Koffer, Kohle und die Bundesrepublik

von Rudolf Mast

Berlin, 7. Januar 2010. Fotografie und Film wird bis heute die Fähigkeit zugeschrieben, die äußere Wirklichkeit so exakt aufnehmen zu können, dass sie sich für die Dokumentation eben jener Wirklichkeit nicht nur eignen, sondern darin ihren eigentlichen Daseinszweck finden. Doch schon den Erfindern und ersten Anwendern der noch nicht gar so alten Technik war klar, dass sich bei dem Resultat der Belichtung lichtempfindlichen Materials nicht um die Reproduktion der Wirklichkeit handelt, sondern um eine Konstruktion.

Umgekehrt gibt es zwar so gut wie keinen Karren, vor den sich das Theater in seiner langen Geschichte noch nicht hat spannen lassen müssen; doch dass sich mit der Bühnenkunst ein Abbild der äußeren Wirklichkeit herstellen ließe, hat bis heute noch niemand ernsthaft behauptet. Allenfalls ein Abbild der umgebenden Sitten wollten Theaterexperten früherer Zeiten darin einst erkennen.

Insofern ist es kein Selbstläufer, dass sich seit einem guten Jahrzehnt der Begriff "Dokumentartheater" nicht nur hält, sondern die Inszenierungen, die darunter firmieren, sich wachsender Beliebtheit erfreuen. Damit bezeichnet werden vornehmlich Arbeiten von Vertretern der Gießener Schule, zu denen auch Hans-Werner Kroesinger gehört, der regelmäßig mit dem Hebbel am Ufer in Berlin zusammenarbeitet und nun im HAU 3 seine neueste Produktion (um nicht "Stück" zu sagen) präsentierte.

Verflechtungen der Wirtschaft mit der Politik

Gegenstand der Erkundungen ist Friedrich Flick, einer der wichtigsten und umstrittensten Persönlichkeiten der deutschen (Wirtschafts-)Geschichte im 20. Jahrhundert mit steilem Aufstieg in der Weimarer Republik, engsten Verstrickungen während der NS-Zeit und einem erstaunlich reibungslosen "Neuanfang" nach dem Krieg.

Und bis heute steht der Name Flick für eine der größten politischen Krisen der BRD, ausgelöst durch den gleichnamigen Spendenskandal Anfang der 80er. Daran erinnert ein Geldkoffer, der in einer gläsernen Vitrine auf der farblosen Bühne steht. Er ist schon vor Beginn beleuchtet und sticht daher aus dem Einheitsgrau hervor. Zum Zeitpunkt der Schmiergeldaffäre war Friedrich Flick jedoch schon lange tot, und der Sohn führte den Konzern. Mit Pointierungen ist es halt so eine Sache, aber vielleicht soll der Koffer ja auch grundsätzlicher auf die politische Macht des großen Geldes verweisen. Das tut der Titel des Abends "CAPITAL politics" sogar in Großbuchstaben – ein neckisches Spielchen mit der doppelten Bedeutung des englischen Wortes für Kapital.

Gang durchs Museum

Davon häufte Friedrich Flick durch die Spekulation mit Aktien so viel an, dass er zu Beginn der 30er Jahre zu einem Industriemagnaten aufstieg, der im "Dritten Reich" Zwangsarbeiter ausbeutete und mit Nazigrößen verkehrte. Vor allem diesem Lebensabschnitt widmet sich der Abend. Dafür verwendet er Protokolle der Verhandlung vor dem amerikanischen Militärgericht in Nürnberg, die an den Wänden der als Museum gestalteten Bühne hängen. Doch einmal abgenommen, büßen diese "Dokumente" auch den letzten dokumentarischen Charakter ein.

Verantwortlich dafür sind die Auswahl der Texte und die Art des Vortrags, die beide zwangsläufig eine Wertung sind. Denn auch wenn die fünf Darsteller (um nicht "Schauspieler" zu sagen) sachlich-neutral gekleidet sind und sich um eine ebensolche Sprechweise bemühen, geben sie ihren Worten mit dem körperlichen und gestischen Ausdruck eine Richtung. Mal, wie im Falle der zur Trauerrede einheitlich verschränkten Hände, zielt die aufs Klischee, mal, wie beim kollektiven Niederknien der "lieben Mitarbeiter", führt sie in die Karikatur. Ein Übriges tut die eingespielte Soundcollage, die Hans Albers und Heinz Rühmann mit bedrohlichem Maschinengrollen mischt.

Worte der 80er, Bilder aus den 30ern

Noch grobschlächtiger verfährt jedoch der Text, der auf die Schuldfrage von Nürnberg unmittelbar die Flick-Affäre folgen lässt, um in einem zweiten Durchgang zu den Worten aus den 80er Jahren Bilder aus den 30ern zu zeigen und so beides miteinander kurzzuschließen. Dass nicht nur die Chronologie durcheinandergeraten ist, erweist sich, wenn am Ende in den ohnehin verkochten Ein-Topf auch noch der Enkel Friedrich Flicks und dessen Kunst-Sammlung geworfen werden. Man muss den Vorgang nicht Sippenhaft nennen, um sich massiv daran zu stoßen. Doch belegt er, dass der Begriff "Dokumentartheater" letztlich ein Programm zur moralischen Ertüchtigung beschreibt, vor dessen ideologischen Begleiterscheinungen bereits ein anderer Friedrich kapitulieren musste. Der heißt Schiller und hatte gerade erst Geburtstag. Es war allerdings schon der 250.

 

CAPITAL politics
von Hans-Werner Kroesinger
Regie: Hans-Werner Kroesinger, Ausstattung: Valerie von Stillfried, Sound: Daniel Dorsch.
Mit: Judica Albrecht, Armin Dallapiccola, Ana Kerezovic, Gotthard Lange, Lajos Talamonti.

www.hebbel-am-ufer.de


Mehr zu Hans-Werner Kroesinger im nachtkritik-Archiv: Zuletzt ließ er im Mai 2009 in Vermauern am Berliner Maxim-Gorki-Theater die Dokumente sprechen.

 

Kritikenrundschau

Grundsätzlich gelungen findet Christine Wahl im Berliner Tagesspiegel (9.1.) die neue dokumentarische Unternehmung von Hans-Werner Kroesinger, den sie als Ausnahme-Erscheinung innerhalb des aktuell grassierenden "Doku-Hipster-Business"  empfindet, da er ihrer Ansicht nach "nicht einfach das nächstliegende Weltbild mit den passenden Dokumenten garniert, sondern tatsächlich einen Untersuchungsprozess in Gang setzt." Seine Textcollage zum Flick-Komplex nun focussiere "den zeitlos-aktuellen Systemaspekt – bis zur Flick-Parteispendenaffäre Anfang der achtziger Jahre, als längst Friedrich Flicks Sohn den Konzern führte." Doch ist die Vorlage besser, als die Umsetzung, kann man aus Wahls Schilderungen schließen, denn zu ihrem Bedauern "unterliegen Kroesingers Akteure mitunter der Verführung, dem Prototyp eigene Charaktermasken aufzusetzen. Für Kroesingers Konzept, bei dem eine weitgehend neutrale Sprache besonders wichtig ist, weil es darum geht, aus verräterischen Wiederholungen, entlarvenden Metaphern oder überraschenden Übereinstimmungen in einander eigentlich widersprechenden Dokumenten die Strukturen hinter den Worten sichtbar zu machen, ist das schwierig."

Beeindruckung aber auch Ermüdung angesichts des Materialoverkills gibt Volkmar Draeger im Neuen Deutschland (9.1.) zu Protokoll. Es sei eine Mammut-Arbeit, der sich Hans-Werner Kroesinger unterzogen habe. "Für seine Produktion über den Unternehmer Friedrich Flick muss er Berge an Archivmaterial recherchiert haben, um die unheilige Allianz von Kapital und Politik an konkretem Beispiel aufzufächern." Fast jedoch erdrücke die Fülle der Fakten, wie fünf Schauspieler sie mit verteilten Rollen vortragen würden. " Judica Albrecht, Armin Dallapiccola, Ana Kerezovic, Gotthard Lange und Lajos Talamonti teilen sich in Rollen und Textfluten, tanzen gar im Walzertakt ab. Der Ermüdung bei soviel Material können sie jedoch nicht gegensteuern. Vielleicht hat Kroesinger das sogar beabsichtigt."

 

 

 

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