Selig sind die geistig Armen

von André Mumot

Hannover, 16. Januar 2010. Nun wundert sie sich aber, die Hüller. Also eigentlich hat sie sich schon fast zwei Stunden lang gewundert, denn sie spielt Parzival, den reinen Toren, der partout die Welt nicht versteht. Jetzt, kurz vor Schluss, wundert sie sich aber noch mal so richtig: Die Hände gehen unwirsch durchs Haar und übers Gesicht, sie kratzt sich und schnieft, die Stirn zeigt bedenkliche Faltentiefe, und sie stöhnt, als würde ihr der Kopf zerplatzen. Mann kann es gut verstehen.

Denn gerade verkündet ihr Trevrizent, der alte Büßer, die entscheidenden Lebensregeln. Und die lauten erstens: "Es gibt nichts zu verstehen." (Na toll.) Und zweitens: "Wer wissen will, was er benötigt, muss seine Gedanken leeren. Wer seine Gedanken leeren will, muss frei sein von Begierde. Um sich von Begierden zu befreien, muss man bereit sein zu sterben." Es ist ein peinlicher Moment. Florian Hertweck, der bemitleidenswerte Schauspieler, der diesen bierernsten Quark über die Lippen bringen muss, fühlt sich sichtlich unwohl, fällt aus der Rolle und gesteht unumwunden: "Ich hab's auch nicht verstanden."

Man sieht nur mit dem Herzen

Lukas Bärfuss schreibt für gewöhnlich Profundes über den Zustand unserer Welt, über Ruanda, Rohstoffausbeutung und ähnliches. Für das Staatsschauspiel Hannover aber hat er den "Parzival" des Wolfram von Eschenbach adaptiert und dabei die Chance zum Eskapismus genutzt. Ohne äußerliches Modernisierungsinteresse erzählt er zehn griffige Episoden aus dem umfangreichen Versepos nach, in dem es eigentlich um Bildung geht. Parzival, das ist der weltfremde Junge aus dem Wald, der Ritter werden will und aus reiner Dummheit und Ehrsucht tötet, der kein Mitleid zeigt und deshalb erst erwachsen und besonnen werden muss, bevor er die wahre Seligkeit finden kann.

Doch auch ein gegenwartsflüchtiger Bärfuss ist immer noch Kulturpessimist genug, um an intellektuelle Reife nicht zu glauben, vom Sinn religiöser Selbstbefragung ganz zu schweigen. Deshalb wird Parzivals Bekehrung durch Trevrizent, die theologisch ausgefeilte Kernpassage des Epos, bei ihm zum nebulösen Entsagungsmumpitz mit einem Extraschuss "Man sieht nur mit dem Herzen gut".

Mittelalterschwejkiade

Bis zu diesem zweifelhaften Finale ist der Bärfuss'sche Parzival vor allem ein überraschend neckischer Ritterschwank. Ein weiblich besetzter Schwejk auf dem Mittelalterschlachtfeld erntet einen Lacher nach dem anderen, weil er so herrlich blöd ist. Klar: Denken ist überbewertet. Außerdem lässt sich das mit dem Kindermund und der Wahrheit so wunderbar ausnutzen: "Ritter erschlagen Ritter? Das ist ja, als würden meine Hirsche Hirsche töten."

Intendant Lars-Ole Walburgs glatt am Handlungsverlauf orientierte Inszenierung funktioniert ganz gut in den heiter verspielten Momenten. Unangenehm wird es nur, wenn dräuend verstärkte Percussionsschläge existentielle Bedeutung suggerieren, die nicht vorhanden ist. Es rieselt auch ein bisschen Schnee, und in einer hübsch angekitschten Liebesbegegnung flirrt der Text als Projektion über die sich umarmenden Körper. Ansonsten aber herrscht szenische Routine: Auf stereotyp nach vorne gekippter Holzbühne deuten sieben Nebendarsteller ritterliches Leben an, wechseln Kettenhemden, Kleidchen und die Rollen: Martin Vischer schlägt als scheu in Parzival verschossene Liase wunderbar die Augen nieder, und Veronika Avraham wird mit Hilfe einiger übers Gesicht gezogener Gummibänder zur genussvoll Gift und Galle spuckenden Cundrie.

Madonna mia, HüllerHüllerHüller

Doch natürlich ist dieser Abend vor allem, und zum Glück, die Sandra-Hüller-Show. Gute Sätze hat sie nicht zu sprechen – eigentlich muss die allgemein für ihre Intensität bewunderte Schauspielerin nur jede Menge blöde Fragen stellen. Außerdem muss sie die alles entscheidende Frage (nach dem Gesundheitszustand des hodenkranken Gralskönigs) demonstrativ vermeiden und ab und an schizophrene Selbstgespräche führen, die nicht einmal besonders glaubwürdig ausfallen. Ihre heruntergezogenen Mundwinkel, ihre verstockte schlechte Laune, ihre mürrische, begriffsstutzige Widerwilligkeit entschädigen aber für vieles. Weil sie sich weigert, lustige Mätzchen zu machen und ihr verständnisloses, gequältes Gesicht bisweilen an Buster Keaton erinnert, ist sie furchtbar komisch und berückend zugleich. Manchmal will auch ganz haltlose Verzweiflung aus ihr heraus, und dann vermutet man kurz und heftig, hier ginge es vielleicht doch um etwas Tieferes, von dem der Text nichts weiß. Aber diese Momente verflüchtigen sich rasch in neuerlichem Kichern. Wie war das noch? Es gibt nichts zu verstehen? Also schön: Gedanken leeren, Hüller angucken.

 

Parzival (UA)
von Lukas Bärfuss nach Wolfram von Eschenbach
Inszenierung: Lars-Ole Walburg, Bühne: Reinhild Blaschke, Kostüme: Kathrin Krumbein, Sound und Musik: Tomek Kolczynski.
Mit: Veronika Avraham, Sandra Bayrhammer, Florian Hertweck, Sandra Hüller, Andreas Schlager, Aljoscha Stadelmann, Martin Vischer, Philippe Goos.

www.staatstheater-hannover.de

 


Mehr zu Sandra Hüller: Im Dezember 2007 spielte sie in den Münchner Kammerspielen die Hauptrolle in Tom Lanoyes Mamma Medea; im Prater der Berliner Volksbühne gab sie im Juni 2009 die Elisabeth I. in Claudia Bauers Virgin Queen.

 

Kritikenrundschau

Der Autor Lukas Bärfuss habe für seine Version des Wolfram'schen "Parzivals" aus dessen 24812 Versen "jene Handlungsbalken herausgehauen, die uns Parzival als Sinnsucher zeigen", erläutert Rainer Wagner in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (18.1.2010). Dass fast alle Akteure in Lars-Ole Walburgs Inszenierung mehrere Rollen haben, signalisiere, dass der Regisseur "auf Distanz setzt", die "mehr mit romantischer Ironie als mit Parodie zu tun" habe. Walburgs Inszenierung fügt "Marker ins Geschehen. Bildchriffren, die für das Ganze stehen. Und die doch absichtsvoll vage bleiben". Die Ritter seien dabei "nicht weit entfernt von der Karikatur". Wenn Sandra Hüller als Parzival splitterfasernackt die Bühne betrete, bewege sie sich dabei "so selbstverständlich, als trüge sie einen schützenden Mantel der Unschuld". Der Abend beginne "forsch und frech und pointiert" und arbeite sich dann daran ab, "die Geschichte zu Ende zu erzählen". Dabei lasse die Spannung doch nach, und auch Bärfuss‘ Text verliere "ein bisschen an Griffigkeit". "Sehenswert" sei das Ganze jedoch "schon wegen der stimmigen Ensembleleistung. Und natürlich wegen Sandra Hüller". "Das Mitgefühl, das Parzival erst lernen muss, das ruft sie mit ihren ersten Sätzen ab."

In der Frankfurter Rundschau (20.1.2010) schreibt Anke Dürr: Parzival, von einer Frau gespielt, sei ein "schöner Verfremdungseffekt", wie Regisseur Walburg überhaupt "auf die Ausstellung seiner Theatermittel setzt, um die Unglaublichkeit dieser Geschichte in den Griff zu kriegen". Kleiderwechsel auf offener Bühne, Kunstblut, und vor allem auf einem elektronischen Schlagzeug geschlagene Schlachten. Aber außerdem sei Sandra Hüller eben "einfach eine Idealbesetzung für diese Rolle". Sie spiele den Knaben zunächst "mit trotziger, unschuldiger Gleichmut". Erst als Gurnemanz ihm ein Gewissen einrede, "ficht Parzival Kämpfe mit seiner inneren Stimme aus, und Sandra Hüller führt sie vor als grandioses Rededuell mit sich selbst, schreiend, vornüberkippend, ein Mensch aus dem Gleichgewicht". Gegen diese Performance kämen ihre Mitspieler nicht an.

Till Briegleb findet Sandra Hüllers Darstellung des Parzival "strahlend" (Süddeutsche Zeitung, 22.1.2010). Auch Lukas Bärfuss neue Version des Stoffes findet seine Zustimmung: sie sei "stimmig" und behebe " viele Schwierigkeiten behebt, die in Bezug auf die Glaubwürdigkeit bei der Adaption historischer Stoffe sonst auftreten". Dieser Parzival suche nicht "Mirakel, sondern Sinn und soziale Kompetenz". Parivals Heldenreise sei bei Bärfuss ein " Erkenntnisdrama, eine nüchterne Schule der Menschlichkeit". Hüller spiele den Parzival als "Mischung aus Rambo, Kaspar Hauser und Pumuckl" - das sture Bestreben von Hüllers Figur, "die Regeln zu verstehen, nach denen wir leben", sei einerseits "rührend" und andererseits "wild und dabei frei von Geschlechterklischees". Nicht bedurft hätte es da der von Monty Python entlehnten Spaßigkeit, mit der Walburg seine Inszenierung aufbrezelt.

 

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