Der Freiheitsheld als braver Meuchelmörder

von Felizitas Ammann 

Interlaken, 21. Juli 2007. "Der Föhn ist los, ihr seht, wie hoch der See geht!" Der Vierwaldstättersee ist hier gemeint, und nur Wilhelm Tell ist mutig genug, den verfolgten Baumgarten hinüber zu rudern. Wir dagegen sind zwar ganz woanders in der Schweiz, am Thunersee nämlich, aber das Wasser steigt tatsächlich.

Hier tobte vor einer Stunde ein Hagelsturm, der Bäume ummähte und den Zugverkehr unterbrach. Im Ersatzbus geht es langsam durch knietiefes Wasser, vorbei an zerbrochenen Scheiben, verbeulten Autos, verhäkselten Blumen. Werden wir es schaffen zu den Interlakener Tellspielen? Werden sie überhaupt stattfinden? Neben uns sitzt eine der Darstellerinnen, fassungslos ob der Zerstörung, aber gelassen konstatierend: "Seit ich dabei bin, wurde erst ein  Mal abgesagt, als der Blitz in die Tonanlage einschlug."

Heile Welt bis zum Auftritt Gesslers

Wenig später sehen wir besagte Rettungs-Szene am stürmischen See. Wir sitzen unter einem massiven Betondach. Vor uns die Bühne aus ein paar alten Holzhäusern, Bäumen und Fels. Seit 1912 brüllen hier ausschliesslich Laien ihren Text gegen Wind, Sturm und Regen.

Doch das Wetter ist nun wieder zahm und die erste Szene idyllisch. Statisten mimen Bauern, ein Alpabzug zieht durchs Dorf mit prächtig geschmückten Kühen, Ziegen, Pferden. Man möchte jauchzen vor Freude, wenn es einer der Bauern nicht schon täte. Bald aber ist es vorbei mit dem geruhsamen Dorf-Leben. Habsburg trachtet den braven Leuten nach der Freiheit.

Freiheitsheld und Gründungsmythos  

Es war ein Deutscher, der den Schweizern ihren Gründungsmythos verpasst und ihren Freiheitskämpfer erfunden hat. 1804 wurde Schillers "Willhelm Tell" in Weimar uraufgeführt. Hierzulande kennt jeder die Geschichte, oder wenigstens die Highlights: der Rütlischwur, der Gesslerhut, der erzwungene Apfelschuss, und wie Tell darauf den Landvogt Gessler aus dem Hinterhalt erschiesst. Ein Meuchelmörder, der Blutrache nimmt, um privates Unrecht zu sühnen – das ist unser Freiheitsheld. Man hat das im Theater immer wieder hinterfragt und Tell in jüngster Zeit auch mit Terrorismus oder mit dem Irak in Verbindung gebracht.

In Interlaken sind solche Interpretationen freilich egal. Hier spielt man den Tell, wie er im Buche steht – zur Freude der Schweizer Familien und der Koreaner, Japaner oder Amerikaner, die hier ihren Urlaub verbringen und im Programmheft die Handlung in ihrer Muttersprache finden. Sie kommen, um schneidige Männer und tapfere Frauen zu sehen, Vaterlandsliebe und Treueschwüre – oder einfach ein paar fotogene Szenen.

Nuancierte Sprache, intimes Spiel

So weit, so gut, wenn da nur nicht die Technik wäre. 2002 haben die Freiluftspiele die lang ersehnten Funkmikrofone bekommen. Nun ist es aus mit dem Brüllen und wilden Gestikulieren. Es wird nuancierter gesprochen und intimer gespielt als früher. Monika Wild, die seit 2001 Regie führt, hat mit den Interlaknern das Sprechen geübt. Das hat sich gelohnt, denn es ermöglicht einen deutlich verständlichen Männer- und einen Frauenchor, was der Inszenierung Abstraktion gibt und das Gesellschaftliche betont. Zudem hat Wild letztes Jahr die Sprache sanft modernisiert.

Man redet nicht mehr in Versen, sondern in einem natürlich wirkenden Deutsch mit rauem Oberländer Akzent. Das gefällt, hat Kraft – und es irritiert einzig, dass die fremden Habsburger Herrscher mit dem gleichen Akzent sprechen. Gerade weil das Spiel professioneller geworden ist, zeigen sich die Schwächen umso deutlicher. Der Charme und die urige Kraft des Laientheaters sind ein bisschen verloren gegangen mit den verstärkten Stimmen, die nun alle vom gleichen Ort her schallen. Der laute, schwülstige Soundtrack (Dany Nussbaumer) erdrückt noch die letzten Emotionen.

Zäher Brocken Schiller 

Dabei hat Wild durchaus einige starke Bilder gefunden: Wenn die Pferde durch die engen Gassen donnern, ein einziger Soldat zum Kampf trommelt, eine bunte Hochzeitsgesellschaft vorübertanzt. Besonders aber die einzige komische Szene – in der ein Betrunkener, statt sich vor Gesslers Hut zu verneigen, an dessen Stange pinkeln will – zeigt das Potential, das im Spiel stecken könnte. Wild bleibt zu eng am Text, und der ist ein zäher Brocken. Da wird endlos gezögert und gezaudert, Bestehendes beklagt und Prinzipielles diskutiert – als hätte Schiller beim Schreiben die heutige Eidgenossenschaft vor Augen gehabt.

Dann, endlich: "Durch diese hohle Gasse muss er kommen." Gessler reitet ein, sackt alsbald zusammen und es erklingt ein Trauermarsch. Tell schleicht aus dem Gebüsch, die Frauen gehen mit Mistgabeln auf die letzten Besatzer los, die Burg steht in Flammen, das nunmehr freie Volk nimmt strahlend den Applaus entgegen, und darüber wetterleuchtet und donnert es plötzlich in echt, dass es eine Freude ist.

 

Wilhelm Tell
von Friedrich Schiller
Regie: Monika Wild, Musik: Dany Nussbaumer.

www.tellspiele.ch

 

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