Leerstunde

von Hartmut Krug

Berlin, 7. Dezember 2009. "Matsch" ist das erste Wort, und dann geht es weiter, mit "fick" und "fettig", mit "Fotze" und "Scheiße". Der auftrumpfende Jargon, mit dem sich die Jugendlichen in der fast 30 Jahre alten Schaubühnenfassung von Nigel Williams "Klassen Feind" mehr bekämpfen als verständigen, ist von gestern und wirkt auch so. Diese Sprache ist ein theatrales Beeindruckungsinstrument und ein realistisches Kunstprodukt, wie die sogenannte Kiezsprache, über die heute in den Medien viel gesprochen wird.

Sechs Schüler sind im Stück "total gestresst": Sie blasen sich auf, weil sie hilflos sind. Keine Hoffnung nirgends, keine Zukunft irgendwo, kein Sinn des Lebens. Also haben Sie gerade den letzten Lehrer fertig gemacht und vertrieben, und nun warten sie in ihrem demolierten Schulzimmer voller Hass. Auf irgendwas, einen neuen Lehrer oder einen Hinweis auf einen Sinn des Lebens. Beides bekommen sie nicht, und so wenden sie ihre Aggressivität und Hilflosigkeit, die sie gegen die Außenwelt empfinden, gegeneinander – sie nerven, sie prügeln sich und verlieren sich in Machtkämpfen.

Hilflos, nicht sprachlos – aber bloß aufgesagt
Die Schüler in Nigel Williams' Stück sind zwar hilflos, aber alles andere als sprachlos. Ihre Sprache ist ihr virtuos obszönes, gewalttätiges Kampfmittel und soll ein Lebensgefühl vermitteln. Das englische Original spielte im Londoner Elendsviertel Brixton, Peter Stein und Jürgen Kruse holten es 1981 ins berlinernde Kreuzberg, während die neue Inszenierung von Wulf Twiehaus trotz ihrer Aktualisierungen im ort- und zeitlosen Theaterraum verhallt.

Wenn heute wieder die Stücke der achtziger Jahre wie Williams' "Klassen Feind" oder Edward Bonds (noch älteres) "Gerettet" auf die Bühnen gelangen, dann sollten die gesellschaftlichen Radikalisierungen und Verhärtungen mitgedacht werden (nicht nur wegen der Amokläufe). Doch gerade das tut die neue Fassung der Schaubühne leider nicht. Williams' Text behauptet Authentizität und besitzt in all seinem Naturalismus doch vor allem viel Künstlichkeit. Peter Steins virtuose Inszenierung machte 1981 daraus mit tollen jungen Schauspielern (wie Udo Samel und Ernst Stötzner) eine faszinierende Realismusshow.

Ganz anders bei Wulf Twiehaus. Hier wird erzählt, das heißt: brav aufgesagt. Statt sechs gibt es hier nur fünf Schüler, und ein Lehrer tritt nicht mehr auf, sondern kommt nur noch in der Phantasie der Schüler vor. Die nicht mehr Jungen, sondern Mädchen sind – Studentinnen von der Schauspielschule Ernst Busch. Warum es Mädchen sind, die jetzt Williams' Jungentexte sprechen, wird in keinem Moment deutlich. Auch, weil sie ihnen schwer im Munde liegen, weshalb hypermotorisch gestikuliert wird. Dabei lungern die Darstellerinnen im Studio der Schaubühne auf einer engen, offenen Bühne in einem mit Überwachungskameras ausgestatteten neutralen Raum herum. Er wirkt wie ein offener Boxring, ohne ein praktischer Spiel- oder ästhetischer Bedeutungsraum zu sein. Die Darstellerinnen wirken, als fühlten sie sich unsicher, auf dieser Bühne, als Figuren im Stück und als Schauspielerinnen.

Ohne Spannung, Präsenz, Körper
Die wie brave Mittelschichtskinder daher kommenden Schauspielstudentinnen, die mal echt auf heftig machen müssen, sprechen in der immer gleichen Diktion und Lautstärke. Aufgesagt eben. Und was sie fühlen sollen, geht ihnen nicht in die Körper und wieder hinaus ins Spiel. Das Verhältnis der Schauspielerinnen zu ihren Texten ist keines. Was wir sehen, ist ein spannungs-, präsenz- und körperloses Präsentiertheater. Wie hier Prügeleien (nicht) inszeniert sind, als habe es nie Überlegungen über Realismus auf der Bühne gegeben – man denke nur an das breite Spektrum, das von Jürgen Gosch über Rimini Protokoll bis hin zu Volker Lösch aufgerissen wird –, ist grotesk und lächerlich.

Den Studentinnen, deren Fähigkeiten man weder recht noch gerecht beurteilen kann, weil sie mit ihrer Handwerklichkeit vom Regisseur völlig im Stich gelassen werden, kann man keinen Vorwurf machen. In den Szenen, in denen jeder der wartenden Schüler selber eine Unterrichtsstunde vor den anderen gibt, suchen sie sich in eine leichte emotionale Innerlichkeit oder eine überdeutliche Veräußerlichung zu retten. Doch dadurch wird das Klischeehafte der Szenen, in denen Ausländerfeindlichkeit herausgerotzt, aber auch Sehnsucht nach Nähe und nach heiler Familienwelt beschworen werden, unfreiwillig überbetont.

In dieser Inszenierung wirkt nichts echt oder künstlich, sondern alles nur verkrampft und hohl. Hier ist weder Realismus noch Künstlichkeit zu sehen, hier erkennt man weder ein Ausstellen des Textes noch eine Distanz oder eine körperliche Versinnlichung der Texte. Was man erlebt, ist allein inszenatorische Hilflosigkeit. Ein Trauerspiel, dieser Abend.

Klassen Feind
von Nigel Williams
Bearbeitet von Jürgen Kruse und Peter Stein unter Benutzung der Übersetzung von Astrid Windorf und August Zirner
Regie: Wulf Twiehaus, Bühne: Katrin Hieronimus, Kostüme: Katharina Beth, Dramaturgie: Friederike Heller.
Mit: Bettina Burchard, Mara Widmann, Nina Horváth, Lena Vogt, Ellen Günther.

www.schaubuehne.de

 

Mehr lesen über Frauen in Böse-Jungs-Rollen? Armin Petras inszenierte Clemens Meyers Roman Als wir träumten in Leipzig (April 2008) ebenfalls mit weiblicher Besetzung.

 

Kritikenrundschau

Im Berliner Tagesspiegel (9.12.) schreibt Christine Wahl: Die "Erblast" für Regisseur Wulf Twiehaus sei nach Peter Steins/Jürgen Kruses Schaubühnen-Inszenierung von 1981 "gewaltig, zumal das Stück nicht jünger geworden ist". Also setze Twiehaus "alles daran, jedweden Remake-Verdacht zu entkräften. Seine deutlichste Maßnahme: Statt der Kreuzberger Problemjungs hocken hier fünf kleidungstechnisch keinem Milieu zuzuordnende Studentinnen der Hochschule für Schauspiel 'Ernst Busch' in einem fast leeren Raum". Die zurzeit angesagte "Crossgender-Besetzung" sei zwar "selten von Mehrwert", erweise sich hier allerdings "als Pluspunkt; wenn auch weniger konzeptionell als darstellerisch", denn den Studentinnen Bettina Burchard, Ellen Günther, Nina Horváth, Lena Voigt und Mara Widmann gelinge "etwas Seltenes": "Sie verweigern sich jenem aufgesetzten Macker(innen)-Posenrepertoire, das der Theaterbaukasten normalerweise für die Darstellung von Problem-Teenagern vorsieht". Mit ihrer "selbstbewussten Spielweise" seien sie so "souverän wie Vollprofis". "Der Rest indes ist belanglos" und das knapp dreißig Jahre alte Stück nicht einfach "mit ein paar Textaktualisierungen in die komplexer gewordene Gegenwart zu übertragen". "So rauscht der Abend relativ schmerzfrei vorbei."

 

 

Kommentare  
Twiehaus' Klassen Feind: dicht gemacht
Wenn ich hätte Harmut Krug und seine Kollegen anspielen müssen, hätte ich auch dichtgemacht - das ist nämlich Gestern geschehen. Wäre interessant herauszubekommen, wie schnell sich die Power und Durchlässigkeit der Spieler bei anderem Publikum wandeln kann...
Twiehaus' Klassen Feind: Etude in Stadelmaierei
Sagen Sie, Herr Krug, (...) was soll denn diese Etude in Stadelmeierei? Etwas mehr Aufbauarbeit!
Twiehaus' Klassen Feind: nachtkritik als Weinhandlung
... aber euch erscheint alles hohl. macht doch aus nachtkritik endlich die weinhandlung, die ihr immer haben wolltet. manches kerngeschäft ist eben auch hohl.
Twiehaus' Klassen Feind: Pantoffeln, die nicht passten
Schätzchen, der Twiehaus ist nun wahrlich nicht von der Muse geküsst, sondern ein ältlicher Berufsjugendlicher, der sich Pantoffel anzog, die im nicht passten. Wenn man ausgerechnet an der Schaubühne den Klassenfeind inszeniert, sollte man wirklich wissen, wieso, und das auch vermitteln können. Ebenso, wie es peinlich ist, mit Namen zu fuchteln, die man noch nicht mal richtig schreiben kann.
Twiehaus' Klassen Feind: unreflektiertes Um-sich-Beißen
bringt man den studentInnen auf der schauspielschule eigentlich nicht bei, dass sie sich mit dem schritt auf die bühne auch in die öffentlichkeit begeben? das reflexhafte aber unreflektierte um-sich-beißen in den kommentaren da oben lässt vermuten, dass sie jedenfalls zu diesem schritt noch nicht reif sind. wenn denn auch nur ein argument käme. stattdessen dummes, beleidigtes dreinschlagen auf die kritik. oder war das argument in der auslassung des kommentars 2?
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