Einübung in Empathie

von Anne Peter

Berlin, 6. Dezember 2009. So richtig schönes Nikolaus-Advents-Theater. Man hätte der alten Dame, der ihr Allein-Sein schon manchmal zu schaffen macht, eine Kerze anzünden wollen. Man hätte mit ihr singen mögen, denn an die Weihnachtslieder hätte sie sich vermutlich trotz Alzheimer erinnert. "Glaube Liebe Hoffnung" ist ein herzwärmender und entsprechend lang beklatschter Abend in der Box des Deutschen Theaters – der mit dem Ersten Brief des Paulus an die Korinther, von dessen berühmtem Dreiwort-Gespann er auszugehen vorgibt, nur peripher zu tun hat.

Untertitelt ist das Projekt von Frank Abt, der die Texte für seine Inszenierungen auch sonst bevorzugt aus Interview-Material zusammenbastelt, wahrheitsgetreu mit "Geschichten von hier". Die biblischen Worte dienen lediglich als grobe Überschriften und assoziatives Sprungbrett für die drei Szenen, die allesamt von Natali Seelig und Alexander Khuon bestritten werden. Dabei wird auch keine erkenntnisstiftende Breitenanalyse oder Themenumzingelung vorgenommen, sondern eher eine sich ums unspektakuläre Einzelschicksal kümmernde Tiefenbohrung.

Eine Liebe auf dünnem Eis

Zuerst erzählt der Urenkel eines polnischen Juden, wie er, nachdem er katholisch aufgewachsen ist, erst zum liberalen und dann zum orthodoxen Judentum übergetreten ist – Stichwort "Glaube". Dann erzählt ein Pärchen, wie man sich über eine Partnerbörse im Internet kennengelernt, beim ersten Treffen beschnuppert und dann recht bald die Wohnung geteilt hat – Stichwort "Liebe". Und im dritten Teil begegnen wir jener Alzheimer-kranken Dame, die schon lange Witwe ist, eine Tochter an den Krebs verloren hat und sich trotz ihrer Einsamkeit nicht allzu sehr beklagen will – Stichwort "Hoffnung".

Das alles spielt sich im drehbaren Einheitsbühnenbild ab, von dem man mal die Innenseite (ein Oma-haft eingerichtetes Wohnzimmer) und mal die Außenseite (die simple Holzplattenoberfläche dieses Aufbaus) zu sehen bekommt. Zumindest Teil II und III stellen die Begriffe, von denen sie ausgehen, allerdings eher in Frage, als dass sie sie heutig sinnstiftend ausfüllten. Die hier erzählte "Liebe" laviert – das lassen vor allem die feinen Unterschiede in Erzählung und Erinnerung der beiden Turtelnden durchblicken – (noch?) auf ziemlich dünnem Eis. Dass die ältere Frau, die bei Vergangenheits-Wiederhochholung zwar aufzublühen, aber kaum zu sagen vermag, was ihr jetzt in der Gegenwart Freude macht, überhaupt noch auf irgendetwas Zukünftiges hofft, außer irgendwie klar zu kommen, muss bezweifelt werden.

Ein kleiner, feiner Schauspielerabend

Sind die einzelnen Geschichten schon mit ihrem Ausgangspunkt nur lose verknüpft, sind sie auch untereinander wohl eher zufällig zueinander geraten. Sie alle richten jedoch die Aufmerksamkeit auf den Alltag, die Probleme und Befindlichkeiten von Menschen, denen man sonst selten seine Aufmerksamkeit schenkt. Hier im Theater wird dieses Kleine nun groß gemacht. Nicht nur, weil man ihm gute 80 Minuten lang zuhört, sondern auch, weil die Texte der (von dem Journalisten Dirk Schneider) Interviewten – im Unterschied zu anderen Formen des Dokumentartheaters – nicht von den Laien selbst, sondern von Schauspielern gespielt werden.

Und das ist dieser Abend vor allem: ein kleiner, feiner Schauspielerabend, der zwar dramaturgisch denkbar locker gestrickt ist, aber durch die liebenswerte, nuancierte Anverwandlung, mit der Seelig und Khuon sich ihren Figuren nähern, intensiv gelingt. Dass sie und nicht etwa die Laien selbst die realitätsnah aufgeschriebenen Texte sprechen – inklusive der grammatikalischen Unreinheiten, Satzabbrüche, Füllsel -, verschafft diesen einen Tick von Künstlichkeit. Und macht die Zuschauer letztlich unbefangener gegenüber den Figuren, die mit leichter Ironie beobachtet werden – allerdings so wohldosiert, dass man die dabei hervortretenden menschlichen Schwächen nicht allzu weit von sich entfernt wähnt.

Leere Flecken an der Blumentapete

Es kann und darf hier also auch über die Figuren gelacht werden, oder zumindest gelächelt. So wenn Khuon seinem Falk, der einen Hälfte des ziemlich penetrant aneinander herumhängenden Parship.de-Pärchens, stets ein leicht zu groß geratenes Grinsen aufsetzt. Oder wenn er sacht die Augen verdrehend von seiner ersten Chat-Bekanntschaft schwärmt, mit der es allerdings nur schriftlich heiß herging. Seit dem Absturz mit ihr habe er jedoch begriffen, "wie wichtig ein Mensch ist". Weshalb er es wohl auch mit seiner neuen Bekanntschaft trotz einiger Macken – unaufhörliches Bauchtätscheln, Gickerigkeit, Ausplappern von Dingen, die er sichtlich lieber verschwiegen hätte – ganz gut aushält.

Manchmal ergeben sich zaghafte Kommentierungen zwischen Erzähltem und Spiel. Ihr Mann sei mit 68 an Krebs gestorben, lässt uns Seeligs Witwe wissen – und zieht danach seelenruhig an ihrer Zigarette. Khuon übernimmt in dieser letzten Nummer mal den Part des Interviewpartners, mal den des sanft sich in ihr Gedächtnis einbringenden Verflossenen und räumt der Einsamen am Ende auch noch alle Möbel aus der Bude, so dass sie verwirrt über die leeren Flecken an ihrer verrauchten Blumentapetenwand tastet, wo früher mal die Familienbilder hingen. Traurig, berührend. Nicht mehr und nicht weniger als eine kleine Einübung in Empathie, pünktlich zur Weihnachtszeit.

 

Glaube Liebe Hoffnung – Geschichten von hier
Regie: Frank Abt, Bühne: Anne Ehrlich, Kostüme: Katharina Kownatzki, Dramaturgie: Meike Schmitz, Interviews: Dirk Schneider.
Mit: Alexander Khuon, Natali Seelig

www.deutschestheater.de


Vor exakt einem Jahr inszenierte Frank Abt in Bochum ein Recherche-Projekt zur Nokia-Werksschließung in Bochum Connecting People. Im Juni 2009 brachte er in München Dürrenmatts Der Besuch der alten Dame heraus.


Kritikenrundschau

"Verklärende, prüfende, sehnsüchtige, ängstliche" Rückblicke aufs eigene Leben suche Frank Abts Theaterprojekt "Glaube Liebe Hoffnung", schreibt Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (8.12.). Alexander Khuons Konvertit sehe man die Angst "vor seiner inneren Schwäche" und den "Wunsch nach einer festen, überschaubaren Welt" an. Dies sei "der erste von drei kommentarlosen Lebensberichten des kurzen Erzähltheaterabends, hinter dem ganz reale Personen und ihre Biografien stehen, die Dirk Schneider im Auftrage Frank Abts fand und dokumentierte". Erst in den "konzentrierten, feinnervigen Stimmen und Gesichtern" jedoch, die Khuon und Natali Seelig "ihnen leihen, bekommen diese höchst simplen, ja naiven Lebensfragmente einen gewissen Resonanzraum". Bei Abt fehle jedoch der Aneignungsprozess, den etwa die Alvis-Hermanis-Spieler in den "Lettischen Geschichten" durchmachten, indem sie das Leben ihrer Figuren-Vorlagen selbst erforschten – was zwar die Schauspieler bei Abt "ungezwungener spielen, aber die fremden Texte doch papieren erscheinen lässt". Das alles ergibt "subtile Schauspielerportraits", die "Eindimensionalität der Vorlagen" werde "auch durch noch so gute Schauspieler nicht komplexer".

Andreas Schäfer
hält die Interviews im Tagesspiegel (8.12.) hingegen für "bewegenden Zeugnisse". Seelig und vor allem Khuon brillierten "in einem bewegenden Triptychon zur Fragilität des Lebens". Die Seitenflügel bildeten dabei zwei Berichte, "in denen auf die Zumutungen des Alltags mit Religion und Glauben reagiert wird": Wenn Khuon vom Konvertierungs-Prozess berichtet, würden "die Gefühle bis in die Trostabstufungen und Angstschattierungen hinein sichtbar". Einen eher "diffusen Gottesglauben" habe sich hingegen "die ältere Dame bewahrt, die einsam in ihrer Wohnung sitzt und von Erinnerungen (...) eingeholt wird". Die zwischenmenschliche Liebe stehe schließlich "im Zentrum der Inszenierung". So erzählen Khuon und Seelig im Mittelteil von einer "Paarwerdung", sie "mit forscher Lustigkeit", er "mit dem Machozähneblecken des Eingeschüchterten. Hinreißend, wie der Versuch der Legendenbildung immer neue Abgründe und Unstimmigkeiten offenbart. Rührend, wie die beiden mit Ernst und Leichtigkeit die Anstrengung einfangen, die mit der Arbeit am Glück meist verbunden ist."

Einen "kleinen, berührenden Theaterabend" hat auch Peter Hans Göpfert von der Berliner Morgenpost (8.12.) erlebt. Die drei Geschichten wirken auf ihn authentisch, drei christliche Tugenden gäben die "lockere Klammer" ab, "ein biblisches Schlagwort für jede Geschichte", für die "verschlungenen Lebensläufe". Das sei "unverfälschte, unsentimentale Poesie des Alltags, der man sich nicht entziehen kann".

 

Kommentare  
Abts Geschichten in Berlin: scheiß Neu-Biedermeier
beschauliches rührstück, das existentielles in befindlichkeitsnabelschauen zu erfassen sucht, putzig und schlichtweg ein intellektueller offenbarungseid. durchschnitt, erzählt vom durchschnitt, ohne sich zu bequemen, etwas essentielles hinzuzufügen und ohne den kleinsten hauch von meta-blick auf die dinge. unbegreiflich, dass da einer auf die idee kommt, das thema liebe anhand von selbstzeugnissen eines internetchat-pärchens, das flott zusammenzieht, illustrieren zu können, ohne dieses irgendwie zu hinterfragen. hat das alles überhaupt irgendetwas mit liebe zu tun, oder vielleicht vielmehr mit einsamkeit? da war ja erich fromm in den fünfzigern schon lichtjahre weiter. scheiß neo-biedermeier, in diesen tagen, überkommt es mich dabei. alles ist ganz nah und vertraut und kommt in angetäuschter sicher-ist-sicher-dialektik im gewand wohltemperierter feiner ironie doch auch mit ganz viel mitgefühl daher. langweilige innenarchitektur. regiebetriebsnachwuchs-bürgerbübchen-gedrechsel anno 09. keine haltung, keine erkenntnis, ein großes dokumentarisch kaschiertes nichts.
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