Kupfer-Sturz ins Pathos

von Marcus Hladek

Frankfurt, 12. Dezember 2009. Trügt der Eindruck, oder drängt das Sprechtheater in letzter Zeit zunehmend nach ganz vorn: vor eine Mauer, die den tiefen Raum dauernd verdeckt oder für dramatische Öffnungseffekte aufspart? Bei dem neuen Frankfurter Intendanten Oliver Reese, der im Bühnenbild wie schon oft auf Hansjörg Hartung vertraut, verbindet sich diese Entscheidung fürs flache Spiel im Raum, das Tiefen in der Seele sucht, mit einem großen Stilzitat aus der historischen Aufführungspraxis. Seine Wand besteht aus Kupferblech mit einem Spalt für Auf- und Abgänge, was die schönsten Assoziationen aufruft, von der simplen Palastfassade zum metallischen Glast der französischen Alexandriner und der Seitenverkehrung im Kupferstich.

Lauter Lämpchen, klassisch gedämpft

Ihr Licht hat diese Bühne – Scheinwerfer helfen unauffällig nach – von einer Reihe kleiner Lämpchen am vorderen Bühnenrand, die Theramenes beim ersten Auftritt mit Streichhölzern entzündet, als säßen wir in Mnouchkines "Molière"-Film oder "Shakespeare in Love", oder anders gesagt: als gelte es, für unseren Einfühlungsakt in die französische Klassik vorab die Bühne selbst der rituellen Investitur zu unterziehen. So sehr die stylishen Kostüme (Elina Schnizler) und das Spiel das Historische wieder relativieren, handelt es sich zu allererst um eine eindrucksvolle Setzung.

Wo dünnes Blech für das massive Kupfer von Statuen und staatlichem Gepränge einsteht wie Potemkins Fassaden für pulsierende Dörfer, während die im Kupfer matt gespiegelten "Kerzen" uns einen gedämpften Blick auf die Rückseite der Dinge im Sinn der berühmten "klassischen Dämpfung" Racines versprechen, ist offenkundig eine inszenierte Reflexion auf Antikes in neuerer Sprache am Werk. Reese inszeniert Racine als eine Renaissance alten Theaters, die mit ihren Götternamen und den ererbten Einheiten von Raum, Zeit, Handlung auf modernere Konflikte hinaus will. Racines "Phädra" handelt von der fatalen Liebe der Gattin des Minotaurus-Bezwingers Theseus zu Theseus' Sohn (ihrem Stiefkind) Hippolytos und gewinnt im klassischen Gewand Nuancen, die der Antike viel ferner stehen als etwa den "Gefährlichen Liebschaften" eines Laclos und dem Tugendgeschwafel des kommenden 18. Jahrhunderts.

Zwischen Bob Dylan und Al Pacino

Sind Hartungs Bühne und die historisierende Lichtgebung Reeses vordergründige Hauptmittel, um die Leidenschaften dieser "Phädra" ungeschminkt zur Geltung zu bringen, so trägt seine Inszenierung das antik-frühneuzeitliche Gemisch vor allem im Detail der Schauspielerführung dezidiert ins Heute. Wohin allerdings auch schon die Kostüme weisen: Lediglich die Titelheldin trägt hier ein antikisierendes Gewand (ebenso gut könnte es ein klassisches Abendkleid sein), wenn sie nicht gerade als lichtscheuer Maulwurf im Mantel umherschlurft.

Die Figuren blicken häufiger auf ihre edlen modischen Armbanduhren, so noch Theramenes (Felix von Manteuffel) beim finalen Warten auf Phädras Tod durch Gift. Hippolytos verpasst Reese einen modischen Windjacken-Look, Phädras Vertraute Oenone macht er zur effizienten Erfolgsfrau mit Pagenkopf, Hippolytos' Liebchen Aricia darf – selbstbewusster in der Liebe – ihm zu Augen kokett den Reißverschluss ihres Oberteils öffnen.

Theseus (Till Weinheimer) schließlich ist, passend zur manchmal zwischen die Szenen plärrenden Wüstenrock-Musik, ein grinsend verschmitzter Souverän, dessen lange Nadelstreifenjacke und silberne Gürtelschnalle ihn zum Westernhelden ohne viel Feingefühl und Einsicht machen: eine seltsam hohle Ikone zwischen dem alten Bob Dylan am Himmelstor und einem jungenhaft-männlichen Al Pacino.

Junggesellenmaschine

Christoph Pütthoff spielt als Hippolytos alle kleinen Schwächen der emotional unreifen "Junggesellenmaschine" aus, die plötzlich auf die Liebe trifft und sich trotz aller Tugend nicht vor Verleumdung zu schützen weiß. Und Stephanie Eidts Phädra glänzt ebenso sehr als lichtscheue, hilflos schlechtberatene Liebende mit blutiger Tränenspur unter der Sonnenbrille wie als Schöne, die, ins Kupfer deklamierend, ihre Liebe wagt und in der großen Bekenntnisszene abstürzt. Wenn sie dabei buchstäblich stürzt und ein Pathos ohne Abstriche zeigt, ist es an der Zeit dafür. Zuletzt, ins Eck gedrängt, starrt sie in das Nichts, das sie erwartet.

Sehr gelungen auch Franziska Junges Oenone, die lange vor dem Scheitern ihrer Manipulationen im ständigen Nesteln an ihren Nägeln schon andeutet, dass es mit ihren Plänen unheroisch enden wird. Henrike Johanna Jörissen schließlich, die zuvor in kleinen Rollen in der neuen Frankfurter Box zu sehen war, glänzte als Aricia als selbstbewusste Verführerin des allzu Tugendhaften, dessen Befangenheit sie sehr körperlich überlistet.

Phädra
von Jean Racine
Aus dem Französischen von Simon Werle
Regie: Oliver Reese, Bühne: Hansjörg Hartung, Kostüme: Elina Schnizler, Licht: Frank Kraus, Dramaturgie: Nora Khuon.
Mit: Stephanie Eidt, Henrike Johanna Jörissen, Franziska Junge, Christoph Pütthoff, Felix von Manteuffel, Till Weinheimer, Luise Audersch.

www.schauspielfrankfurt.de


Die volle Ladung Antike gab's in Frankfurt schon zum Auftakt von Oliver Reeses Intendanz: Michael Thalheimer eröffnete die Spielzeit am 1. Oktober 2009 mit dem Sophokles-Doppel Ödipus/Antigone.

 

Kritikenrundschau

Jean Racines "Phädra" sei "das Liebesdrama schlechthin"; doch es habe auch eine "Boulevardoberfläche", schreibt Gerhard Stadelmaier in der Frankfurter Allgemeinen (14.12.): "Wenn nun in Frankfurt Phädra auftritt, (...) dann spielt Stephanie Eidt zwar auch die verstörte Frau, die einer Luxusvilla von nebenan entlaufen scheint, eine Schmerzenskönigin mit Lichtallergie, die den Tag scheut, ein tragisches Nachtschattengewächs für die Titelseite der 'Bunten'. Also ganz Boulevardgegenwart. Aber zugleich ganz irrwitzig aus aller Zeit gefallen." Eidt, "die man jetzt schon den Phädren der Valérie Dreville (1998 bei Luc Bondy in Lausanne) und der Dominique Blanc (2003 bei Patrice Chéreau in Paris) an die Ruhmesseite stellen" dürfe, spiele "das Tollwütige, Unbeherrschte, Zerstörte der Figur nicht als hysterische Explosion. Sondern als unbegreifliche Implosion. Gegen die sie sich staunend, empört, tief verletzt zu wehren sucht." Die Inszenierung von Oliver Reese halte "die schöne Balance zwischen sinnreicher, manchmal sogar flotter Vergegenwärtigung der alten Geschichte und deren Rätselgründen." Reese lasse seine Schauspieler etwas tun, "was sie in den vergangenen Jahren nicht nur in Frankfurt kaum durften: sich den Figuren ins Herz spielen."

Das Theater des Jean Racine sei "das Theater des dramatischen Niedersinkens, der großen Geste, Hand aufs Herz, des allerhöchsten Tons" gewesen – aber "wie kann man das heute spielen?" fragt Peter Michalzik in der Frankfurter Rundschau (14.12.). Oliver Reese habe – nicht zuletzt auch mit Hilfe des Bühnenbilds von Hansjörg Hartung, einer "Kammer des Glühens" – einen Weg gefunden: "Aus Emphase wird in dieser engen Aufführung in ihren besten Momenten eine Struktur der Leidenschaft. Der Text wird, durch den begrenzten Raum, durch eine klare Leitmotivtechnik, transparent wie eine mathematische Gleichung. Blicke und Augen etwa werden als Brennpunkte der Liebe konjugiert, einer Liebe, die in ihnen liegt und entflammt wird." Reeses Schauspieler sprächen "so gut, weil sie in jedem Moment verstanden werden wollen, weil sie ihr Regisseur offenbar dazu gebracht hat, ihren Text zu durchdringen. Sie wirken hier wie die magischen Sieben. Das ist zeitgemäßer Klassizismus, der Schule machen könnte, eine der Theatersprachen, die fehlt."

 

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