Theater Hamburg. Andere Peer Gynt-Inszenierungen lieferten Jan Bosse oder Karin Beier.

 

Kritikenrundschau

Zwar habe Nuran Calis' Methode, "den Originaltext mit selbst geschriebenen Passagen zu ergänzen, schon mehrfach überzeugend funktioniert", weiß Valeria Heintges in der Sächsischen Zeitung (5.12.2009), doch bei "Peer Gynt" in Dresden versage das Verfahren: "Zum einen wehrt sich Ibsens literarischer Text mit Mehr- und Vieldeutigkeiten standhaft gegen Calis' Passagen, die im banalen Alltagssprech daherkommen. Mehr noch: Ibsen triumphiert, weil vor allem die Szenen in Originalsprache (...) berühren und nachdenklich machen. Zudem greift Calis so weit in den Text ein, dass Personenkonstellationen nicht mehr stimmen und es im dramaturgischen Gebälk zu knirschen beginnt." Der "flirrende, zeitlose Ibsen-Text" werde "endgültig aller Facetten beraubt, wenn Figuren wie der todbringende Passagier zu grölenden Jugendlichen mutieren oder ganz verschwinden wie der mysteriöse 'Krumme'". Dabei zeigten "Szenen wie die zwischen Mutter und Sohn mit Olivia Grigolli als Ase und Christian Friedel als Peer, wie Theater auf fast leerer Bühne tiefgehend und nachhaltig berühren kann".

Allein "die vielfache Verwendung von bösen F-Wörtern" reiche "wirklich nicht, um junge Menschen ins Theater zu locken und dort auch noch zu halten", vermutet Katja Solbrig in der Freien Presse (5.12.2009). In Dresden mühe sich "ein ambitioniertes Ensemble, Peers Abenteuer mit seinen Jugendfreunden, Geschäftspartnern, Trollen, Jungfrauen und Irrenhausbewohnern zu bebildern. Die Trolle sind dabei ähnlich schrille Transvestiten wie die Jungfrauen. Und auch in der Jugendclique geht es vor allem um die Frage, wer mit wem. Dieses Nachspielen bekannter Bilder (Strapse, Strass, Plateau-High Heels) lässt der Regisseur fast durchgehend mit Musik unterlegen. Kann man alles machen, keine Frage. Ist halt nur kein Aufreger mehr. Eher das Gegenteil." Man bleibe "seltsam unberührt von dem, was da auf der Bühne ausgestellt wird. Eine schrill-bunt-laute Oberfläche, die zwar nicht glatt und in ihren Rissen durchaus interessant ist, aber nicht mehr."

 

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