Joachim Lux – Thalia Theater Hamburg, Intendant

Welches war Ihr herausragendstes, schönstes, beeindruckendstes Theatererlebnis im Jahr 2009, am eigenen Haus oder an anderen Häusern? Und warum?

1. Der (zumindest von der Berliner) Kritik verrissene Simon & Garfunkel Abend The Sound of Silence von Alvis Hermanis, gesehen bei den Salzburger Festspielen. Ein Abend, der fliegt, wie Theater selten fliegt. Freie Schauspieler mit Phantasie, in eine Komposition gebracht von einem Menschenfreund, der zuschaut und ordnet, nicht mehr und nicht weniger. Keine ästhetischen Verdikte: Keine Postdramatik, keine Dekonstruktion vonwasauchimmer, aber auch kein Rückfall in Konvention, eher Tanztheater als Schauspiel, assoziativ wie zwingend, musikalisch wie Tschechow, Leben als Komposition.

Bondy konnte früher so etwas, Marthaler sowieso: Bedeutung ohne Schwere, eine Nichtigkeit voller Tiefe, Leichtigkeit als Subversion. Aber Hermanis beugt sich auch keinen inhaltlichen Verdikten à la: Wenn man über 68 auf dem Baltikum arbeitet, dann muß schon wenigstens.... Nein, muß eben nicht, liebe Berliner. Hermanis - ein freier Geist, der seine Schauspieler und Zuschauer zu Kindern macht...

2. Des Sängers Höflichkeit verbietet, wie ich finde, das Lob eigener Aufführungen. Falls das nicht so wäre, würde ich z.B. vom Mut von Nicolas Stemann schwärmen, mit "Kontrakte des Kaufmanns" ein völlig neues Theaterformat zu erfinden, von Luk Percevals Frechheit aus journalistischen Trivialtexten eine kunstvolle Inszenierung des zeitgenössischen Atridenstoffs, nämlich der "Kennedys" zu wagen, vom Ungarn Kornel Mundruszo, Shooting-Star-Gast auf allen europäischen Festivals, der am Thalia mit seiner Eigenkreation "Das Judasevangelium" etwas geschaffen hat, was es im deutschen Stadttheatersystem eigentlich nicht gibt, von Jens Harzer, der den "Peer Gynt"-Text durchdrungen hat wie kaum jemand zuvor, von Gotscheffs "Ödipus" und damit nicht nur von tollen Schauspielern, sondern auch vom letzten Mohikaner unter den Radikalregisseuren, nachdem Schleef und Gosch nicht mehr sind etc. Da es aber doch so ist, daß des Sängers Höflichkeit die Qualifikation eigener Aufführungen verbietet, lasse ich das bleiben und schwärme ersatzweise von der Bauprobe zu Stefan Puchers Andersen-Projekt am Thalia-Theater: Ein Bild, eine Musik, ein Text von Andersen - und alles war da, als Skizze in diesem eintausend Plätze Theater. Alles war da, auch die Hoffnung, daß die Inszenierung nicht weniger sein möge als die Skizze und auch nicht zuviel mehr, was möglicherweise weniger wäre...


Was man in deutschsprachigen Theaterleitungen über das Jahr 2009 sonst noch denkt, sagen: Andreas Beck (Schauspielhaus Wien), Karin Beier (Schauspiel Köln), Thomas Bockelmann (Staatstheater Kassel), Amelie Deuflhard (Kampnagel Hamburg), Matthias Fontheim (Staatstheater Mainz), Elmar Goerden (Schauspielhaus Bochum), Markus Heinzelmann (Theaterhaus Jena), Jan Jochymski (Theater Magdeburg), Ulrich Khuon (Deutsches Theater Berlin), Sewan Latchinian (Neue Bühne Senftenberg), Julia Lochte (Münchner Kammerspiele), Enrico Lübbe (Theater Chemnitz), Joachim Lux (Thalia Theater Hamburg), Stephan Märki (Nationaltheater Weimar), Roland May (Theater Plauen-Zwickau), Barbara Mundel (Theater Freiburg), Amélie Niermeyer (Schauspielhaus Düsseldorf), Christoph Nix (Theater Konstanz), Elias Perrig (Theater Basel), Oliver Reese (Schauspiel Frankfurt), Friedrich Schirmer (Deutsches Schauspielhaus Hamburg), Holger Schultze (Theater Osnabrück), Wilfried Schulz (Staatsschauspiel Dresden), Kathrin Tiedemann (Forum Freies Theater Düsseldorf), Lars-Ole Walburg (Schauspiel Hannover), Barbara Weber (Theater Neumarkt Zürich), Hasko Weber (Staatstheater Stuttgart), Tobias Wellemeyer (Hans-Otto-Theater Potsdam), Kay Wuschek (Theater an der Parkaue Berlin).