Gruselkabinett der Verwerfungen

von Georg Kasch

Nürnberg, 11. Dezember 2009. Was für ein absurdes Freuden-Haus: die Welt liegt in Trümmern, hier aber trinken Hitlerfotograf Heinrich Hoffmann und seine Tochter Henriette von Schirach mit der gastgebenden Gräfin Kanockerl Cognac, trauert Generalmajor Erwin von Lahousen seinen gescheiterten Hitler-Attentaten nach und kämpft Hausbesitzerin Luise Kralle um ihr Stück vom Kuchen. Zwar wird Rudolf Diels, erster Gestapo-Chef, zunächst mit Menschenfressermaske eingeliefert (was ihn nicht daran hindert, der Gräfin formvollendet die Hand zu küssen), doch bald schon tanzt er frei mit im erotisch-schwülen Reigen, der die Bagage durchzuckt.

Diese geschlossene Schießbudenfiguren-Gesellschaft aus Altnazis und Mitläufern, Widerständlern und KZ-Opfern ist historisch: während sie auf ihren Auftritt bei den Nürnberger Prozessen 1945/46 warteten, bildeten die Zeugen von Anklage und Verteidigung eine absurde Hauszwangsgemeinschaft. Ein Gruselkabinett, das alle Verwerfungen des Dritten Reiches widerspiegelte und später im Bewusstseins-Keller der neuen Republik verschwand.

Braune Melange und weiße Westen
Oder aber in jener schwarzen Grabes-Truhe, die sich Franzobel hat einfallen lassen als zentrales Requisit seines Stücks "Große Kiste oder das Spiel vom Zeugen". Das Auftragswerk ist "Schuld"-Tentakel einer Spielzeit (2008/09), in der sich das Staatstheater Nürnberg mit seiner umbaubedingten Ersatzspielstätte auseinandersetzte, der kolossalen NS-Kongresshalle auf dem Reichsparteitagsgelände. Den österreichischen Geschichts-Sisyphos Franzobel muss diese braune Menschen-Melange mit weißem Westen-Sahnehäubchen gereizt haben. Dass er Christiane Kohls Doku-Buch "Das Zeugenhaus" als Materialsteinbruch begriff und daraus seine ausufernde Farce schlug, sorgte im Vorfeld der Uraufführung für Unverständnis der Autorin. Also wurden Namen verfremdet, das Stück aber nur leicht gekürzt auf die Bühne gehievt.

In seiner ausufernden Unverdaulichkeit aus genialen Kalauern und ermüdendem Gebrabbel, Brechts "Arturo Ui" und Brooks "The Producers" ähnelt Franzobel seinem literarischen Vorbild Elfriede Jelinek (aus deren "Kontrakte des Kaufmanns" Stefan Otteni in Nürnberg gerade einen fulminant frechen Abend destillierte). Deshalb hätte sich Regisseur Kay Neumann Franzobels "Zeugenhaus"-Freiheit nehmen müssen, um in der Uraufführung von "Große Kiste" eine böse Glanznummer freizulegen. Doch statt eine knackige Revue des Grauens zu arrangieren, ackert er sich knapp drei Stunden lang auch an den Redundanzen ab.

Jägermeister-Hirschkopfskelett mit Strahlenkranz
Dabei gäbe es für eine Revue die passende Bühne. Günther Hellweg hat seinen braun getäfelten Raum listig zusammenzitiert: Da warten die Kunstblumen an den Wänden auf ihren Abschuss, strahlt ein "Jägermeister"-Hirschkopfskelett im Leuchtkranz, holt der nierentischovale, schräge Boden schon zum dumpfen Swing der 50er Jahre aus. Als wolle er "Achtung! Farce!" warnen, hat Hellweg das Ganze zudem schräg mit einem bunt leuchtenden Portal gerahmt.

Wenn sich hier die mit Strumpfmasken verfremdeten Schauspieler in Anzug, Uniform und Cocktailkleid durch die Drehtüren zwängen, dann aber verloren um die geheimnisvolle Kiste (in der schließlich weder Hitler noch Fotos liegen, sondern der tote Sohn der Hausbesitzerin Kralle) herumstehen wie in einer Salon-Komödie, in der niemand die eigenen Pointen versteht, fühlt man sich wie auf einer Durchlaufprobe. Sicher, die Unwucht des Abends hat auch banale Gründe: Acht Tage vor der Premiere fiel die vorgesehene Kralle-Schauspielerin aus, am Tag der Generalprobe der Darsteller des Kralle-Sohnes. So wurde erfolgreich mit Souffleuse und Textbuch jongliert. Nicht unwahrscheinlich also, dass sich das Tempo noch steigert.

Auch bei der KZ-Planung immer anständig geblieben
Und packende Momente gibt es, etwa wenn mitten in die abgeschmackte Weihnachtsfröhlichkeit hinein zwei ehemalige KZ-Häftlinge als clowneskes Zwillingspaar platzen. Da ist das Unbehagen greifbar wie die Sprachlosigkeit: die Gräfin fragt im Plauderton nach den Familien, die im Gas endeten, Henriette von Schirach scheitert mit dem Wetter und belästigt dann alle mit Schuld-Geständnissen, Möchtegern-Attentäter Lahousen will geschlagen werden, und die Opfer äußern Sympathie für den Betonkopf-Nazi, der auch bei der KZ-Planung aus Überzeugung "immer anständig" geblieben sein will, bevor sie sich selbst in einen Opferrausch steigern.

So scheint momentweise auf, was dieses großartige Ensemble zu leisten imstande ist: Da spreizt sich Elke Wollmann als Gräfin Kanockerl wie eine Diva, die in jedem Anwesenden ihren Zuschauer wittert, legt Felix Axel Preißlers testosteronschwangerer GI Dexter Julia Bartolomes grandios puppige Henriette flach, um schließlich den "Schlachthof für Menschen" nach Südamerika zu exportieren und kündigt Michael Hochstrassers vor virilem Zynismus brodelnder Diels an, sich die Welt nicht als Nazi, sondern als Manager Untertan machen zu wollen.

Mit der "Großen Kiste" schließt im Nürnberger Schauspiel nun die in der vergangenen Spielzeit begonnene Inszenierungsreihe zum Thema "Schuld". Für Franzobel bleibt die Kiste hoffentlich noch offen: seine Farce hätte eine zweite, radikalere Chance verdient.

 

Große Kiste oder Das Spiel vom Zeugen (UA)
von Franzobel nach Christiane Kohl
Regie: Kay Neumann, Bühne und Kostüme: Günter Hellweg, Dramaturgie: Frank Behnke. Mit: Elke Wollmann, Michael Hochstrasser, Pius Maria Cüppers, Julia Bartolome, Cornelia Kempers, Thomas Stang, Rebecca Kirchmann, Hartmut Neuber, Marco Steeger, Rolf Kindermann, Felix Axel Preißler, Stefan Lorch.

www.staatstheater-nuernberg.de

 

Mehr zum Nürnberger Spielzeitmotto Schuld im nachtkritik-archiv: im Februar 2009 inszenierte Alexander May in der Ausweichsspielstätte auf dem "Reichsparteitagsgelände" Esther Vilars Zweipersonenstück Speer, im selben Monat verschränkte Frank Behnke Die Juden/Jubliäum von Gotthold Ephraim Lessing und George Tabori zum Vorher-Nachher-Spiel. Im Juni 2009 bespielte Kathrin Mädler die Kongresshalle mit Peter Weiss' Dokumentarstück über die Frankfurter Auschwitz-Prozesse Die Ermittlung.

Kritikenrundschau

Als "aufgeblasene Nullnummer" empfindet Jörn Florian Fuchs in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (13.12.) Franzobels Theateradaption eines Stoffs der Journalistin Chritiane Kohl über den Nürnberger Stadtteil Erlenstegen, wo während der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse Täter und Opfer Tür an Tür im gleichen Haus untergebracht waren. Auch hat er Verständnis für Christiane Kohls medienwirksame Distanzierung von der Bühnenversion. Denn aus seiner Sicht hat Franzobel darin die Figuren zu "Textaufsagekaspern" eigendampft, gebe es statt Psychologie nur jede Menge Verbalinjurien und morbide Späße. Das Ensemble des Nürnberger Staatstheaters spiele zwar "ausnahmslos glänzend und manchmal mit einem erfreulichem Hang zur Selbstironie". Was jedoch für den Kritiker nichts daran ändert, dass alle im Lauf des Abends immer tiefer in Franzobels wirren, irren Texttaifun geraten". Erst am Ende gelingen Regisseur Kay Neumann seiner Ansicht nach einige dichtere Bilder, "wenn sich, zum Beispiel, ein gescheiterter Hitlerattentäter stellvertretend in die Luft jagt."

Einen Tag später schreibt Bernd Noack in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (14.12.) darüber, wie der Autor hier versuche, "sich lustig zu machen über etwas, was vor sechzig Jahren als fast 'mythischer' Akt ersehnt und begriffen wurde: dass Täter der Nazi-Zeit vor aller Öffentlichkeit zur Verantwortung gezogen wurden". Franzobel sei einer, "der so gut wie nichts ernst nimmt", verfehle mit diesem Stück allerdings sein Ziel. Aus seiner Vorlage, Christiane Kohls spannend-behutsamen Recherche-Buch, mache Franzobel "eine grell-alberne Farce, ein triviales, auf die Lust beschränktes Spiel charakterloser Hohlköpfe, einen Fraternisierungsreigen, bei dem kein Vorurteil und kein Kalauer auf der Strecke bleiben". "Auf Schwankniveau" schwinge Franzobel den Holzhammer "so lange, bis ihm selbst etwas mulmig wird", und baue dann "schnell ein paar harte Wahrheiten und plumpe Verurteilungen ein, die wie ein mahnender Beipackzettel für eine Dose Lachgas daherkommen" – "Feigheit vor der eigenen Respektlosigkeit?" fragt Noack, der außerdem findet, dass Neumanns "tolpatschige" Inszenierung der "abgewetzten Witzigkeit des Textes mit bunten, lauten Bildern" hinterherhechele. Die Schauspieler dürften da "nicht viel vom wirklichen Wesen ihrer Figuren preisgeben", ihnen sei "aufgetragen, konträre Miene zum bösen Spiel zu machen".

Für das Nürnberger Staatstheater habe es nahe gelegen, so Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (14.12.), eine Dramatisierung der Kohl-Recherche in Auftrag zu geben, sei diese doch bereits "ein Kondensat des Bizarren". Und wer Franzobel engagiere, wisse auch, "was er kriegt: Eine von Verbal-Flatulenz durchzogene Bösartigkeit, nahe an der Genialität, kalauernd, rülpsend, extrem analytisch und nichts für sanfte Gemüter". Er forme "aus den von Kohl liebevoll und teils romanhaft geschilderten Begebenheiten (...) eine Groteske, in der die Figuren Bescheid wissen darüber, wie es mit dem 20. Jahrhundert weiter ging". Der Autor postuliere "das Lachen als einen möglichen Umgang mit den Grauen", Neumann allerdings falle darauf herein und mache "müde-grelles Variete-Theater mit lächerlichen Typen". In seiner "hilflosen Aufführung" lege der Regisseur "schnell Brücken des Slapstick über die Abgründe" und greife "in der platten Zeichnung der Funktionsfiguren auf Kohls Beschreibungen zurück, anstatt den von Franzobel eingeschlagenen Weg der Enthistorisierung weiter zu gehen". Zum Schluss empfiehlt Tholl: "Wer wissen will, lese Kohls Buch", wer fühlen wolle, schaue Franzobels Stück. Und "die vergleichbare, aber unendlich abgründigere Inszenierung von Jelineks 'Rechnitz'".

Franzobel macht nach Ansicht von Steffen Radlmaier von den Nürnberger Nachrichten (14.12.) aus dem "großartigen, wenn auch heiklen Theaterstoff" "einen teils doppelbödigen, teils geschmacklosen Jux". Neumann komme damit "nur ansatzweise klar". Mühsam schleppe sich die viel zu lange Inszenierung dahin. Die Ausstattung immerhin sei "durchaus gelungen": eine "Jahrmarkt-Schießbude mit Plastikblumen, braunem Holzfurnier, Drehtüren und Jägermeister-Hirschgeweih". Und die Schauspieler versuchten allesamt, "das Beste aus dem Männleinlaufen zu machen". Im Stück "angelegt (und durch die Inszenierung verstärkt)" sei jedoch eine "fatale Gleichmacherei und Geschichtsklitterung, die mit Groteske nichts zu tun hat: Fiktive und historische Figuren, Opfer und Täter (...) – sie alle sind sich in ihrem rücksichtslosen Egoismus, ihrer politischen Dummheit und ihrem ungezügelten Sextrieb irgendwie gleich", nämlich "Schießbudenfiguren und Verdrängungskünstler". So öffne Franzobel "eine große Kiste voller Nazi-Narren, bedient sich bei Brecht, Jelinek, Tabori, Bernhard und Mel Brooks, ohne deren bitterbösen Witz zu erreichen oder eine neue Perspektive zu eröffnen. Die aber wäre heute nötig".

Für Hans-Peter Klatt von der Nürnberger Zeitung (14.12.) ist diese Inszenierung ein "Missgeschick" – und "an den Darstellern lag es nicht". Auch der Regisseur habe "kein leichtes Spiel" gehabt, "mit der bizarren Handlung und den Figuren, die (...) zum großen Teil nicht als Typen und schon gar nicht als Charaktere in den Griff zu bekommen sind". Über Franzobels "krampfhafte Bemühungen um Aktualität" könne man nur den Kopf schütteln und ansonsten "irritiert der überdrehten, aber nicht gerade flüssig ablaufenden Revue" Neumanns zuschauen. Der Autor komme "über einige beklemmende Minuten nicht hinaus, dann kippt die Chose wieder um in Faxen und Mummenschanz". Ihn hätten die "sexuellen Interaktionen seines Personals" offenbar mehr interessiert, "als die menschlichen Abgründe": "Alle sind irgendwie pervers, verrückt und vor allem gewissenlos." Die "Grosse Kiste" berge in diesem Fall "einen Haufen Kehricht", den der Autor "ohne tieferes Verständnis aus dem Winter 1945/46 und der seriösen Buchvorlage von Christiane Kohl zusammengekehrt hat".

 

 

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