Das Dritte im Bunde

von Esther Boldt

12. Januar 2010. Für das Theater braucht es nicht viel: Einen, der etwas tut, und einen, der ihm dabei zuschaut. Fertig ist die Aufführung. Diese Minimaldefinition von Theater ist historisch unumstritten, ästhetische Differenzen gibt es vor allem bei den Bedeutungs- und Realitätsebenen, die sie herstellt.

Auch die leitbildende zeitgenössische Theaterwissenschaft konnte sich auf die Magie der Ko-Präsenz von Akteuren und Rezipienten stets verständigen – sei es nun Erika Fischer-Lichtes "Ästhetik des Performativen" (2004) oder Hans-Thies Lehmanns "Postdramatisches Theater" (1999). Nach André Eiermann haben diese Kategorien aber heute keine Gültigkeit mehr, das Schwelgen in der tröstlichen Gegenwart des Anderen ist vorbei.

Aus seiner Beobachtung zeitgenössischer Performances schlussfolgert er nämlich, dass die gleichzeitige Anwesenheit von Künstler und Rezipient nicht länger eine Minimaldefinition der Aufführung sein kann, da sie längst nicht mehr unbedingt gegeben ist. Statt der Unmittelbarkeit der Theatersituation zu huldigen, entwickelt er unter dem Begriff des "Postspektakulären Theaters" Begrifflichkeiten, die das Potenzial der Aufführung vielmehr in ihrer Mittelbarkeit suchen.

Verbunden durch eine symbolische Ordnung

In seiner Dissertation, vorgelegt am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen, verbindet Eiermann ausführliche Analysen aktueller Performances mit der sorgfältigen Lektüre theaterwissenschaftlicher Standardwerke. Und er denkt mithilfe der Psychoanalyse von Siegmund Freud über Jacques Lacan bis Slavoj Zizek das Verhältnis von Zuschauern und Performern neu. In Abgrenzung und Weiterentwicklung von Lehmann und Fischer-Lichte definiert er es nicht als Zweierbündnis, sondern als Dreierverhältnis: Künstler und Rezipient sind durch eine symbolische Ordnung verbunden, die ihnen ihre jeweilige Rolle im Spiel zuweist.

Diese symbolische Ordnung ist aber heute nicht mehr intakt, ihre Brüche offenbaren sich im unstet gewordenen Rezeptionsverhältnis. Sie wird erschüttert und reflektiert, wenn Regelverletzungen auftauchen und etwa die Performer sich der Sichtbarkeit entziehen oder es gar keine menschlichen Darsteller gibt, wie es in Aufführungen so unterschiedlicher Künstler wie dem Performer Rabih Mroué, der Tänzerin Mette Ingvartsen, dem bildenden Künstler Erwin Wurm, dem Choreografen Jerome Bel und dem Regisseur Heiner Goebbels geschieht.

Bemerkenswerte Bandbreite

Die Bandbreite der im "Postspektakulären Theater" verhandelten Künstler ist dabei bemerkenswert, ebenso ihre Aktualität: Es geht fast ausschließlich um Arbeiten aus den letzten zehn Jahren. So ist das Buch auch ein Streifzug durch die Breite des zeitgenössischen Theaters – wobei der Begriff Theater hier stets in enger Verwandtschaft zu Performance, Konzepttanz und den Bildenden Künsten situiert wird.

So verschwindet Rabih Mroué beispielsweise in seiner Performance Looking for a missing employee hinter dem Rücken der Zuschauer aus der Performance, während seine vorgebliche Life-Projektion auf der Leinwand weiterspricht. In Heiner Goebbels Stifters Dinge gibt es gar keine menschlichen Darsteller, sondern nur Klaviere, Lautsprecher und Zweige – und der Zuschauer sieht sich plötzlich nicht mehr in einem anderen Menschen gespiegelt, sondern in einer Ordnung der Dinge. Es kommt dabei zu Rissen in der Wahrnehmung.

Die Einheit von Theorie und Praxis

Dieser Entzug, die Unverfügbarkeit schafft jedoch auch Freiräume, sie stiftet den Zuschauer an, die entstehenden Lücken als Spielräume des Imaginären zu nutzen. Zudem folgt Eiermann der nicht nur in Gießen gängigen Mode, Praxis und Theorie zusammen zu denken: Unter anderem anhand eigener künstlerischer Arbeiten denkt er Theoriebildung und Kunstproduktion als zwei verschiedene Formen der Gegenwartsreflexion zusammen.

Dem gelegentlich aufkeimenden Verdacht, er würde die verhandelten Inszenierungen mit Theorie überfrachten, wirkt der Autor entgegen, indem er sich zum einen in seinen präzisen Analysen der Aufführungen tief in ihre Strukturen und Zusammenhangsweisen hineindenkt. Zum anderen verweist er darauf, dass auch die Künstler selbst sich in enger Nachbarschaft zur Wissenschaft sehen und sich – wie Mette Ingvartsen – teilweise explizit auf sie beziehen.

In seinem Fleiß, der argumentativen Gründlichkeit und bisweilen auch seiner Umständlichkeit ist es dem "Postspektakulären Theater" dennoch stets anzumerken, dass es eine Dissertation ist. Doch es ist eine bereichernde, teilweise spannende und vergnügliche Lektüre, die dazu anregt, das eigene Verhältnis als Zuschauerin zu überdenken und für diese Reflexion fruchtbare Kriterien bietet.

 

André Eiermann
Postspektakuläres Theater. Die Alterität der Aufführung und die Entgrenzung der Künste.
Transcript Verlag, Berlin 2009, 424 S., 35,80 Euro


Mehr Buchrezensionen? Bitteschön, zum Beispiel zu Luc Bondys Roman Am Fenster oder Helene Varopoulous Passagen, ihren gesammelten Reflexionen zum zeitgenössischen Theater.

 

 

Kommentare  
André Eiermann: wenn das schon alles ist
Was den Teaser zu diesem Beitrag betrifft:
Erstens muss man ZUERST Fischer-Lichte gelesen habe, und vielleicht auch irgendwann mal noch Lehmann.
Und die boshafte Ironie, dass man jetzt diesen Burschen "unbedingt gelesen haben muss" ist wohl ziemlich berechtigt, wenn das schon alles ist, was da drin steht. Diese "symbolische Ordnung die den Platz zuweist" nannten Goffman und Schoenmakers "frame", und das schon seit mehr als zehn Jahren.
So, und an die Autorin:
OHA:
"In seinem Fleiß, der argumentativen Gründlichkeit und bisweilen auch seiner Umständlichkeit ist es dem "Postspektakulären Theater" dennoch stets anzumerken, dass es eine Dissertation ist."
OHA. Das ist bei Ihrer habilitationsreifen Oberflächenbesprechung natürlich nicht der Fall...
Postspektakulärer Eiermann: Störung der s.O.
@2. Ihre unnötige Provokation mal beiseite gelassen, ob denn Erika Fischer-Lichte oder Hans-Thies Lehmann aufs imaginäre Goldtreppchen gestellt werden sollten (die Frotzelei unterschreitet das Niveau beider, so viel ist sicher). Aber der Punkt der Besprechung und des Autoren Eiermann scheint doch nicht die tatsächlich alte Erkenntnis zu sein, dass Produzent und Rezipient in einer symbolischen Ordnung situiert sind. Es geht doch offensichtlich vielmehr um die Frage, was passiert, wenn diese Ordnung "nicht mehr intakt ist" bzw. wie bewusst gestört wird, so dass man jenseits der Zurschaustellung/des Spektakels gerät. Was haben Sie zu dieser Frage beizutragen? Weiter nur Höhnisches?
Postspektakuläres Theater: Welche Fragen sich stellen
Die frage stellt sich doch, was ist nun mit dem begriff des Postspektakulären Theaters anzufangen. Eine bestandsaufnahme der aktuellen theaterlandschaft - die ja definitorisch keine "theater"landschaft sondern höchstens eine "bühnen"landschaft wäre - ist sicherlich das eine und die beobachtung, dass die präsenz des performers in frage gestellt wird, überrascht angesichts von virtualitätsdiskursen, die diese produktionen umranken, auch wenig. aber lässt sich damit gleich eine definition verwerfen und eine neue schustern? was wäre das denn nun, theater als vollzug ohne akteure? ist nicht das inszenierte verschwinden des performerkörpers gerade als zeichen vor dem hintergrund der alten these der kopräsenz zu lesen und somit keine neue form der darstellenden kunst als vielmehr ein spiel mit eben dieser regel, die sie dadurch bestätigt anstatt zu widerlegen. Man müsste ja eine emanzipation der aufführung, des theaters als praxis, vom performerkörper konstatierten, das ist aber nicht der fall. Oder etwa doch? Weder für goebbels noch für mroué zeichnet sich hier ja ein modell ab. Etwas derartiges lässt sich aber durchaus von der postdramatik sagen. es wäre ja absurd, die postdramatik als einen bloßen reflex auf andauerndes spiel mit den regeln und der vormacht des literarischen im theater zu lesen. und maschinistische aufführungspraktiken und rauminszenierungen finden sich im kontext der bildenden kunst UND des theaters bereits im barock. von der avantgarde des 20. jahrhunderts ganz zu schweigen. ein trend, eine diskussion, eine erweiterung - schön, das ist doch was! aber warum gleich die revolution ausrufen?
André Eiermann: spielen wir mal Jeopardy
Wenn es tatsächlich um die Frage geht, was passiert, wenn diese Ordnung gestört ist, dann ist die Antwort aber sehr sehr mager, denn alles die Autorin dazu sagt ist:
"Dieser Entzug, die Unverfügbarkeit schafft jedoch auch Freiräume, sie stiftet den Zuschauer an, die entstehenden Lücken als Spielräume des Imaginären zu nutzen."
Und um den Hohn nicht ganz außenvor zu lassen, spielen wir mal Jeopardy. Dann könnte die Frage auf diese Antwort auch gewesen sein: "Was passiert, wenn Kinder die Augsburger Puppenkiste anschauen?"

"Postspektakulär", lächerlich... - ähäh herr lehrer ich hab auch nen neuen begriff der wo fürs theater passn tut, aber wo noch net gsagt wurde, oleck, genau ich tu mal auch noch POST vors wort hin, des machn die großen auch immer, mh mh herr lehrer guck mal, des is voll cool, ich hab auch ihren namen als beispiel drin reingemacht, jetz tu ich groß rauskommen halt, eventuell, oder
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