Das Gift der Armut

von Sarah Heppekausen

Köln, 8. Januar 2010. Zu sehen gibt es eine Menge in der langen Containerbaracke, die sich über die ganze Breite der Halle Kalk erstreckt: Sich schlagende, begrapschende, schminkende, Geld zählende, Gameboy spielende, Chips in sich hineinstopfende Mitglieder einer Großfamilie. Nur zu hören ist nichts. Die großen Fenster lassen Blicke zu, aber keinen Ton heraus. Als endlich jemand die Wohnung verlässt, dem schalldichten Raum einen Schlitz verpasst, schreit gleich ein anderer: "Tür zu!"

Nichts zu machen. Solange sich die Schauspieler im Inneren des Containers aufhalten – und das tun sie meistens – sind sie akustisch nicht wahrzunehmen, bleiben ihre Worte bloße Mundbewegungen. Karin Beier inszeniert Ettore Scolas "Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen" – betitelt als Uraufführung – als nahezu lautloses Seh-Stück. Während bei Scola häufig die Flüche, die Schimpfereien und das Babygeschrei schon zu hören sind noch bevor die Kamera das passende Bild einfängt, erklärt sich in der Theateraufführung das Wort nur durch das Bild, durch die Geste.

Schamloser Blick in die schmutzige Welt der Unterschicht

Die Schauspieler sprechen ja die ganze Zeit, nur kann sie der Zuschauer nicht hören. So entpuppt dieser sich in der Vorstellung permanent als Voyeur, der lustvoll Szenen beobachtet, die ihn eigentlich nichts angehen. Beier präsentiert den schamlosen Blick von außen in die schmutzige Welt der Unterschicht. Scolas Sozialdrama, das als polemischer Angriff gegen Pasolinis Glauben an die revolutionäre Kraft des Subproletariats, gegen die Illusion einer Solidarität der Armen, verstanden wurde, erhält so eine weitere kritische Komponente, durch eine sozusagen zugeschaltete Perspektive. Der Zuschauer, der nicht hört, was nebenan, was vor seinen Augen passiert, muss auch nicht tätig werden.

Damit ist die Inszenierung im Heute. Und da will Karin Beier auch hin: Scolas Familie aus den Elendsvierteln Roms der 70er Jahre verlagert die Regisseurin nach Deutschland. Statt Maccaroni wird Fertig-Kartoffelbrei serviert, statt Wein gibt es Bier aus Plastikflaschen. Attribute des hiesigen Prekariats sind Handy, Bildzeitung, Aldi-Tüte, Flachbildschirm und Trainingsanzug (Kostüme: Maria Roers). Scolas fliegender Händler Cesaretto heißt in Köln "Karl-Heinz Kaczmarczik's rollender Schnäppchenmarkt".

Es sind extrem viele Klischees, die Beier bedient, gnadenlos. Um Scolas neorealistischen Ansatz transportieren zu können, muss allerdings auch eine Aktualisierung stattfinden.Wie im Film treiben die Gier nach Alkohol, Sex und Geld die Familienmitglieder an. Ausgelebt werden die Triebe im blankgeputzten Schau-Fenster. Eigentlich will jeder bloß an die Millionen des Patriarchen heran (im Film heißt er Giacinto, hier Norbert). Aber Beier gibt den würdelosen, gewaltvollen Beschäftigungen noch eine andere Erklärung: Langeweile. Christoph Luser zitiert in der Rolle des Transvestiten die Worte Jelénas aus Tschechows "Onkel Wanja": "Ich sterbe vor Langeweile… Ich weiß nicht, was ich tun soll." Er liest vor der Baracke, deshalb kann der Zuschauer ihn hören.

Erzwungene Stille, die Hören macht

Es lässt sich erstaunlich viel an diesem Abend verstehen, ohne dass man einen vollständigen Dialog zu Ohren bekommen hätte. Die Sehnsucht der Frau im roten Kleid und mit Diadem auf dem Kopf (Karin Pfammatter) zum Beispiel: Jeder Griff zum Busen ist ein erschreckend devoter Aufschrei nach Beachtung. Oder die sich selbst mit Messerstichen in den Unterleib verletzende Schwiegertochter (Lina Beckmann). Sie lächelt dabei fast teuflisch, denn sie weiß, dass sie nur so ihren Gatten noch erregen kann. Für Sentimentalitäten bleibt allerdings genauso wenig Raum wie bei Scola. Sonst würde die Zurschaustellung im Wohncontainer auch schnell zur eitlen Farce der Bessergestellten.

Die erzwungene Stille schafft auch noch etwas anderes. Sie hebt die ungehörten und die wenigen hörbaren Laute hervor. Das fließende Wasser beim Putzen der Wanne, die auf der Veranda steht. Das animalische Lachen der Ehefrau (Julia Wieninger), die vor dem Fenster beobachtet wie ihr Mann, dem sie Rattengift unters Essen gemischt hat, fast krepiert. Und Markus John als Patriarch Norbert leidet und krampft hinter der Glasscheibe in einer gefühlten Lautstärke von 100 Dezibel.

Es ist als hätte man den Ton abgedreht beim Fernsehen. Wie bei dem TV im Container, auf dem die ganze Zeit über die Verkaufssendung von QVC läuft. Mit dramaturgisch komponierten Parallelen: Trinkt die verwirrte Großmutter (ein witziger Michael Wittenborn) Spülmittel, wird Spülmittel angepriesen; schäumt Norbert das Rattengift aus dem Mund, schäumt im TV das Klo über usw. Den Alltag der Armen mit dem Inhalt von QVC gleichzusetzen, ist tatsächlich eine Gemeinheit. Um eine freundliche Darstellung ging es aber weder Ettore Scola 1976 noch Karin Beier heute. "Bemerkenswert mitleidslos" heißt es im Kölner Untertitel entsprechend. "Es sind einfach Szenen" hätte wohl Tschechow gesagt.

 

Die Schmutzigen, die Häßlichen und die Gemeinen
Eine bemerkenswert mitleidslose Komödie (UA)

von Ettore Scola und Ruggero Maccari
Regie: Karin Beier, Bühne: Thomas Dreissigacker, Kostüme: Maria Roers, Musik: Jörg Gollasch, Choreografie: Valenti Rocamora I Tora, Kampf: Phil Bonney, Licht: Michael Frank.
Mit: Susanne Bart, Lina Beckmann, Jennifer Frank, Miriam Glaser, Markus John, Jan-Peter Kampwirth, Albert Kitzl, Christoph Luser, Murali Perumal, Karin Pfammatter, Dagmar Sachse, Torsten Peter Schnick, Michael Weber, Julia Wieninger, Michael Wittenborn.

www.schauspielkoeln.de

 

Mehr lesen über Karin Beier im nachtkritik-Archiv. Im September 2009 eröffnete Karin Beier die Spielzeit an ihrem Theater mit Shakespeares König Lear, die bisher von der Debatte um die Neubaupläne des Schauspielhauses begleitet wird.

 

{denvideo http://www.youtube.com/watch?v=FQoU-5EUlmg}

 

Kritikenrundschau

"Karin Beier hat den römischen Slum aus Ettore Scolas Film aus den 70er-Jahren kongenial ins Unterschichten-Milieu von heute übersetzt", meint Karin Fischer auf Deutschlandfunk (9.1.) zur Kölner Inszenierung "Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen", "mit einer Zugabe: der ebenso klugen wie witzigen Verdoppelung des Unterschichten-Fernsehens." Da das Stück über weite Strecken eine pantomimische Angelegenheit bleibe, fühle sich das ein bisschen an "wie Big Brother gucken ohne Ton." Scola habe seinen düsteren Film "auch mit einem Schuss Heiterkeit, ja Romantik" gewürzt. In Köln nun sei "die Heiterkeit mehr aufseiten des Publikums, die Inszenierung ist heller, auch intellektueller." Karin Beier habe aus dem Film "ein Bühnenstück gemacht, bei dem das Publikum die Dialoge praktisch selbst erfinden muss. Das ist spannend wie ein Krimi, und – keine Sorge: mit ein paar Folgen GZSZ, Big Brother oder Kölner Tatort ist auch diese Aufgabe spielend zu bewältigen."

Trotz der Diskussionen um Kölns Theaterneubau sei Karin Beier die Lust "an polarisierenden Bauten offensichtlich nicht vergangen", schreibt Vasco Boenisch in der Süddeutschen Zeitung (11.1.). In einem von Thomas Dreißigacker entworfenen Wellblechcontainer sei die Bühnenfassung des Films von Ettore Scola als "formvollendete Hartz-IV-Pittoreske" zu sehen. Alles gehe darin "vorüber – auch am Zuschauer. Auch das eigentlich Ergreifende. Und das ist die radikale Absicht." Denn alles sei hier "gleich gültig: gleichgültig. Es will gar nicht berühren, nur abbilden. Wir sind Zeugen, keine Richter, ganz in Scolas Sinn." Mit diesem oberflächlichen Blick spiele die Aufführung, "indem sie uns nur gucken, aber nicht zuhören lässt." Manchen Gag aber hätte der Abend indes nicht gebraucht: "Er hielte auch so zwei Stunden lang die Spannung, das 15-köpfige Ensemble packt das Spielen im Schallvakuum eindrucksvoll. Karin Beier ist mit dieser Hörverweigerung ein Wagnis eingegangen, das ein außergewöhnliches Theatererlebnis schafft."

Das stumme Spiel in Karin Beiers Inszenierung zeitige zweierlei Effekte, beobachtet Christian Bos im Kölner Stadt-Anzeiger (11.1.): "Zum einen verstärkt es das unbehagliche Gefühl, einen eigentlich unerlaubten Blick in die Intimsphäre Dritter zu erhaschen. Die Halle Kalk hat sich in den Public-Viewing-Ort einer Unterschichtbegaffungs-Sendung wie 'Big Brother' oder 'Frauentausch' verwandelt. Zum anderen erhebt die kaum durchbrochene Stille das Hausen der Container-Sippe in den Status einer durchchoreografierten Handlung. Man sucht und findet Schönheit in den zwanghaften Leerläufen des dargebotenen Daseins." Wie bei einem klassischen Handlungsballett ergäben sich "Plot und Charakterisierungen aus den Bewegungen der Figuren. Wir dürfen, wir sollen glotzen, rätseln müssen wir nicht." Bis man begreife, dass man zwei Stunden lang in einen etwas verzerrten Spiegel geguckt habe: "Auch das ist, spricht man es aus, nur ein Theaterklischee. Aber Beier und ihre angstlosen Schauspieler haben es schonungslos, triumphal umgesetzt."

Thomas Linden von der Kölnischen Rundschau (11.1.) hat mit "Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen" "eine der originellsten Regieleistungen, die Karin Beier in Köln gezeigt hat", gesehen. Schon das Bühnenbild von Thomas Dreissigacker sei "ein kleiner Geniestreich, der die Richtung für den Rest des Abends vorgibt. Denn es gelingt ihm, den Voyeurismus des Fernsehens noch zu übertrumpfen, noch deutlicher und damit obszöner die Lust am Schauen auszustellen." Aus der "vollkommen geschlossenen Galaxie"des Bühnenbilds gebe es für die Dargestellten "keine Flucht, selbst wenn sie den Container einmal verlassen, bleiben sie immer Teil dieser Welt. Eine bittere Erkenntnis; in ihr liegt die Wucht der Inszenierung, des Bühnenbilds und die Leistung der Darsteller. So dicht und spannend kann Theater sein, so überzeugend kann es die elektronischen Medien aus dem Feld schlagen. Da kein Dialog existiert, muss die Geschichte, die dramaturgisch klug zersplittert, aber wie mit einem unsichtbaren Magneten immer auf Kurs gehalten wird, alleine über Aura und Aktionen der Darsteller erzählt werden."

 

 

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