Rotkäppchens Verletzungen

von Reinhard Kriechbaum

Graz, 7. Januar 2010. Als fortgeschrittenes Semester täte unsereiner freilich misstrauisch werden, wenn einen die vermeintliche Oma auffordert, sich der Kleider zu entledigen und zu ihr ins Bett zu kriechen. Aber das Mädchen tut's natürlich. Großmutter, warum hast du so viele Haare (und andere Dinge, die unerwartet üppig ausfallen)?

"Österreichische Erstaufführung" heißt es in Graz, aber damit flunkert man ein wenig: Die franco-kanadische Schauspielerin Marie Brassard hat "Peepshow" 2004 für sich selbst geschrieben. Sie zieht damit seither mit viel Erfolg durch die Lande und ist – 2005 schon – auch bei den Wiener Festwochen vorbei gekommen. Aber macht nichts. Als "Nach-Spiel" dürfte die Aufführung tatsächlich eine Erstaufführung im Lande sein.

Spielarten von Beziehungs-Mechanismen

Die Marthaler- und Schlingensief-geeichte Regisseurin Anna-Sophie Mahler hat sich für ein Zirkus-Oval entschieden. Auf enger Spielfläche schlüpft die famose Martina Stilp in die verschiedenen Rollen. Die meiste Zeit trägt sie eine blonde Perücke. Ein Seidentuch ist ein weiteres Accessoire. Im Wesentlichen geschieht die Personen-Identifizierung durch Stimme und subtile Bewegungen. Man kann die Leute im Ein-Frau-Stück gut auseinander halten, muss aber nicht: Im Grunde sind es ja Spielarten der gleichen Einstellung, der gleichen Beziehungs-Mechanismen.

Ob Rotkäppchen herself oder die noch nicht ganz volljährige Göre in der Bar, die sich einen Spaß draus macht, dass ein Mann sie beobachtet und ihr folgt – die Mischung aus Beinahe-Unschuld und etwas zu mutiger Neugier ist symptomatisch. Ein bisserl leichtsinnig also tändeln die jungen Damen mit dem anderen Geschlecht. Meistens geht eh alles gut. Etwa mit jener Göre, die einen entlaufenen Hund zum rechtmäßigen Besitzer zurückbringt und dort mit Lederkluft und Fesselung konfrontiert wird. "Au fein, eine Sache von jemandem erklärt zu bekommen, der was von der Sache versteht", denkt sie sich. Und nachher: "War's das?" Ja, das war's, du kannst dich umziehen und duschen. (Manchmal kommen in dem Frauenmonolog ja auch die Männer zu Wort.)

Ausschnitte und Episoden

"Peepshow" macht vorwiegend die kleinen Verwundungen zum Thema. Die Holzspäne, die man sich beim Umgang mit aus rohen Brettern schnell gezimmerten Beziehungskisten unweigerlich einzieht. Das geht anderthalb Stunden so dahin, nicht ganz ohne Längen (denen Martina Stilp und die Regisseurin aber gut gegensteuern). Nur einmal geht es wirklich ans Eingemachte, wenn sich die einsame Lehrerin als eine herausstellt, die sich mit der Rasierklinge selbst an den Genitalien verletzt und so seelischen Schmerz in offenbar leichter zu ertragenden körperlichen Schmerz umwandelt.

Warum "Peepshow"? Man sehe immer nur eine Episode, einen Ausschnitt vom Ganzen, erklärt die Autorin. Die beständige Aufforderung, sich Situationen – und vor allem die Folgen – auszumalen. Das Unaufdringliche, absolut Unprätentiöse ist die Stärke dieser Aufführung. Da haben Anna-Sophie Mahler und Martina Stilp ungemein genau und mit Akribie daran gearbeitet, jedes Zuviel wegzubringen. So hört man doppelt gerne auf das, was Gerriet K. Sharma vor aller Augen und Ohren auf Laptop und allerlei Gerät mit Reglern und Knöpfen zaubert, im Dolby-Surround-Effekt um die drei Publikumsreihen im Zirkusrund. Da bekommt schon das Kratzen einer musik-losen Schallplatte Symbolwert.

Seelenstriptease

Einmal tanzt Martina Stilp und einige aus dem Publikum dürfen die Szene mit Taschenlampen beleuchten. Man wird mit verblüffend einfachen Mitteln bei Laune gehalten. Und doch schleicht sich der Verdacht ein, einem sympathisch leisen, aber durchaus kunstgewerblich-zeitgeistigen Spektakel beizuwohnen. Tragen die Geschichten wirklich, oder nimmt sich die Generation 35+ in ihren Seelenerkundungen und dem Mitteilungsdrang zum Thema ein kleines bisserl zu wichtig? Mag sein. Was aber stark für den Rotkäppchen-Mythos à la Marie Brassard spricht: Wir alle liefern uns gerne dem Vagen, Unplanbaren, dem Unerwarteten aus. "Web 2.0" war 2004 war noch nicht so Thema, aber vielleicht würde Marie Brassard heute ihre "Peepshow" einer Twitter- oder Facebook-Umgebung einschreiben. Dort lauern auch Männer, manchmal Wölfe und gelegentlich sogar Ungeheuer.


Peepshow
von Marie Brassard, deutsch von Jan Rohlf
Regie: Anna-Sophie Mahler, Bühne und Kostüme: Sophie Krayer, Dramaturgie: Regula Schröter.
Mit: Martina Stilp und Gerriet K. Sharma (Musik).

www.buehnen-graz.com

 

Mehr zu Anna-Sophie Mahler im nachtkritik-Archiv: Im April 2009 inszenierte sie in Zürich Goethes Leiden des jungen Werther. Beim nachtkritik-Theatertreffen 2009 erreichte sie mit ihrer Solothurner Inszenierung "Die Glasmenagerie" einen überraschenden 5. Platz.

 

 

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