Ritter von der rasenden Gestalt

von Ralph Gambihler

Magdeburg, 19. Dezember 2009. Cervantes' "Don Quijote" gilt gemeinhin als tragikomischer bis burlesker Roman über die Frage von Ideal und Wirklichkeit. Unter gattungsgeschichtlichen Aspekten kann man ihn zudem als Satire lesen, insofern sich der Autor über die Ritter- und Abenteuerromane lustig machte, die damals, im ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhundert, populär waren.

Bei Vladimir Nabokov hört sich das alles etwas anders an. Die Späße, diagnostizierte Nabokov einst in seiner "Don Quijote"-Vorlesung, würden sich "auf dem untersten Niveau mittelalterlicher Possenreißerei" abspielen. Der Humor sei "brutal und abstoßend". Zusammengenommen würden die beiden Romanteile eine "veritable Enzyklopädie der Grausamkeit" bilden. Nabokov hatte die Gewalt vor Augen, wo der Mainstream den lächerlichen, mit allerlei Sprichwörtern garnierten Ritter von der traurigen Gestalt sah und ja eigentlich bis heute sieht.

Radikal heutig, sperrig, grell
Dass Claudia Bauer (Regie) Nabokovs Einschätzung zuneigt, bleibt einem nicht lange verborgen. Ihre sehr freie Stückentwicklung über "Don Quijote" beginnt mit einer absurden Wartesaalsituation, aus der sich ein typisches Claudia-Bauer-Trümmerfeld mit heilsgeschichtlichem Kontext entwickeln wird. Radikal heutig, sperrig, grell und garantiert ungefällig ist ihre "Don Quijote"-Adaption, was bei der Premiere manche Fluchtbewegung im Saal auslöste.

Auf der Bühne sitzt zunächst alles an Tischen herum, der Raum von Daria Kornysheva ist kahl und unfreundlich ohne Ende. Was die anwesenden zwei Frauen und fünf Männer in dieser Wartetristesse hält, weiß man nicht wirklich. Allerdings, das ist nicht zu übersehen, gehen sie sich hübsch auf die Nerven. Wenn etwa links ein nervöser Anzugträger den Münzfernsprecher an der Kulissenwand gegen eine schwangere Tussi verteidigt, weil er einen wichtigen Anruf erwartet, läuft es mehrfach auf eine Groteske hinaus.

Don Quijote, dargestellt von Jonas Hien, ist zunächst ein etwas frustriert wirkender, junger Mann, der in der Ecke sitzt, beobachtet und irgendwas kritzelt. Mit seinem unmodischen Aufzug samt Vollbart und Ideologenbrille geht er als Dutschke-Verschnitt oder Globalisierungsgegner von Attac durch, Typ "No logo!". Er sitzt und beobachtet. Und wird zum blindwütigen Angreifer, als er an einem der anderen Tische Unrecht wittert.

Bühnennebel blasende Ventilatoren
Im Grunde erzählt Claudia Bauer – nicht anders als Cervantes – die Geschichte eines Wahns, nur eben sehr dramatisch und so überdreht, verwickelt und in Künstlichkeit getrieben, dass dem Abend die Fallhöhe zusehends abhanden kommt. An der Oberfläche hat sie den Stoff gründlich von sittenbildhaftem Colorit gereinigt, im Inneren buchstabiert sie ein Drama über Wirklichkeitskonstruktion und Feindbilder durch und lässt es dann dialektisch irrlichtern. Den Text dazu hat das Ensemble kollektiv erarbeitet, mit vereinzelten Brocken aus dem Steinbruch des Originals, die teils chorisch geschmettert werden.

Don Quijote erlebt im Laufe des Abends bizarre Wandlungen: Nach dem ersten blutigen Ausbruch im Wartesaal sehen wir ihn als fanatische Witzfigur, die das Shirt und die lange Unterhose mit geknülltem Papier ausbeult, im Schritt einen Plastikbecher platziert und durch autoaggressives Verhalten auffällt. Das Motiv von Leid und Erlösung scheint an dieser Stelle auf, und es wird zur vollen Größe entwickelt, als der Verrückte nach dem Kampf gegen die Windmühlen, die in Magdeburg Bühnennebel blasende Ventilatoren sind, sich in einen Messias verwandelt.

Die Setzungen spielen hier deutlich mit christlicher Ikonographie. In der wohl bildhaftesten Szene dieser Phase sieht man Don Quijote mit nacktem Oberkörper zwischen zwei Tischbeinen hängen, die Arme fast wie am Kreuz ausgebreitet, wobei er aber sitzt und keineswegs den Erlösertod von Jesus stirbt. Stattdessen findet wenig später Wandlung Nummer drei statt. Aus dem Messias wird ein Idol mit Sonnebrille und Lederjacke. Das wird wohl Don Quijote Superstar sein, ein Weltverbesserer mit John Lennon-Sexapeal und einer Anhängerschaft, die ihn verklärt.

Schreiender Wirrkopf im Einkaufszentrum
Das Karussell dieses Abends dreht sich kräftig. Weiter und immer weiter. Dialektisch durchschaubar saust es irgendwann in die Gegenrichtung. Das Idol will nicht mehr verehrt und verklärt werden. Die Wirklichkeit, die dieser Ritter von der rasenden Gestalt schuf, höhnt er nun ein "Märchen". Beim Kampf mit seinem Spiegelbild ist er splitterfasernackt und bekommt es mit einem androidenhaften Hünen zu tun, der aus "Avatar" entlaufen sein könnte. Schließlich zeigt ihn eine apotheosehafte Videosequenz (Stefanie Schädlich) als schreienden Wirrkopf in einem Einkaufszentrum. Die Passanten schauen befremdet und weichen zurück.

Was die Regie mit bedeutungsvollen Blicken und viel Bühnenblut vertändelt, können die Darsteller nicht retten. Dabei spielen sie sich die Seele aus dem Leib, allen voran der frappierend wandlungsfähige und sehr mutige Jonas Hien in der Titelrolle und neben ihm Bastian Reiber als arbeitsloser Anwalt alias Sancho Panza. Nach zwei Stunden nimmt der Wahn ein Ende, und es empfängt einen eine Wirklichkeit, die Warteschlangen an der Garderobe kennt und die eisigen Temperaturen dieser Dezembertage.

 

Don Quichote
von Cervantes
Deutsch von Susanne Lange
Fassung von Claudia Bauer, Dag Kemser und dem Ensemble

Regie: Claudia Bauer, Bühne und Kostüme: Daria Kornysheva, Musik: Ingo Günther, Video: Stefanie Schädlich, Dramaturgie Dag Kemser. Mit: Susanne Krassa, Julia Schubert, Alexander Absenger, Frank Benz, Jonas Hien, Bastian Reiber und Martin Reik.

www.theater-magdeburg.de

Mehr zuClaudia Bauer im nachtkritik-Archiv: im Oktober 2009 inszenierte sie Bertolt Brechts Im Dickicht der Städte in Wuppertal und im Juni 2009 im Prater der Berliner Volksbühne Virgin Queen für und mit Sandra Hüller.

 

Kritikenrundschau

Bravouröse sprachliche Akkuratesse und akrobatische Virulenz bescheinigt Gisela Begrich in der Magdeburger Volksstimme (21.12.2009) Jonas Hien als Don Quichote, und schreibt, dass es eine Lust sei, ihm zuzusehen. Auch Bastian Reiber und Julia Schubert werden gelobt. Insgesamt allerdings kommt der Abend für sie daher, wie ein "Torso der abgelegten Moderne" à la Volksbühne Berlin, vermisst die Kritikerin eine überzeugende Strukturierung des Abends und eine geistige Durchdringung des Stoffs.

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