Der Elendsfluß der Welt

von Rudolf Mast

Hamburg, 23. Januar 2010. "Football is coming home" grölen sogenannte "Fans" rund um den Globus. Anlass und Berechtigung dazu haben jedoch allenfalls die Einwohner Englands: Denn dort wurde nicht nur das Lied, sondern auch der Fußball erfunden, und, der Logik gehorchend, nur dorthin kann er heimkehren.

Dass etwas auch nach Hause kommen kann, wenn es woanders zuerst das Licht der Bühne erblickte, zeigt nun Georg Büchners "Woyzeck" in der Bearbeitung der beiden US-Amerikaner Robert Wilson und Tom Waits: Nach "The Black Rider" und "Alice" war dies das Ergebnis der dritten Zusammenarbeit des Regisseurs und des Musikers, und die beiden ersten erlebten ihre Uraufführung zu Beginn der 90er Jahre am Hamburger Thalia Theater.

Baumeln an der Jakobsleiter

"Woyzeck" hingegen kam im Jahr 2000 in Kopenhagen heraus und blieb lange ein Einzelgänger, weil an die Aufführungsrechte nicht heranzukommen war. Erst im Herbst 2008 wurde dem Theater in Oberhausen eine Neuinszenierung gestattet, seither bahnt sich das Stück einen Weg in die deutschsprachigen Spielpläne. Bern, Luzern, Berlin und Karlsruhe hießen die Stationen 2009. Am Sonnabend ist es nun im Thalia Theater angekommen, jenem Ort also, an dem die künstlerisch wie kommerziell erfolgreiche Kombination Wilson und Waits zusammengefunden hat. Die Hamburger scheinen sehnlich darauf gewartet zu haben. Der Premierenapplaus war jedenfalls ziemlich frenetisch.

Selbstverständlich ist das nicht, denn während die Musik schriftlich fixiert und auf die CD "Blood Money" gebannt ist und sich deshalb überall auf der Welt reproduzieren lässt, bleibt vom eigenwilligen und umstrittenen "Visual Design" Robert Wilsons bei einer Neuinszenierung zwangsläufig wenig übrig. Für die zeichnete nun Jette Steckel verantwortlich, die Hamburg insofern verbunden ist, als dass sie ihren Beruf dort erlernt und am Thalia schon früher gearbeitet hat.

Für den "Woyzeck" hat sie eine künstlerische Entscheidung getroffen, die durchaus an Arbeiten Robert Wilsons erinnert: Die Inszenierung ist stark vom Bühnenbild und vom Licht bestimmt, und zwar in einem Maße, das den Darstellern und damit auch den Figuren nicht unbedingt zugute kommt. Im stockfinsteren Bühnenhaus hängt horizontal ein riesiger metallener Rahmen mit einem weitmaschigen Netz. Davor baumelt eine Jakobsleiter, an der Woyzeck (Felix Knopp) aus dem Schnürboden steigt. Ein Microport überträgt seinen schweren Atem, während er in der Dunkelheit kaum zu sehen ist.

Existenzieller Klettergarten

Seine Mitspieler liegen derweil im Netz, wie erst erkennbar wird, als es sich zum ersten Lied des Abends, "Misery Is the River of the World", langsam in Bewegung setzt, um irgendwann in der Vertikalen zu enden. Im Lauf des zweistündigen Abends teilt es den Raum auch in sämtlichen Diagonalen, auf einer Ecke stehend oder schräg in der Luft hängend. In Verbindung mit dem stark gerichteten Licht, das große Teile der Bühne in Dunkelheit taucht, ergibt das eindrückliche Bilder. Doch lädt das Netz auch zum Klettern ein, wovon die Spieler reichlich Gebrauch machen. Zur Sicherheit sind sie dabei meistens angeleint, was mitunter statt an existenzielle Vorgänge stark an einen Klettergarten erinnert. In solchen Kompromissen zeigt sich ein Wille zum Ernst, der gelegentlich übers Ziel hinausschießt.

Das gilt auch für die sechsköpfige Band vor der Rampe, die Waits oft ohnehin dissonanter Musik manchen schrägen Ton hinzufügt, und die Microports, die stets bis zum Anschlag aufgedreht sind. Von der Geschichte des Ehemanns, Vaters, Füsiliers und medizinischen Versuchskaninchens Franz Woyzeck bleibt so vor allem das Eifersuchtsdrama, das eine Affäre seiner Frau Marie (Maja Schöne) mit einem Tambourmajor (Josef Ostendorf) auslöst. Der Schnitt durch Maries Kehle, der ihr Leben beendet, gerät eher beiläufig und kurz; umso länger fällt das Lied aus, zu dem Woyzeck erst die Tote, dann sich selbst aus dem nun wieder horizontal hängenden Netz in den im Lied besungenen Staub abseilt.

Es ist dieser Hang zum Überdeutlichen, mitunter Martialischen, der den Abend ein wenig trübt. Trotzdem steht zweierlei fest: Nun, da es zum Nachspielen freigegeben ist, wird das Stück seinen Erfolgs-Weg machen, und wie einst "Black Rider" und "Alice" wird das Hamburger Publikum auch den "Woyzeck" goutieren. Dass die Inszenierung nicht der Weisheit allerletzter Schluss ist, fällt dabei nicht weiter ins Gewicht. Schließlich bedeutet nach Hause zu kommen nicht notwendigerweise, dort am besten aufgehoben zu sein. Die Anhänger der englischen Fußball-Nationalmannschaft können ein Lied davon singen.

 

Woyzeck
nach Georg Büchner
von Tom Waits, Kathleen Brennan und Robert Wilson
Textfassung: Ann-Christin Rommen, Wolfgang Wiens
Regie: Jette Steckel, Bühne: Florian Lösche, Kostüme: Pauline Hüners, Licht: Paulus Vogt, musikalische Leitung: Gerd Bessler.
Mit: Felix Knopp, Maja Schöne, Philipp Hochmair, Tilo Werner, Josef Ostendorf, Jörg Pohl, Gabriela Maria Schmeide, Julian Greis.

www.thalia-theater.de


Mehr zu Jette Steckel im nachtkritik-Archiv: am Deutschen Theater Berlin inszenierte sie im November 2009 Shakespeares Othello mit Susanne Wolff in der Titelrolle. Für die Salzburger Festspiele adaptierte sie im August 2009 Ijia Trojanows Roman Die Welt ist groß und Rettung lauert überall.


Kritikenrundschau

"So schön ist das, so traurig, so bildgewaltig und von derart visionärer Kraft, dass wir kaum zu atmen wagen", schreibt Monika Nellissen in der Welt (25.1.2010) über das letzte Bild in Jette Steckels Hamburger "Woyzeck"-Inszenierung mit der Musik von Tom Waits. Das Stück werde "am Thalia Theater zu einem Drama, dessen Herztöne wir laut hören, weil sie auch durch die fabelhaft nuanciert spielende Band unter Gerd Bessler vernehmbar werden." Bei Jette Steckel agierten "nicht wie bei Wilson Zombies auf der Geisterbahn der Kirmes, bei ihr sind es Menschen, bisweilen bis zur Karikatur überspitzt, die im Lebensnetz zappeln". Steckel spanne "den Bogen zwischen Musical und großer Oper, Moritat und bis zur Groteske gesteigerter Tragödie, überhöht durch biblische Zitate." Felix Knopp als Woyzeck "liebt, er leidet und er kämpft bis zum Schluss. Schließlich schneidet er Marie ganz einfach die Kehle durch in stillem Irrsinn, bevor er sie durch das Netz gleiten lässt und ihr folgt. So viel Poesie war selten bei Woyzeck." Fazit: "Eine apokalyptische Geschichte als todtrauriges, gleichwohl tröstliches Märchen erzählt, das muss man können. Jette Steckel kann es."

Genau betrachtet biete Jette Steckels "Woyzeck" "wenig Aussichten auf Glück". Und doch sei ihr "das seltene Kunststück eines beglückenden Theaterabends gelungen", jubelt Klaus Witzeling im Hamburger Abendblatt (25.1.2010). Mit einem Riesennetz habe der Bühnenbildner Florian Lösche "ein offenbar simples Bild" gefunden. "Doch wie die Regisseurin und die Darsteller den unsicheren Boden mit den Löchern über ein bloß technisches Geturne hinaus spielerisch und szenisch bedeutungsvoll auszuschöpfen wissen, ist spektakulär." Ein "finsteres Weltbild" entwerfe Steckel und halte sich dabei "mehr an Brecht als an Wilson: Alle Figuren sind ausnahmslos gefangen in den Verhältnissen." Das Netz schließlich stehe "auch für das vom Menschen geschaffene (globale) System in der heutigen Zeit. Es führt zu wachsender Verarmung, ohne dass sich der Einzelne dagegen zu wehren vermag. Vor dem Hintergrund des löcherigen Sozialnetzes bekommt das Büchner-Drama aus der vergangenen Zeit eine aktuelle Perspektive, ohne ins platte Sozialdrama abzurutschen."

 

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