Der böse Mensch von Yokohama?

von Reinhard Kriechbaum

Linz, 5. Dezember 2009. "Erwarten Sie keine Worte aus meinem Mund, ich habe nur Zähne darin", wird Shlink einmal sagen - jener aus Yokohama stammende "Mann mit der anderen Haut", der diese seine Haut viele Szenen vorher als zu dünn für diese Welt beschrieben hat. Muss man sich also in der "Großstadt Chicago", wo das Verhängnis 1912 seinen Anfang nimmt, tatsächlich frühzeitig eine dicke Haut wachsen lassen?

Hier der geheimnisvoll-emotionslose Holzhändler Shlink, dort der Leihbücherei-Angestellte George Garga: Freiheitsliebend bis zum Fanatismus, einer, der nicht zum Duckmäusertum geschaffen ist, berstend vor Zorn und Aufbegehren. Ein Idealist oder ein unguter Dauerquerulant? Wahrscheinlich hat der die dicke Haut eh schon.

Nun sind Shlink und er also in Clinch geraten. Ein Buch wollte Shlink haben, irgendeins. Und Gargas Meinung dazu wissen. Aber die enthält der präpotente junge Mann dem Kunden vor. Es geht schnell ins Grundsätzliche: Shlink durchschaut, dass er einen armen Schlucker vor sich hat, der eine ganze Familie durchbringen muss. "Nur sie verdienen, und Sie leisten sich Ansichten?" Man müsse wissen, doziert Shlink, was besser ist: "Ein Pfund Fisch oder eine Ansicht."

Didaktiker in der Seele

Aus dem Streit wird unerbittliche Feindschaft auf Lebenszeit, "Der Kampf zweier Männer in der Riesenstadt Chicago" - so der Untertitel des nicht so oft aufgeführten Stücks von Brecht. Eine Art Boxkampf in zehn Szenen. Einfach so, um des Kräftemessens Willen. Shlink hat Kontakte zur Unterwelt, und diese Leute sorgen dafür, dass Gargas Schwester und seine Verlobte auf dem Strich landen. Shlink ist keiner, der auf schnellen Sieg aus ist: Er überlässt Garga seine Holzhandlung (die dieser prompt für krumme Geschäfte nutzt und ruiniert). Und Shlink selbst zahlt für Gargas Familie, wie um das Ende des ihm scheinbar hoffnungslos Unterlegenen hinauszuzögern. Und doch wird Shlink selbst derjenige sein, der am Ende nur zweiter Sieger ist und Gift nimmt.

Wer ist gut, wer ist böse, auf wen sollen wir unsere Sympathien richten? Bertolt Brecht ist damals, im Winter 1921/22, der Wind des Expressionismus heftig um die Ohren gepfiffen. Und doch war er auch damals schon in seiner Seele Didaktiker. Hier: die didaktische Aufbereitung des Unbestimmten, des Irrationalen. Der Boxkampf als Rohheit um ihrer selbst Willen. "Im Dickicht der Städte" ist eines seiner sperrigsten Stücke.

Underdog-Barock

Matthias Langhoff hat diesen Boxkampf üppig aufgefaltet. Dreidreiviertel Stunden muss man sich Zeit nehmen dafür, weil in den Stücktext noch eine ganze Reihe von Gedichten "Aus einem Lesebuch für Städtebewohner" eingefügt sind, mehrheitlich als Songs mit den österreichischen Alternativ-, Avantgarde- und Kreativ-Punkrockern Fuckhead.

Catherine Rankl hat eine Art Eisenbahnwaggon ohne Räder auf die Bühne gestellt mit unzähligen Möglichkeiten - dieses windig zusammen gezimmerte Gebäude kann Boxarena und Armeleute-Notquartier sein, chinesisches Hotel ebenso wie Büro der Holzhandlung. Ein feines Gitter ist vor dem Bühnenraum, da gibt es Projektionen aus dem Chicago der Zeit. Jede kleinste Fläche der Bühne ist angeräumt mit schäbigem Zeug, und alles ist geradezu perfekt auf Underdog-Leben getrimmt: Es tut nicht ein einzelner Flicken am Gewand, nicht nur ein zerrissener Rock. Die hurenden Frauen schauen immer perfekt frisch verprügelt und krankenhausreif aus.

Mit prächtiger Lust fabulierter Underdog-Barock aus dem Chicago der Zehnerjahre. Matthias Langhoff lässt die Sache detailverliebt ablaufen, als ob er für den Film arbeite. Das macht Bühneneffekt. Doch der Regisseur lässt ein persönliches Statement vermissen, hält gleichen Abstand zu den Protagonisten dieses Boxkampfes (echte Linzer Faust-Sportler sind natürlich auch aufgeboten).

Stark singt der Sänger, dafür fehlt Selbstironie

Stefan Matousch ist der mandarin-maskenhaft geschminkte Shlink: leise, gebückt, wie um wahre Größe, wahre Kraft zu verbergen. Gegen Ende, wenn sich die Dinge gegen ihn richten, schreit er hemmungslos. Dagegen der schlaksige Konstantin Bühler, immer ein wenig zu vor-laut, zu berserkerhaft. Die große Schauspielkunst ist in Linz eben nicht daheim, und man ertappt sich öfters bei dem Gedanken, wie Matthias Langhoffs Inszenierung wohl ausginge mit Hauptdarstellern, die sich nicht unterkriegen ließen vom Lokalkolorit und sich auch im turbulenten Bühnengeschehen zurück nähmen.

Das musikalische Environment gibt viel her, und der "Fuckhead"-Sänger Didi Bruckmayr wirkt überzeugender als manche Darsteller. In die Pause wird man mit der "Plattkopf"-Publikumsbeschimpfung entlassen, und die tönt dann auch im Foyer aus ein paar Lautsprechern: "Der Brecht sagt’s ja auch, dass sie ein P sind." Solche Selbstironie fehlt der Linzer Produktion, die ins Kulturstadtjahr-Programm eingebunden ist, über weite Strecken.

Könnte uns das Stück über Egomanentum und Vereinsamung, über Entfremdung und Beziehungsverlust auch im Heute etwas erzählen? Ein Defizit muss der Regisseur gespürt haben. So entlässt er uns mit ein paar Weihnachtsmännern und Projektionen aus der beleuchteten Linzer Fußgängerzone im Weihnachtsschmuck zu später Abendstunde dorthin, wo man gegen halb zwölf die Gehsteige hochgeklappt hat. Linz ist vielleicht doch nicht Chicago. Wahrscheinlich gibt es hier keinen Shlink und keinen Garga. Aber Türken an ihren Dönerständen, wo man sogar noch was kriegt nach dem langen Abend in den Kammerspielen. Wie heißt es doch so schön gegen Ende des Stücks: "Es ist nicht wichtig, wer der Stärkere ist, sondern wer der Lebendigere ist."

 

Im Dickicht der Städte
von Bertolt Brecht
Regie: Matthias Langhoff, Bühne und Kostüme: Catherine Rankl, Musik: Fuckhead.
Mit: Stefan Matousch, Konstantin Bühler, Sven-Christian Habich, Melita Jurisic, Wanda Worch, Julia Ribbeck, Thomas Kasten, Peter Pertusini, Vasilij Sotke, Sebastian Hufschmidt, Gerhard Brössner.

www.landestheater-linz.at

 

 

Selten wird es gespielt, dieses schwierige frühe Brecht-Stück Im Dickicht der Städte. Auf nachtkritik.de wurden drei weitere Aufführungen des Boxkampfes in der Riesenstadt Chicago besprochen: Hasko Webers Stuttgarter Inszenierung des Stücks im Juni 2007, Tina Laniks Münchner Version im November 2008 und Claudia Bauers Wuppertaler "Dickicht" im Oktober 2009.

 

Kritikenrundschau

Unglaublich sei, was Brecht 1921 mit "Im Dickicht der Städte" zu Papier gebracht habe, schreibt Silvia Nagl in den Oberösterreichischen Nachrichten (7.12.2009): "in einer analytisch klugen, wundersam poetischen und grausam klaren Sprache". Matthias Langhoff nehme am Landestheater Linz "das wortreiche Stück so wie es ist, ohne Textstriche und krampfhafte aktuelle Anspielungen." Das Bühnenbild sei "sensationell": "Ein Waggon auf der in Bewegung gehaltenen Drehbühne: trickreich entworfen, detailreich gebaut, üppig bemalt und rundherum mit vielen Utensilien der jeweiligen Spielsituation bestückt – alles da zur Animation von Aug' und Hirn." Und dann die Darsteller: "Stefan Matousch großartig als Shlink: ein undurchschaubar Geheimnisvoller, ein Gesicht wie aus Wachs, die Bewegung schleichend bis bedrohlich. Überzeugend Konstantin Bühler als George Garga, ein Erniedrigter und Beleidigter, impulsiv bis aggressiv." Somit also ein "großteils beeindruckendes, dreieinhalb Stunden dauerndes Theatererlebnis in präziser Umsetzung".

Birgit Thek vom Neuen Volksblatt (7.12.2009) überliefert dankenswerterweise ein paar Zuschauerstimmen zu Langhoffs Inszenierung: "Anstrengend", "konventionell und langweilig", "kein einziges Mal auf die Uhr geschaut" und "modellhafte Brecht-Interpretation". Thek selbst sah eine "überraschend naturalistische Inszenierung". Wer sich von den Musikern Bruckmayr und seinem "Fuckhead"- Partner Siegmar Aigner "brachiale Klänge und eine aufregend neue Deutung durch Langhoff erwarte" habe, "sah sich enttäuscht oder aber beruhigt. So konzentriert sich das Interesse des Zusehers trotz der auch heute aktuellen Brecht'schen Themen Klassenkampf, Prekarisierung und Vereinsamung in der modernen Großstadt auf das überzeugende Spiel der Darsteller. Konstantin Bühlers Garga glaubt man die Empörung des unschuldig Herausgeforderten und seine Rachegelüste, Stefan Matousch den Machtmenschen und den sich selbst erniedrigenden Shlink."

 

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