Barbara Mundel – Theater Freiburg, Intendantin

Welches war Ihr herausragendstes, schönstes, beeindruckendstes Theatererlebnis im Jahr 2009, am eigenen Haus oder an anderen Häusern? Und warum?

Vier Erlebnisse sind mir in den Sinne gekommen, drei davon betreffen Kollektive.
Das erste Erlebnis ist eine besondere Art der politischen Demonstration und betrifft das Freiburger Publikum, oder noch allgemeiner – die Menschen dieser Stadt:
Das Theater Freiburg und das Theater im Marienbad waren im Juni 2009
Gastgeber der Baden-Württembergischen Theatertage. Eröffnet haben wir diese Tage zusammen mit dem "Archiv der Zukunft" und der Freiburger Initiative "Schule mit Zukunft" mit einem Themen-Wochenende unter dem Titel Theater träumt Schule. Es war eine Stimmung im ganzen Haus, die vor Spannung vibrierte. Man konnte die Bereitschaft und Lust der Menschen, Schule zu verändern – lustvoll radikal zu verändern, – mit Händen greifen.

Am Abend dann hatten wir zu einem Mittsommernachtstisch eingeladen, der die beiden Theater quer durch die Stadt miteinander verbinden sollte. Auf der Internetseite der BWTT konnte man die Standorte aussuchen und buchen; alles andere haben die Teilnehmer selbst organisiert. Es wurde eine fast utopisch anmutende Wiederaneignung des öffentlichen Raumes, nicht kommerziell, witzig, entspannt, man war Gast, nicht Kunde. Eine nachdenklich machende Demonstration für die verschütteten Bedürfnisse nach einem anders funktionierenden, anders strukturierten öffentlichen Raum. Hunderte waren Gastgeber, Tausende waren Gäste. Die Strecke von etwa zwei Kilometern zwischen den beiden Theatern wurde mit Tischen geschlossen.

Das zweite, was mir im Gedächtnis bleiben wird von dem Theaterjahr 2009, ist die Abenteuerlust und Spielfreude des Freiburger Ensembles, das sich in ungesicherte, riskante Unternehmungen stürzt und mich vor allem zu Beginn dieser Spielzeit hat staunen lassen.

Das dritte Erlebnis betrifft stellvertretend für viele die 50 Jugendlichen, die sich ca. ein Jahr mit unglaublichen Engagement in unser Projekt Pimp your brain – Die Optimierung des menschlichen Gehirns gestürzt haben. 17 von ihnen haben weitergemacht und sich mit H.W. Kroesinger in eine theatrale Zukunftsrecherche Ich, Cyborg!? begeben – und sie bleiben noch immer dran! Selbstorganisiert trotz – oder gerade wegen – des nahenden Abiturs. Ich war mehr als beeindruckt von der Ernsthaftigkeit der Fragen, der Suche und den künstlerischen Ergebnissen.

Und zu guter letzt Christoph Schlingensiefs Performance am 18. Oktober vor 800 Menschen im Großen Haus des Theater Freiburg – beeindruckt von seinem Humor, seiner Leidenschaft, seiner Unverschämtheit, seiner umwerfenden Wachheit, seiner Unkorrumpierbarkeit, seinen Entertainerqualitäten. Dass an einem Sonntagmorgen 800 Menschen kommen und dass sie das, was Christoph Schlingensief zu erzählen hat, an sich heranlassen, hat wiederum mit diesem großartigen Publikum in Freiburg zu tun.


Was man in deutschsprachigen Theaterleitungen über das Jahr 2009 sonst noch denkt, sagen: Andreas Beck (Schauspielhaus Wien), Karin Beier (Schauspiel Köln), Thomas Bockelmann (Staatstheater Kassel), Amelie Deuflhard (Kampnagel Hamburg), Matthias Fontheim (Staatstheater Mainz), Elmar Goerden (Schauspielhaus Bochum), Markus Heinzelmann (Theaterhaus Jena), Jan Jochymski (Theater Magdeburg), Ulrich Khuon (Deutsches Theater Berlin), Sewan Latchinian (Neue Bühne Senftenberg), Julia Lochte (Münchner Kammerspiele), Enrico Lübbe (Theater Chemnitz), Joachim Lux (Thalia Theater Hamburg), Stephan Märki (Nationaltheater Weimar), Roland May (Theater Plauen-Zwickau), Barbara Mundel (Theater Freiburg), Amélie Niermeyer (Schauspielhaus Düsseldorf), Christoph Nix (Theater Konstanz), Elias Perrig (Theater Basel), Oliver Reese (Schauspiel Frankfurt), Friedrich Schirmer (Deutsches Schauspielhaus Hamburg), Holger Schultze (Theater Osnabrück), Wilfried Schulz (Staatsschauspiel Dresden), Kathrin Tiedemann (Forum Freies Theater Düsseldorf), Lars-Ole Walburg (Schauspiel Hannover), Barbara Weber (Theater Neumarkt Zürich), Hasko Weber (Staatstheater Stuttgart), Tobias Wellemeyer (Hans-Otto-Theater Potsdam), Kay Wuschek (Theater an der Parkaue Berlin).