Potenzierung des Grauens

von Hans-Christoph Zimmermann

22. August 2007. Die Darstellung des Terrors im Konzentrationslager gehört seit Ende der Nazizeit zu den großen Tabus der Kunst. Je größer der Abstand zum historischen Ereignis, desto löchriger wurde allerdings das Verdikt. Ob Paul Celan, Primo Levi, Martin Sherman, Frank Beyer u.v.m., später dann mit emphatischen Diskussionen auch in Populärformaten wie der Fernsehserie "Holocaust" oder Art Spiegelmans "Mouse"-Comic. Jetzt zeigte die niederländische Theatertruppe Hotel Modern ihre Figurentheater-Produktion "Kamp", zu deutsch "Lager", über Auschwitz bei den Salzburger Festspielen und löste – auch bei Kritikern – begeisterte Reaktionen aus. Warum eigentlich?

Auschwitz als Bausatz

"Lager" stellt den Alltag in Auschwitz nach. Mit Hilfe von Figurentheater. In einem architektonischen Nachbau des gesamten Lager-Komplexes im Maßstab 1:20 mit dem "Arbeit macht frei"-Tor, den steinernen Bauten der NS-Schergen, der Bahnlinie samt Selektionsrampe, den Baracken der Inhaftierten sowie Gaskammern und Verbrennungsöfen. "Belebt" wird das Lager von etwa 3.000 fingergroßen Figürchen in Häftlings- und SS-Uniformen; die drei Spieler Pauline Kalker, Arlène Hoornweg und Herman Helle bewegen einzelne Figuren, aber manchmal auch ganze Gruppen durch den Alltag von Auschwitz. Man sieht die Ankunft des Zuges und die Selektion; ein Häftling fegt manisch die Straße, ein anderer wirft sich in den Drahtzaun, vier Häftlinge werden gehenkt. All das wird von handgroßen Kameras erfasst, die die Spieler durch das Miniaturlager bewegen. Die Bilder in sepiabraunem Farbton zeigen sogar das Innere der Gaskammern und wie die Leichen in die Verbrennungsöfen geschoben werden.

Verfremdung ermöglicht Mitgefühl

In allen begeisterten Kritiken wird darauf hingewiesen, dass erst die Verfremdung in die Figurentheaterdimension die Tore des Mitfühlens öffnet. Das war einmal anders. In den siebziger Jahren machte gerade die Darstellung des individuellen Schicksals der Familie Weiss in der TV-Serie "Holocaust" den Naziterror für viele Deutsche erfahrbar. Was ist da inzwischen passiert? Ist die Identifikation mit den Figürchen einfacher als mit Schauspielern? Oder kommt da eher – und der Autor nimmt sich davon nicht aus, auch er war tief beeindruckt von der Produktion – die déformation personelle des Kritikers ins Spiel? Einmal wieder fühlen im Theater und zwar ohne Ironie, ohne dumpfbackige Späße, ohne Gebrüll – auch wenn es keine Menschen sind, die hier leiden.

Distanz statt gefühliger Identifikation

Denn "Lager" versagt sich nicht nur jede Form der Individualisierung von Leiden, es potenziert das Grauen noch dadurch, dass bis auf zwei Lieder kein einziges menschliches Wort zu hören ist. Nur Geräusche. Als ob Giorgio Agambens berühmter Satz  "Das Lager ist der Raum, der sich öffnet, wenn der Ausnahmezustand zur Regel zu werden beginnt" zur Anschaulichkeit gebracht worden wäre. Vielleicht liegt das Verstörende an "Lager" letztlich darin, dass die Darstellung der NS-Vernichtungsma­schi­nerie die "Entmenschlichung" der KZ-Opfer zu Figürchen voraussetzt, weil nur so die gefühlige Identifikation des Zuschauers in die Distanz zu zwingen ist. Da kann man schon verstehen, dass der Montblanc Young Directors Award bei den Salzburger Festspielen nicht an Hotel Modern, sondern an die Gruppe Peeping Tom verliehen wurde. Begründung: Ihre Produktion sei "eine Hommage an das Leben selbst".

 

Lager
Eine theatralische Animation in Echtzeit – ohne Worte
Regie und Spiel: Pauline Kalker, Arlène Hoornweg, Herman Helle, Sounddesign: Ruud van der Pluijm, Technik: Saskia de Vries und Joris van Oosterhout

www.hotelmodern.nl

 

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Kommentare  
zur Frage der Identifikation in Lager
Na, das verstehe ich ja nun nicht: Die Identifikation wird möglich und ist besonders schmerzhaft, weil man sich nicht mit Menschen, sondern Figürchen indentifiziert, die kein "gefühliges" Identifizieren erlauben, sondern eine Art Distanz-Identifikation. Es gibt aber keine Identifikation auf Distanz: Sie hebt die Distanz ja gerade auf, oder wo sollte sonst ihr Witz liegen? Kann also nur heißen: Man identifiziert sich gerade nicht, sondern - ja, was? Vielleicht ist das Erschreckende daran gerade, dass man NICHT mit-fühlt, sondern das Lager-Geschehen mit beobachtenden, forschenden, kühlen Augen betrachet und DAS nicht zu unserem Selbstbild passt, denn wer anbetracht solchen Leids KEIN Mitgefühl hat, ist ja wohl kein Humanist, das aber sind wir doch alle, laut Selbstverständnis. Der Schrecken damit deshalb, weil man erkennen muss, dass man auch und gerade DIESES Leid so distanziert zu betrachten vermag - oder wie ist das?
Fragt, beunruhigt, R. Reis
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