Die schwarze Wahrheit unterm gelben Sack

von Simone Kaempf

Hamburg, 4. Dezember 2009. Dimiter Gotscheff und Heiner Müller sind selbstredend eine besondere Verbindung. Ihre Beziehung reicht weit zurück bis in die späten 60er Jahre, und irgendwann hat Gotscheff das Bild in die Welt gesetzt, dass er Müllers Texte immer wieder in den Gedärmen rumoren fühlt. Wenn es nicht gleich ein Müllerstück ist, montiert Gotscheff eben Müllersätze in Stücke wie in Ben Jonsons "Volpone" oder Alfred Jarrys "Ubukoenig", um das Ausmaß der Macht-, Mord-, Geld- und Staatsverhältnisse mit wohlgewählten Zitaten zu bereichern.

Solche Anreicherung fehlt dem neuen Abend von Dimiter Goscheff, der Heiner Müllers Bearbeitung von Hölderlins "Ödipus" zur Gundlage hat, die nicht den König, sondern den Tyrann im Titel trägt – "Ödipus, Tyrann" – betonend, dass Ödipus durch Vatermord die Macht über Theben gewann. Es ist eine sehr gerade und blanke Inszenierung geworden, die ohne große Windungen und auch ohne eines jener opulent-bunten Bühnenbilder von Katrin Brack auskommt, die ja immer schon als eigene starke Setzung wirken.

Ein Fels in der Brandung
Im Gegenteil: der Bühnenraum im Thalia Theater ist nackt gemacht, offene Brandmauern und nur ganz hinten eine schwarze Fahrstuhltür, die auf und zu schnurrt, mal Ödipus, mal Jokaste oder den siebenköpfigen Chor ausspuckt – und mit ihnen viel Text. Die Macht der Sprache offenbart die wahre Identität von Ödipus; darauf setzt Gotscheff, wenn er über die Konfrontation von Ödipus mit Jokaste, mit Kreon, dem Diener und dem Chor den Weg bis zur Selbsterkenntnis erzählt.

Bernd Grawert ist ein kräftiger Ödipus, der anfangs über die Bühne robbt, im blauen Shirt auch optisch herausstechend. Ein Fels in der Brandung, wenn auch keiner, an dem die Worte ungehört abprallen. Schaurig klagend erzählt ihm der Chor vom Leid, das mit dem Ausbruch der Pest über Theben hereingebrochen ist. Eindringlich mahnt ihn der Seher Tiresias, dass kein Sterblicher je schändlicher sein werde. Laut beschuldigt ihn Kreon, der Mörder von Lajos zu sein, und dann taucht auch noch der Bote mit der Nachricht auf, dass der verstorbene Polybos nicht sein Vater war. Die Zeichen mehren sich, dass Ödipus mit Lajos seinen eigenen Vater erschlug.

Die Götter sind tot
In der dunkel-angespannten Atmosphäre ticken hörbar die Uhren. Auf einen Stuhl geklemmt, klopfen Grawerts eingenickte Füße anfangs immer wieder auf den Boden und imitieren so das Ticken: Ödipus' Zeit läuft, doch Mächtige, Götter, Höheres, das anrufbar wäre – sie sind bei Müller wie bei Gotscheff gestrichen. Ödipus kann sich nicht wehren.

Auch ein Wahrheitssucher ist er in dieser Inszenierung nicht, dazu nimmt die Wahrheit viel zu sehr von alleine ihren Lauf. Ob ihn nun Bibiana Beglau in starren Posen mal als Teiresias, mal als Kreon sprachmächtig mit den Prophezeiungen konfrontiert oder Karin Neuhäusers Jokaste ihn umtänzelt – man sieht einen, der immer nur soviel weiß, wie mit großen Worten just ans Licht kommt.

Worte ohne Raum, Sack ohne Inhalt
Bis zur Blendung zieht sich der zweistündige Abend allerdings in die Länge. Ausgiebig tritt der Chor auf, engagiert gespielt von sieben jungen Schauspielschülern der Hamburger Hochschule für Musik und Theater, als Gruppe gleichzeitig anklagend und angstvoll den Kopf einziehend. Neuhäusers Jokaste berichtet ganz schwarz in einer Trauerrede von ihrem eigenen Selbstmord, die Schilderung, wie die Schlafzimmertür einkrachte, wo man sie aufgehängt fand, fällt mit ihrem seltsamen Realismus dann allerdings auch wieder aus dem Rahmen.

Eleganter ist gelöst, wie der geblendete Ödipus mit über dem Kopf gezogenen Pulli über die Bühne kriecht; mehr ein Irregewordener als einer, der mit dem Verlust des Augenlichts Läuterung erfahren will. Den ganzen Abend über hängt man an den Lippen von Bernd Grawert, sich fragend, was dieser Ödipus weiß, und ihn genau beobachtend, wie er sich zu dem verhält, was er erfährt. Grawerts Präsenz tröstet allerdings nicht darüber hinweg, dass Gotscheffs Inszenierung trotz sichtbarer Mühe keinen großen Raum zu öffnen vermag. Schicksal, Schuld, Wahrheit – viele Worte fallen, aber darunter rumort es nicht. So wenig wie der riesengroße gelbe Sack, den Mark Lammert über der Bühne baumeln lässt, seinen Inhalt preiszugeben vermag.

 

Ödipus, Tyrann
von Sophokles, Übersetzung nach Hölderlin von Heiner Müller
Regie: Dimiter Gotscheff, Bühne: Mark Lammert, Dramaturgie: Beate Heine.
Mit: Bernd Grawert, Karin Neuhäuser, Bibiana Beglau, Patrycia Ziolkowska, Oda Thormeyer; Chor: Wolfgang Erkwoh, Julius Feldmeier, Julia Goldberg, Sebastian Klein, Jessica Ohl, Dennis Poertner, Felicia Spielberger.

www.thalia-theater.de

 

Mehr zu Dimiter Gotscheff im nachtkritik.de-Glossar.

 

Kritikenrundschau

"Unterhaltung wird nicht geboten, Konzentration verlangt." So fasst Ulrich Fischer auf Deutschlandradio Kultur (5.12.) bündig Dimiter Gotscheffs Inszenierung des "Ödipus, Tyrann" zusammen. Das Thalia Theater in Hamburg habe nun "eine anstrengende Inszenierung im Repertoire, großes, schweres, uraltes und gleichzeitig ganz aktuelles Theater." Bernd Grawert spiele die Titelfigur "mit starkem Körpereinsatz, abseits aller psychologischen Einfühlung, realistisch, im Sinn von epischem Theater." Der Mime mache deutlich, "dass Ödipus' Tragik in einem unaufhebbaren Widerspruch besteht: Um handeln zu können, muss Ödipus seine Situation zuvor zutreffend analysieren. Doch gerade das kann er nie – er irrt, ist in einem Verblendungszusammenhang befangen. Geht er aber davon aus, dass er nichts wissen kann, so vermag er nicht einzugreifen." Im gleichen Maß wie Ödipus' argen Weg der Erkenntnis betone Gotscheff in seiner Inszenierung "die Rätselhaftigkeit: Die Inszenierung ist deutlich von der Auseinandersetzung mit dem absurden Drama, mit Samuel Beckett geprägt."

Die "Ödipus"-Fassung Heiner Müllers betone "die Dumpfheit von Machthabern, die die Realität zugunsten von Wunschdenken ausblenden", schreibt Armgard Seegers im Hamburger Abendblatt (7.12.). Gotscheff liefere "eine sehr körperbetonte Inszenierung, einen wild ringenden Ödipus, eine tanzende Iokaste, einen vogelartig krächzenden Chor mit ausgreifenden Gesten der Verzweiflung." Regie und Bühne beschränkten sich "auf Kargheit und die physische Ausdruckskraft der Darsteller", doch alles in allem sei "zu viel Konzept zu sehen. Und zu wenig fürs Bauchgefühl."

Schon im ersten Auftritt Bernd Grawerts sei der ganze Schmerz des Ödipus zu sehen, meint Werner Theurich auf Spiegel online (5.12.): Von Beginn an sei damit klar, "dass diese Inszenierung in der richtigen Spur fährt." Dimiter Gotscheff verpasse der "Kriminalhandlung ein poetisch-musikalisches Gewand". Er lasse "seinen Hauptakteur Bernd Grawert in den Zeilen und Worten förmlich baden, seine Bewegungen umkreisen, liebkosen den Text beinahe, auch wenn er nichts versteht oder nur hilflos Wort für Wort seine ihm unbekannte, fluchbeladene Lebensgeschichte entdeckt." Der Chor werde gar "stellenweise zum Ballett, und durch diese gewaltige Bewegungsenergie macht die Inszenierung mühelos die karge Bühne wett. Die Handlung wird buchstäblich erspielt, keine Kulisse dämmt diesen Strudel ein." Auf diese Weise würden "dem archaischem Text große poetische und sinnliche Momente abgerungen".

Gotscheff behandle den Text zu "Ödipus" "als Partitur für einen Ritus, für einen meditativen Gedankengang", so Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (7.12.). "Magische Momente" bekomme so ein Ritus aber erst, "wenn die Spieler die starke Form nicht nur bedienen, sondern wenn ihre Präsenz die Form unterwirft, wenn die Spieler sie mit Wesen füllen." Bei den "älteren im Ensemble, dem wuchtigen Grawert und der ruhevollen Neuhäuser", sei dies immerhin der Fall. Doch ansonsten sei da nicht "viel mehr als arrangiertes Sprechen" auf der Bühne: "Eine Bebilderung findet nicht statt, stattdessen wird die Sprache auf geradezu mathematische Weise sortiert und gewichtet". Seidler gibt übrigens auch zwei Interpretationsangebote für das "gigantische gelben Gehänge", das Mark Lammert über der Bühne platziert hat: "Ist das die Birne der Ur-Gebärmutter? Oder ein Hode des Apollo? Die Hoffnung, dass das Ding am Ende sein Geheimnis preisgebend platzt und die Bühne in einer Konfettiwolke verschwinden lässt, erfüllt sich nicht."

Müller habe die Konflikte des Ödipus' "vor allem als politischen Machtkampf" gesehen, erläutert Matthias Heine in der Welt (8.12.). Erfreulicherweise sei die Hamburger Inszenierung dennoch "keine Parabel auf die gegenwärtige Politik geworden" (auch wenn die Griechen im "allgegenwärtigen Altkleider-Look" aussähen "wie eine Ortsgruppe von Attac oder die Grüne Jugend"). Stattdessen habe Gotscheff "erneut eine Wortoper im Sinne, bei der der Text durch oft ausgesprochen antinaturalistische Sprechweisen in seiner fremdartigen Schönheit zelebriert wird", was allerdings "immer mehr zu einer Masche" werde. Die Schauspieler verwandelten sich körperlich in Chiffren: Beglaus Tiresias "gebärdet sich wie die Vögel, aus denen er seine Prophezeiungen liest", und Ödipus tanze sich bei der Laios-Mord-Schilderung "in eine Art Trance hinein wie ein gewalttätiger Derwisch". "Aus dem von Sex und Crime strotzenden Drama" werde jedoch von Gotscheff "jede Sinnlichkeit herausgepresst". Allein Neuhäuser gestehe er "ein bisschen Weiblichkeit zu". Das "Wortoratorium" funktioniere "nur selten, weil man oft, ganz banal, zu wenig versteht". Dem hohen Anspruch der Müller-Übersetzung sei "die Sprechkultur der Darsteller nicht immer gewachsen", "rühmlichen Ausnahme": Patrycia Ziolkowska.

Der Abend kommt für Frauke Hartmann von der Frankfurter Rundschau (8.12.) "hochgradig artifiziell" daher. "Wort für Wort würgen und stoßen die Schauspieler hervor, legen auf jedes gleiches Gewicht, als ob sie nicht glauben könnten, was sie sagen." Wie immer werde die Sprache bei Gotscheff "zu einem Manierismus, der in einem leeren Raum nach Beachtung schreit und doch ein unbegreifliches Zeichensystem bleibt". Wiederum sehe man hier "sehr schön, wie Text zum Vehikel für etwas Körperliches, Anstrengendes und manchmal Nerviges wird". Nicht allen Schauspielern gelinge es, meint auch Hartmann, "hinter dem starren Sprechduktus, den ihnen die Regie in treuem Glauben an Brecht und das antike Theater verordnet, eine universelle Haltung zu entwickeln". Grawert als Ödipus sei "allerdings überragend" und spiele den Tyrannen "als Gezeichneten, durch die Verletzung seiner Füße von Geburt an Behinderten. Als einen, der nach Befreiung hungert und darum eine wundersame, wütende Kraft entfesseln kann". Jeder seiner Gesten wohne "die Angst vor der Wahrheit inne". Grawert halte dabei "genau die Waage zwischen dem Gefühl für seine Figur und Realismus, Kitsch". Auch Beglau zeige "eine mitreißende physische Präsenz, die über den Minimalismus der Worte hinaus wächst".

In der Frankfurter Allgemeinen (9.12.) schreibt Irene Bazinger: "Mit dem Mut der Verzweiflung und der Kraft des Triumphators in eigener Sache" zeige der "großartige" Bernd Grawert, wie "dem 'Schwellfuß' genannten Unglücksgriechen jeder Schritt weh tun muss. Stöhnend und brüllend tritt er mit den Zehen des einen Fußes gegen die Ferse des anderen und treibt sich Zentimeter um Zentimeter vorwärts." Schuld, Ödipus-Komplex oder Wahrheits-Zumutbarkeit interessierten Gotscheff in dieser "kühlen, klaren, spielend schönen Inszenierung" kaum. "Weder Argumente noch Reflexionen bestimmen den Ablauf dieser intensiven, formal nachdrücklichen Aufführung, sondern eine streng narrative Choreographie", die das "vorzügliche, in jeweils mehreren Rollen eingesetzte Ensemble die alte Tragödie auf eine sehr physische und heutige Weise erzählen" lasse. "Die Realität der Körper" bringe Geschehen und Hintergründe "auf sinnlich-direkte Weise zum Ausdruck". "Trefflich einstudiert, dabei nicht immer textverständlich betont Gotscheff eher die Sprachemphase und den Gestus des Sprechens als den Gehalt der Worte." Jeder hier zeige "makellose nackte Füße, nur Ödipus versteckt seine in abgewetzten Schuhen". Fazit: eine "hellsichtig distanzierte wie anrührende Inszenierung".

"Retardiert von zehn Jahren glücklicher Herrschaft in Theben, kullert der König mit debilem Gesichtsausdruck und brabbelnden Geräuschen über den Fußboden", veranschaulicht Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (9.12.). Dann erlebe Ödipus die "Demontage seines Egos". Dabei spiele Gotscheff "mit der Gruppensymbolik von dem Einen, den Wenigen und den Vielen, um ein System darzustellen, dessen Konflikte durch Selbstgefälligkeit und Anmaßung eskalieren". Das Ganze sei eigentlich "ein politisches Planspiel", an dessen Ende vor allem die Einsicht stehe, "dass eine Herrschaft, die Rücksicht weder mit sich noch mit anderen kennt, wohl doch eher eine Diktatur ist". "Aber so klar wie in Zeiten sozialistischer Führerstaaten will Gotscheff die Lehre heute nicht mehr formuliert haben", weshalb es in dieser Inszenierung z.B. "fast keine Sympathieträger" gebe, sondern "eher Positionen in ihrem Verhältnis zur Herrschaft". "Mit expressiven Choreographien bannt Gotscheff immer wieder die Gefahr zu großer Einfühlung." Die Wahrheit trage Grawert "mit den lächerlichen Posen eines Balkan-Machos, dem der Krieg gerade verloren geht". In "vielen Wendungen und Spielarten" versuche Gotscheff der "Eindeutigkeit einer Interpretation zu entkommen", was das Stück einerseits "vor simpler Indienstnahme als hämische Herrschaftskritik" bewahre, andererseits viele "Symbole so in der Luft hängen" blieben. Da aber Fragen eben jenes Mittel sind, an dem "die Selbstüberschätzung zerbricht", könnte dieser "Ödipus" "vielleicht doch ein gelungenes Beispiel für eine moderne moralische Veranstaltung zur Machtfrage sein".

 

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