Komm vogle!

von Charles Linsmayer

Bern, 18. Dezember 2009. Alle fünf, zehn Jahre wird Hansjörg Schneiders "Sennentuntschi" wiederentdeckt. 1983 hat Jost Meier eine Oper daraus gemacht, 1995 war das Stück an der Zürcher Gessnerallee zu sehen, 1998 inszenierte Monika Neun es an der Berner Effingerstrasse. Demnächst soll es am Ende einer turbulenten Produktionsgeschichte in die Kinos kommen, und je weiter die skandalumwitterte Uraufführung von 1972 und die nicht minder hitzig diskutierte TV-Inszenierung von 1981 zurückliegen, desto stärker kommt hinter der vermeintlichen pornografischen Geschichte von den drei Sennbauern, die in einer entlegenen Alpenhütte ihrem sexuellen Notstand mit einer selbstgebastelten Strohpuppe zu begegnen versuchen, ein elementar-archaisches Drama zum Vorschein, wie es in jüngerer Zeit in deutscher Sprache kein zweites gibt.

Die jüngste Inszenierung stammt vom Basler Schauspieldirektor Elias Perrig, und was man am 18. Dezember in der großen Berner Vidmar-Halle erstmals zu sehen bekam, legt die Direktheit und eindringliche Intimität der Vorlage sowohl von der Anlage als auch von der sprachlichen Umsetzung her unmittelbar frei.

Diskreter Rahmen für das Indiskrete
Das Bühnenbild von Beate Fassnacht reduziert sich auf eine Sennhütte, die im Dunkeln über einem Nebelmeer schwebt, und alles, was das Publikum von der Geschichte sieht und hört, muss quasi mit dem voyeuristischen Blick eines heimlichen Zeugen durch die Fensterscheiben hindurch wahrgenommen werden. Was in seiner Ausschnitthaftigkeit selbst dem Indezentesten noch eine diskreten Rahmen vermittelt, gleichzeitig aber die Rätselhaftigkeit des Geschehens erhöht und der Phantasie freien Lauf lässt.

Der Abend beginnt mit dem mehrstimmig vorgetragenen Alpsegen, der sich mit dem abschließenden "Jesu Christ" zu imponierender Intensität steigert. Von der Naivität des Gebets zu den Dialogen der drei Sennen ist es nur ein kleiner Schritt, und es gelingt der verwendeten Spielvorlage durchaus, etwas von der Lapidarität und Urtümlichkeit der Dialektfassung ins Hochdeutsche hinüberzuretten. So sprechen Stefano Wenk als versonnen-eigenbrötlerischer Benedikt und Ernst C. Sigrist als vorlaut-ketzerischer Fridolin stark schweizerdeutsch gefärbtes Hochdeutsch, während Sebastian Edtbauer als naiv-kindlicher Mani ausgesprochen österreichisch klingt und nur Milva Stark in der Rolle der lebendig gewordenen Strohpuppe in ihren automatenhaften Äusserungen reines Bühnendeutsch spricht.

Entfesseltes Teufelsweib
Umtost von bedrohlichen Donnerschlägen, verunsichert durch unheimliche Schritte auf dem Hüttendach und immer wieder unterbrochen durch Gebete und Litaneien, steigert sich das Geschehen vom harmlosen Kartenspiel der drei Männer, dem zunehmenden Alkoholkonsum und dem Jux mit dem aus einer Flasche und einer Heugabel gebastelten Tuntschi mit zwingender Folgerichtigkeit zur Verwandlung der Puppe in eine richtige Frau und zu jener außer Rand und Band geratenden Orgie, bei welcher die drei Sennen, leibhaftig mit ihren verborgensten Wünschen konfrontiert, zu Opfern des entfesselten Teufelsweibs werden.

Der dem Ganzen anhaftende Drive ist so zwingend und exzessiv, dass der Kollaps unausweichlich wird und Perrig am Ende des ebenso grausigen wie unheimlichen Geschehens gut darauf verzichten kann, dass das Tuntschi dem Fridolin die Haut über die Ohren zieht. Das drängend-gierige, mechanisch repetierte "Komm vogle", mit dem das schreckliche Automatenwesen nach neuen Opfern Ausschau hält, ist als Abschluss stark genug und bringt die Quintessenz des Ganzen, zu was für einem gefährlichen Ding sich doch ausser Kontrolle geratene Sexualität auswachsen könne, unmittelbar einleuchtend auf den Punkt.

 

Sennentuntschi
von Hansjörg Schneider
Inszenierung: Elias Perrig, Bühne und Kostüme: Beate Fassnacht.
Mit: Stefano Wenk, Ernst C. Sigrist, Sebastian Edtbauer, Milva Stark.

www.stadttheaterbern.ch

Mehr zu Elias Perrig im nachtkritik-archiv: im November 2009 inszenierte Perrig am Theater Basel Tracy Letts Saga Eine Familie. Im Mai 2008 erkundete Perrig in seiner Revue Wer hat's erfunden Schweizer Charakteristika und andere nationale Spezialitäten.

 

 

Kommentar schreiben