Der Weltgeist fährt Achterbahn

von Otto Paul Burkhardt

Karlsruhe, 21. Januar 2010. Geladene Gäste, gebildete Gespräche. Ein bluffbegabter Künstler schwadroniert über Postmarxismus. Die Gastgeberin wird sauer: "Wir haben noch nicht einmal angefangen, den Kartoffelsalat zu essen." Genau da spielt sich das neue Stück des argentinischen Allrounders Rafael Spregelburd ab: im dehnbaren Raum zwischen Zeitkritik und Telenovela, zwischen Postmarxismus und Kartoffelsalat.

In den Jahren 2001 bis 2008 entstand seine ambitionierte "Heptalogie des Hieronymus Bosch", ein Zyklus über die sieben Todsünden, deren Teile von Hamburg bis Basel vorgestellt wurden. Sein neues Stück trägt den auch nicht unbedingt bescheidenen Titel "Alles". Spregelburd selbst inszeniert nun die deutschsprachige Erstaufführung in Karlsruhe – und wie in fast allen seinen Arbeiten unternimmt er dabei wieder eine geistige Achterbahnfahrt zwischen tieflotend und durchgeknallt.

Bürokratie, Geschäft und Aberglaube

Was will "Alles"? "Es gibt da keine große Geschichte zu erzählen", beruhigt ein Erzähler aus dem Off im Kindermärchen-Ton. Was natürlich, aber holla, pures Understatement ist. Denn es geht um drei Essentials: Staat, Kunst und Religion. Genauso aber auch um die Frage, warum sich diese ehrwürdigen Idealvorstellungen trotz aller menschlicher Bemühungen immer wieder real in ihre eigenen Zerrbilder verwandeln: Bürokratie, Geschäft und Aberglaube. Das klingt nach dicken Wälzern mit Goldrandschnitt, nach Gedankenschwere, nach Besinnungsaufsatz. Doch Spregelburd geht die Dinge auch als Regisseur schräg an, mit einer gewitzten Subversivität, die wohl auch argentinische Krisenerfahrungen integriert.

Zum Stichwort Bürokratie werden ständig unsichtbare Dokumente gestempelt und offenbar zweckfreie, ebenso unsichtbare Möbel über die Bühne gehievt – mit welchem Aufwand hier Dinge bearbeitet, hin und her geschichtet und weggeschafft werden, die eigentlich gar nicht vorhanden sind, sieht entlarvend irre aus. Klar, dass die Beteiligten von verschwundenen Akten und von hemmungslosem Sex mit ihrem Schreibtischgegenüber (alp-)träumen. Bürophantasien von Verwaltungsneurotikern.

Kunst als Gesellschaftssatire

Spregelburds Theater kommt noch dazu in multimedial gebrochener, gespenstischer Gleichzeitigkeit daher, aufgesplittert in Videofilme, Musik, Off-Erzähler und Szene. So hat die Satire stets auch etwas Geisterhaftes, etwa, wenn die Sachbearbeiter um einen nur virtuell gedachten Mantel feilschen und, vollends ausgerastet, unsichtbare Geldscheine verbrennen. In solchen Momenten bewegt sich Spregelburds Theater im Niemandsland zwischen Sinnhuberei und Groteske, verhakt sich hier und da starrsinnig, bevor es in labyrinthischem Denken weiter irrt.

Der zweite Teil ("Warum wird jede Kunst zum Geschäft?") driftet ganz in bizarre Familiensoap-Bereiche ab. Todernst bis albern: Hier kann das Karlsruher Ensemble schauspielerisch glänzen. Ricardo del Mónico (André Wagner) hat vor Jahrzehnten ein ziemlich folgenloses Buch geschrieben ("Hegel geht in die Klassenzimmer") – von dem großen Autor ist nur ein mürrischer Hilfspädagoge übriggeblieben, der kleine Mädchen unterrichtet. Das wiederum macht seine Ex-Frau Nelly rasend (Anne-Kathrin Bartholomäus). Fehlt bloß noch der dampfplaudernde Fano (Olaf Becker), der seine Bücherverbrennungsaktionen (!) wortreich als Konzeptkunst verklärt.

Ambitionierte Annäherung an letzte Fragen

Und wieder sind wir in jener heiklen Sphäre zwischen bitterböser Satire und abgedrehtem Nonsens angelangt, die Spregelburd immer wieder aufsucht. Der Gast Omar (Thomas Birnstiel) fällt mit einem offensichtlich zu knappen Kurzhöschen auf, und Fanos junge koreanische Freundin Dai Chi (Barbara Behrendt) steuert sinnfrei globalisierten Heimat-Dada bei: "Dai Chi, Bum Beitschi, Bum Bum." Ach ja, und so ganz nebenbei wird noch Begriffsdialektik diskutiert: Freiheit, doziert Fano, bedeute auch Freiheit der Ausbeuterei. Das ist noch nicht "Alles": Denn im dritten und letzten Teil zielt Spregelburd auf die Religion, abgehandelt am Beispiel jüdischer Identität und alttestamentarisch grundiert mit den biblischen Plagen.

Kaum zu glauben, aber diese erneute Kehrtwende in die Urgründe des Glaubens wirkt in keinem Moment nur aufgesetzt und angepappt. Nach dem Scheitern der Staats-Utopien, nach der Degeneration der Kunst zum schnöden Geschäft bleibt nur noch die Reise ins gelobte Land. Und die letzte Frage: "Wie geht das, keine Angst haben?"

Das also war "Alles". Eine hoch ambitionierte Annäherung an die letzten Fragen der Menschheit. Vielleicht überkonstruiert. Und mit einem raunendem Finale aufgedonnert. Aber modern verunsichert. Entwaffnend stilchaotisch. Absurd aufgekratzt. Subversiv angeknallt. Nach so viel Ideologie- und Religionskritik weint einer im Stück, und seine Gefährtin fragt: "Warum bist du so?" Er: "Es ist wegen allem. Es ist alles."

 

Alles (DEA)
von Rafael Spregelburd, Deutsch von Sonja und Patrick Wengenroth
Regie: Rafael Spregelburd, Bühne: Steven Koop, Kostüme: Ursina Zürcher. Mit: Barbara Behrendt, Anne-Kathrin Bartholomäus, André Wagner, Olaf Becker, Thomas Birnstiel.

www.staatstheater.karlsruhe.de

Mehr zu Rafael Spregelburd im nachtkritik-Archiv: Von seinen theatralen Nachdichtungen der sieben Todsünden, benannt als Heptalogie des Hieronymus Bosch, besprachen wir Die Panik, inszeniert von Andreas Herrmann in Luzern im Mai 2008; Die Sturheit, inszeniert von Burkhard C. Kosminski in Frankfurt im Mai 2008 und Die Dummheit, die Friederike Heller im Juli 2007 in Stuttgart auf die Bühne gebracht hat.


Kritikenrundschau

Andreas Jüttner schreibt in den Badischen Neuesten Nachrichten (23.1.2010): Wenn Spregelburds Stück im ersten Akt frage: 'Warum wird jeder Staat zur Bürokratie?', so laute die Antwort, so Jüttner: Eigentlich ginge es um den Streit ums Geld, "der jeder Gemeinschaft Regeln abverlangt – deren Überwachung wiederum durch eine Bürokratie erfolgt." Im zweiten Akt mit der Eingangsfrage "Warum wird jede Kunst zum Geschäft?" gehe es "eigentlich" um Freiheit. Grundthema des Abends aber ist, "dass es immer Probleme mit sich bringt, wenn ein großes Wort auf das kleine konkrete Menschenleben prallt". Regisseur Spregelburd hebele indes jede Deutungsschwere aus, "indem er den Text permanent unter Slapstick-Beschuss nimmt". Der dritte Akt, der mit der Frage "Warum wird jede Religion zum Aberglaube?" beginnt, dreht sich "eigentlich" um Vertrauen und bringt einen "schockartigen Stimmungsumschwung". Plötzlich spiele Barbara Behrendt nach einer "comichaften koreanischen Künstlerfreundin" mit "leiser Eindringlichkeit" eine junge Mutter, die aus Angst um ihr Kind jede Rationalität verliere. Der Abend sei mit mehr als zweieinhalb Stunden überlang, dafür entschädigten die Schauspieler, neben den Genannten noch André Wagner, Olaf Becker, Thomas Birnstiel und Ann-Kathrin Bartholomäus.

Rafael Spregelburds neues Stück sei "absurdes Theater", so Georg Patzer im Badischen Tagblatt (23.1.2010), "aber nicht so absurd, dass es nicht glaubhaft wirkt". Überdies inszeniere der Autorregisseur "mit viel Wort- und Situationswitz (...) das wachsende Chaos". In der zweiten Szene übertreibe er allerdings arg, die dritte falle durch die "völlig unnötige Überbetonung des mythischen Überbaus aus dem Rahmen und hätte (...) auch gefahrlos gestrichen werden können". Auch sei das Programmheft "mit viel Theorie überfrachtet", die auf der Bühne "so nicht unbedingt zu sehen war". Vor allem die Schauspieler trügen den Abend. Sie brillierten mit "Spielwitz und präzisem Tempo, Andeutungsreichtum und Verwandlungsfähigkeit und, wenn nötig, auch plattestem Komödiantentum".

 

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