Um Kopf und Körper

von Anne Peter

Berlin, 13. Januar 2010. Wieder möchte man den nichtexistenten Preis für den schönsten Stücktitel des Jahres am liebsten schon im Januar vergeben. Und wiederum hätte ihn René Pollesch verdient. Überschrieb er vor einem Jahr das um Spieltische arrangierte Orgasmus-Würfeln im Volksbühnen-Foyer mit Du hast mir die Pfanne versaut, du Spiegelei des Terrors!, nennt er seine erste Produktion im Jahr 2010 nun, in Anlehnung an einen im Ventil-Verlag erschienenen Sammelband mit "Texten zu Subjektkonstitution und Ideologieproduktion", "Ich schau dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang!".

Diese Mischung aus "Casablanca"-Romantik und Adorno, bei gleichzeitiger Unerschrockenheit der Kampfansage an unsere bequeme Welt der Täuschungen! Entsprechend reißt Fabian Hinrichs, der diesen Neunzigminüter in der Berliner Volksbühne bewundernswerter Weise im Alleingang bestreitet, bei dem Wort "Verblendung" stets die Arme zur kämpferischen Hab-Acht-Stellung hoch.

Der Verblendungszusammenhang war ja schon immer das, woran der Autorregisseur mit Vorliebe zuppelte, in das er Löcher piekste und was er seinem Publikum schwungvoll vor den Augen wegzog. Der Verblendungszusammenhang, dem es hier zu begegnen gilt, besteht nach Pollesch einmal mehr darin, dass wir an Konstrukten wie "Sinn", "Seele", "Liebe", "Ursprung" festzuhalten gewillt sind, auch wenn uns die poststrukturalistische Theorie seit Jahrzehnten Anderes vorphilosophiert.

Fremdleben mit Dosengelächter?

So ist, laut Pollesch, der Sinn abwesend, die Seele nichts als "eine Außenbeziehung des Körpers mit sich selbst"; verlieben tun wir uns nur, weil wir von der Liebe gelesen haben; und was den Ursprung betrifft, so ist auch dieser eine Chimäre, schließlich wird man "aus einem Geist geboren und nicht aus einer Mutter!" Und dann wäre da noch eines von Polleschs Lieblingsbeispielen: die "weiße, männliche Hete", die natürlich nicht etwa für das Publikum in toto sprechen, geschweige denn die gesamte Menschheit repräsentieren kann. Hier liefert Jean-Luc Nancys Buch "singulär plural sein" weitere Stichworte.

Das "interpassive Theater" hat der fleißige Theorieaufgabler Pollesch jüngst bereits bei Calvinismus Klein in Zürich diskutieren lassen. Einige Textbrocken sind nach Berlin herübergeschwappt: Interpassives Theater wäre, erklärt Hinrichs die Interpassivitätstheorie des Wiener Philosophieprofessors Robert Pfaller, "der Schauspieler geht am Ende der Vorstellung mit Ihrem Partner nach Hause. Dann müssen Sie das nicht tun." Frei nach diesem Prinzip des delegierten Genießens bestellt Hinrichs denn auch immer wieder "Dosengelächter" aus der Tonabteilung, da müssten wir die Lachmuskeln eigentlich gar nicht mehr selbst betätigen.

Oder lieber mitklatschen und mitstöhnen?

Es geht hier also um Polleschs (derzeitige) Leib-und-Magen-Fragen. Und doch ist das Pollesch-Theater diesmal ganz anders. Was zum großen Teil dem famosen Präsenz-Bolzen Fabian Hinrichs zu verdanken ist. Und der Bereitschaft Polleschs, sich mit ihm auf neue Wege zu begeben. Hinrichs weiß mit seiner seltsam sehnigen Körperlichkeit und einer böse parodierenden Alleinunterhalter-Verve den leeren Volksbühnen-Raum mit dottergelbem Großvorhang (Bühne: Bert Neumann), in den immer wieder 80er-Jahre-Hits hineinschallen, stets zu füllen. Zwischendurch stimmt er Lieder zur Gitarre an und fordert zum Mitsingen auf, ebenso wie zum Mitklatschen, Mit-Arm-Schwingen, Mitstöhnen. Was ziemlich komisch ist. Allerdings kann es auch passieren, dass Hinrichs einem die elektrische Zahnbürste ins Gesicht hält... – Interaktivität at its worst.

Nachdem er mehrere Jahre, bis 2005, an Castorfs Volksbühne engagiert war und dabei auch in Pollesch-Stücken spielte, fiel Fabian Hinrichs in den letzten Jahren im Theater vor allem als Protagonist in Laurent Chétouanes eigenwilligen Körper-Sprech-Performances auf. In dessen Regie war er ein Solo-Hamlet, war Büchners Lenz, Hölderlins Empedokles und – auch das – Goethes Iphigenie.

Diesmal ist Platz für eigene Notizen

Jetzt wirft er Iphigenie-Reclam-Heftchen ins Publikum, während er jene berühmten Zeilen deklamiert: "das Land der Griechen mit der Seele suchend". Hinrichs streckt die Beine zum Riesenschritt und klagt im hohen Ton, vollführt typische Chétouane-Gestik. Denselben Ton mit derselben artifiziellen Betonung legt er jedoch auch für die Pollesch-Sätze an. Und wenn er davon spricht, dass wir nichts sind "als Erfahrungen der Körper", dann umgestet er seine nackten Glieder auf Chétouane'sche Weise, reibt an der eigenen Haut, streicht über Bauch und Beine. Hinrichs steht insofern mit seiner ganzen Schauspieler-Biographie auf der Bühne, und Pollesch lässt diesmal auch die spezifische Spielweise des Schauspielers mit in sein Theater hinein – was einen ungewohnten Kontrast ergibt, ein reizvolles Experiment.

Vielleicht lässt gerade diese Sprechweise, die nicht mehr atemlos und immer an der Grenze zur Hysterie von einem Gedanken zum nächsten springt, dem Zuschauer mehr Gelegenheit, selbst mit Fragen dazwischenzukommen? Zum Beispiel danach, ob Pollesch der interpassive Ansatz inklusive Dosengelächter tatsächlich zum bejahenswerten Modell gereicht? Und wo das abgelehnte interaktive Theater, diese "widerliche Kunstform der Geselligkeit", in schrecklichster Reinform eigentlich stattfindet? Sind das Spitzen gegen den Authentizitätskult um Jürgen Goschs Tschechow-Arbeiten, wenn es heißt "Nicht dieses russische Gebräu am Samowar, der auch nur innen warm macht. Das ist gar nichts, da drinnen"? Oder zielt Pollesch mit seiner Interaktivitätskritik vornehmlich auf den medialen Verblödungszusammenhang um Bohlen und Co.?

Wie füllt man ihn?

Früher schrieen die Pollesch-Performer in Hochgeschwindigkeit von ihren Sitzsäcken aus als Heidi-Hoh-Kollektiv gegen "die Interessen der Firma" an. Dann begannen sie hochkomisch übers Boulevard-Glatteis zu slapsticken. Und jetzt? Was ist das für ein Theater? Schwer zu sagen, möglicherweise ist es weder interaktiv noch interpassiv. Fürs erste hat man jedenfalls Lust, darüber nachzudenken.

 

Ich schau dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang!
von René Pollesch
Regie: René Pollesch, Bühne und Kostüme: Bert Neumann, Dramaturgie: Aenne Quiñones.
Mit: Fabian Hinrichs.

www.volksbuehne-berlin.de

 

Mehr über René Pollesch und Fabian Hinrichs lesen Sie in den entsprechenden Glossareinträgen. Dort finden Sie auch eine Linkliste aller die beiden betreffenden Nachtkritiken.

 

Kritikenrundschau

In der Berliner Tageszeitung Der Tagesspiegel (15.01.2010) freut sich Rüdiger Schaper über ein "kleines, aber singuläres Theaterereignis", über einen Abend von "einer anrührenden Komik und verblüffenden Intelligenz". Schaper hörte: ein "anderer Pollesch-Ton und Gestus. Leise, nachdenklich, suchend und tastend …". Pollesch verzichte auch auf die "sonst so ausgiebig ventilierten ökonomischen Wirtschafts- und Entfremdungsszenarien", vertraue allein auf Fabian Hinrichs, "der seine Haut zu Markte trägt". Wenn Hinrichs singe: "Und wir sind vielleicht endlich von den Dingen befreit, die wir lieben", weht es Schaper traurig an. Denn dazu zähle wohl auch das Theater, von dem nur noch der "Phantomschmerz" übrig sei. Pollesch beschreibe "diesen Phantomschmerz so genau", er begebe sich in ein "so fein gewebtes Zwiegespräch mit seinem Patienten, dem Schauspieler", dass das Theater durch die Hintertür wieder hervorschaue. Manchmal wirke Hinrichs wie ein "verträumter Inspizient des Nachts im Theater, der zu seiner Überraschung auf Zuschauer trifft" – die "Dinge haben ein geheimes Eigenleben, sie warten auf die Rückkehr der Komödianten". Der Abend hänge an einem "einzigen Faden" – mit dem spinne Fabian Hinrichs die Zuschauer ein. "Man beobachtet ihn mit Sorge, wie er da tut und schafft und ackert. Aber immer mit Lust und Gewinn."

In der Wiener Zeitung (15.1.2010) schreibt Joachim Lange: Der Pollesch-Monolog scheine Fabian Hinrichs "in die gelenkigen Knochen gefahren zu sein". Mit einem "betont dilettantischen Anlauf" renne Hinrichs "anfangs" aus dem Publikum auf die Bühne, um sich "dort ganz übermütig auszutoben und auszuziehen". Und dann "Sein und Schein, also den Verblendungszusammenhang, so ganz im Lebens-Allgemeinen" und "bezogen auf die Bühne und den Schauspieler im Speziellen", zu seinem Thema zu machen. Dabei flüchte er vor dem Text "immer wieder von der Bühne". Doch der hole ihn immer wieder ein, schüttele ihn und kümmere sich nicht um die "mitgelieferte Infragestellung". Da gewinne der Abend seine "größte Dichte und Wirkung".

Es sei nicht auszumachen, schreibt Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (16.1.2010), ob Pollesch die Interpassivitätstheorie Robert Pfallers "wirklich durchdrungen hat, aber sie gefällt ihm offenbar". Entscheidend sei, dass er die von ihm gepredigten Überzeugungen nun nicht mehr "in den publikumsfreundlichen Mantel des Witzigen" hülle – "Jetzt ist augenscheinlich Schluss mit lustig, denn Hinrichs mimt zwar den Entertainer, (...) spricht und gestikuliert aber so unerschütterlich ernst, als komme er eben aus einem katholischen Predigerseminar". "Pollesch erlaubt seinem grandiosen Solisten die Kanzel-Sprache, womit ironischerweise das Pollesch-Theater gleichsam zu sich selbst findet: Es gibt keinen unerschrockeneren, verbisseneren, hehreren Prediger im Gegenwartstheater als René Pollesch, außer vielleicht Peter Stein." Seinen "wesentlichen Dreh" erhalte der Abend "durch Hinrichs Spielkunst: Das, was er predigt, und die Weise, in der er seinen Körper einsetzt, driften aufs Schönste auseinander. Die Pollesch-Worte und das Hinrichs-Spiel treten folglich in einen sich gegenseitig kommentierenden Dauerwettstreit." Fazit: "eine rasante Selbstreferenz-Show, die den Pollesch-Text als das nimmt, was er auch ist: eine trubelig-verschwurbelte Theorieblödelei. Toll."

 

Als er "nach fast 3 jahren abstinenz" die renovierte Volksbühne besuchte, habe Bert Neumanns Raum auf ihn "überwältigend schön, beruhigend, anmachend und wahrhaftig", schreibt Christoph Schlingensief in seinem Schlingenblog (14.1.2010). Dieses Haus habe "mit seinen durchhalteparolen schon seit ewigkeiten" den "immensen druck (...) des: ich mach dich fertig" ausgeübt. "und ich dachte immer es lag an den angestellten. aber seit gestern abend weiß ich, dass das gebäude gesprochen hat. das gebäude wollte höchstleistung sehen, es wollte, dass etwas passiert, was woanders nicht möglich ist, weil der raum schon so toto und kaputt (...) alles kleinkocht und funktionalisiert. die volksbühne scheint aber tatsächlich ein lebewesen zu sein, dass es jetzt verstanden hat, dass es auch mal lieb sein muß, dass es um die liebe zu denen geht, die da auftreten. und wie der raum dann plötzlich mit fabian hinrichs verschmolzen ist, war ein großer moment". Angesichts der Kritiken, in denen "von zitaten, von auflösung von irgendwem und vorbildern, von glück, dass nicht so schnell gesprochen wurde" zu lesen ist, fragt sich Schlingensief, "warum theaterkritik so wenig chancen hat, einfach mal über die macht des raumes" zu schreiben, "über die luftballons zu schreiben, die plötzlich am boden feststanden, und dann wie von geisterhand anfingen zur gitarre ihren platz zu verlassen". Froh ist Schlingensief auch, dass "dieser funktionalisierungswahn mit text, bedeutung, einfall und verwertung endlich mal als miese absprache zwischen uns und einem die welt in keinster weise beeinflussenden medium wie theater thematisiert oder besser: erlebbar macht, glaubwürdig und zart". Beeindruckt hat Schlingensief vor allem auch Fabian Hinrichs, "fast nackt, dürr, durchtrainiert und gesundgehungert", alles sei "plötzlich reiner raum-körper ... raum/zeit/körper ...." gewesen. "danke, danke, danke! an diesem abend stimmte wirklich alles! Da habe ich richtig Lust bekommen auch mal wieder an die Volksbühne zurückzukehren, ... jetzt wo der Raum bemerkt hat, dass er seine Körper auch mal wieder lieben muß".

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