Kleinanleger des eigenen Schicksals

von Esther Slevogt

Berlin, 22. Januar 2010. Rechts ein runder Swimmingpool zum Selbstaufstellen, wie man ihn in Gärten von Eigenheimen finden kann, wo das Geld nicht zu aufwändigeren, ins Grün betonierten Modellen gereicht hat. Links ein überdimensionierter Tresor, wie man ihn in den letzten Jahren im Untergrund eben jener unauffälligen Eigenheime immer wieder gern auch zum Wegsperren und Vergewaltigen von jungen Frauen oder Töchtern verwendet hat, weshalb auch einmal zu Beginn Bilder aus dem Inneren auf die Außenwand des Gehäuses projiziert werden, die diesen Missbrauch-Zusammenhang andeuten.

Und damit ist sozusagen schon mal assoziativ das Feld abgesteckt, in dem sich Johan Simons' am Genter NT entstandene Inszenierung von Elfriede Jelineks "Die Kontrakte des Kaufmanns" abspielt (wo sie "Underground" übertitelt war): jene Zusammenhänge von Gier, Utilitarismus und einem immer abstrakter wuchernden Finanzsystem herzustellen, das längst auch den Einzelnen erfasst und deformiert hat. Weshalb Elfriede Jelinek in ihrem kapitalismuskritischen Stück auch die Grenze zwischen dem System und seinen Opfern verwischt: denn diese arbeiten an ihrer eigenen Ausbeutung inzwischen kräftig mit. Als Kleinanleger zum Beispiel.

Tauchgang in die Tragödie des Systems

"Wir können nichts dafür, aber wir müssen es trotzdem ausbaden", lässt Jelinek ihre kleinen Leute also ohne Einsicht sagen, die ein Finanzskandal um ihren hart erarbeiteten Besitz gebracht hat. Johan Simons hat das ganz wörtlich genommen und lässt die Akteure immer wieder in voller Montur in diesem Pool baden gehen, dass ihnen die Kleider am Körper kleben, Westernstiefel sich an den Füßen festsaugen und Lederjacken triefen, die sich – derart durchnässt – auch als klatschende Schlagwaffen eignen. Simple wie zwingende Bilder für die Gewalt, die leicht aus der Ohnmacht brechen kann, sich aber nicht gegen das System, sondern den Nachbarn hinterm Gartenzaun entlädt.

Jelineks Originaltext fließt etwa hundert Seiten lang ohne Absatz oder Rollenaufteilung unerbittlich der Katastrophe entgegen, in der schließlich ein kleiner, bankrott gegangener Unternehmer mit einer im Sonderangebot erstandenen Axt seine Familie meuchelt, um ihr die Schande zu ersparen. Doch die Leute haben als Teil des Systems kein Gesicht, sind nur eine unkenntliche Masse, über der das Textsystem liegt wie das Finanzsystem über den Sparern. Von diesem berichtet Jelinek in assoziativen Wortkaskaden, kalauernd und doch bis in die Tiefen der antiken Tragödie tauchend, nicht nur inhaltlich, sondern sie bildet es auch formal mit der Gestalt ihres Textes sozusagen systemisch ab.

Das Böse kommt im Kleinkarierten

Bei Simons haben die Leute wieder ein Gesicht, versucht der Abend fast, so etwas wie eine Geschichte zu erzählen. Der Mann, der am Ende seine Familie mit der Axt erschlägt, ist schon gleich am Anfang da. Der Schauspieler Jos Verbist steht in Westernmontur vor dem Pool und spuckt seinen Frust über das verlorene Geld, den Betrug in einem verbissenen Wortschwall aus. Dann kommen die anderen dazu, junge Frauen in Klamotten, die billige Vorstellungen von Sexyness bedienen.

"wir sind lockvögel, baby!" heißt ein früher Roman Elfriede Jelineks. Diese Frauen hier sind nicht einmal mehr das, wie sie hier anklagend die kafkaesken Strukturen der Finanzsysteme zu schildern versuchen, zu dessen Objekten sie sich ganz freiwillig und ohne Zwang längst gemacht haben. Dann kommen die Bänker, bei Simons keine bösen Systemvertreter sondern bloß Mittelständler, die die Finanzprodukte an den Mann und die Frau zu bringen haben. Simons und seine Kostümbildnerin Dorothee Curio kleiden die Angestellten in kleinkarierte Brauntöne, deren spießiger Chic sich vom rauen Cowboycharme der Kleinanleger-Outfits zuvor nur leise abhebt.

Lediglich halblange Mäntel zeugen hier manchmal von der Eleganz der Macht. Mit großer schauspielerischer Kraft zelebriert der Abend einen ausgedünnten, filetierten Text. Destilliert Restindividuen und Geschichten, wo bei Jelinek alles längst Diskurs und Sprachspiel ist. Da sind besonders Jos Verbist in verschiedenen knarzigen Patriarchenrollen, die wunderwandelbare junge Katja Herbers, deren Bandbreite vom naiven Vorstadttrampel bis zum zugekoksten Magermodell reicht. Oder Kristof Van Boven, der mit derartig mephistophelischem Charme über das Wesen des Kapitals zu reden versteht, dass man von ihm sofort eine ganze Bad Bank erwerben würde.

Gegen die Verflüchtigung im Abstrakten

Gegen Ende verschwimmt der Abend vielleicht ein bisschen, geht Simons Konzept, die "Kontrakte des Kaufmanns" sowohl systemisch als auch restindividuell zu inszenieren, nicht mehr so recht auf. Wenn am Ende der Familienmörder in seinem Westernhemd verzweifelt an der Rampe steht und ihm Kristof Van Bowen böse lächelnd erklärt, dass ihm höchstens der Underground, also der Tod, als Rückzugsgebiet bleibt (so dort nicht Bodenschätze sind, das wäre natürlich etwas anderes), kann man das vielleicht sogar sozialkitschig finden.

Aber der Wille, aus Jelineks Textfläche, in der sie mit sardonischem Witz und luzidem Sprachsinn die abstrakten ökonomischen Mechanismen ad absurdum führt, noch mal Reste einer guten alten Geschichte auszugraben, hat auch etwas. Es ist sentimental und möglicherweise altmodisch menschlich. Doch in dem Versuch, auf die Realität zu verweisen, die dieses System auch für diejenigen bedeutet, die es nicht begreifen, liegt durchaus ein politisches Moment.

 

Underground/Die Kontrakte des Kaufmanns
von Elfriede Jelinek
in Niederländisch, Übersetzung Inge Arteel
Regie: Johan Simons, Bühne: Luc Goedetier, Giovanni VanHoenacker und Freddy Schoonackers, Kostüme: Dorothee Curio, Dramaturgie & Textauswahl: Koen Tachelet und Jeroen Versteele. Mit: Marjan De Schutter, Katja Herbers, Servé Hermans, Hannah Hoekstra, Keja Kwestro, Kristof Van Boven, Jos Verbist und Lien Wildemeersch.

www.hebbel-am-ufer.de
www.ntgent.be

 

Die Uraufführung von Die Kontrakte des Kaufmanns fand in der Inszenierung von Nicolas Stemann im April 2009 in Köln statt. Im November 2009 folgte eine Aufführung von Antje Thoms in Saarbrücken.

 

Kritikenrundschau

Nicolas Stemann habe die "Inszenierungsmesslatte" mit seiner "hochenergetischen Uraufführung" in Köln "denkbar hoch gelegt", schreibt Anne Peter in der tageszeitung (26.1.). Johan Simons führe bei "Underground" "anderes im Schilde als Stemann – doch auch das funktioniert". Habe Letzterer einen Großteil des Jelinek-Textes performen lassen, "wühlt Simons im Sprachschuttberg der Jelinek, schiebt ganze Kalauerhaufen beiseite, sortiert geschätzte 80 Prozent des Textes aus – und findet: Menschen". Wo Stemann "auf die Maschinerie eines überschnappenden Systems" schaue, zoome Simons "auf dessen menschliche Zahnräder, birgt das Einzelschicksal aus den Endlossatzflächen". "Er negiert nicht, dass der Fehler im System liegt, beharrt aber darauf, dass dieses von Menschen gemacht ist." Die Figur des vom Konkurs bedrohten Betriebsleiters, der seine Familie mit der Axt erschlägt, gerinne hier "zur Zentralgestalt: An ihm zeigt sich, was die kapitalistische Ideologie aus den Menschen zu machen imstande ist – ein menschenverachtendes System gebiert seine Ungeheuer".

Simons erdet die vielschichtige, mit Echos, Wiederholungsschleifen und Kalauerabstürzen spielende Sprache Jelineks", berichtet Peter Laudenbach (Süddeutsche Zeitung, 27.1.). Der Chor der betrogenen Kleinanleger, die Investoren und die Pleitegeier seien hier "eher alltägliche, leicht runtergekommene Gestalten in schlechtsitzenden Anzügen", also "keine eleganten Börsenhaie, sondern verlebte Rummelplatz-Figuren". Und weil "die Zocker und die Abgezockten" von denselben Darstellern "eher vorgeführt als gespielt werden, verschwimmen die Grenzen zwischen Tätern und Opfern. Schließlich sind sie alle nur von ihrer Gier gesteuerte Marktteilnehmer." Mitleid schenke sich Jelinek, "dafür ist ihr Blick zu kühl". Und plötzlich klingw der Börsenbericht mitunter, "als hätten ihn verwirrte Heidegger-Imitatoren deliriert: Das Nichts nichtet." Simons "eher derbe Inszenierung" konterkariere diese "steile Sprache und holt die Figuren aus den Eiswüsten der Abstraktion auf den Boden der börsennotierten Tatsachen". Jelineks "schwarze Komödie" werde so "ins blanke Grauen" getrieben.

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