Geschichten aus dem Weimarer Wald

von Matthias Schmidt

Weimar, 23. Januar 2010. Genau zwei Stunden hat dieser Theaterrausch gedauert. Der Schlussapplaus war groß, und vielleicht wäre er noch fulminanter gewesen, hätte nicht ein Großteil des Publikums noch im Bann dieser sozusagen ganzheitlichen Theaterbehandlung gestanden. In den zwei Stunden konnte man im Nationaltheater so ziemlich alles erleben, was das Haus und sein Ensemble aufzubieten haben.

Spanferkel-Schlacht

Zunächst an Effekten: Von hinten rann Wasser über die Bühne (als Donau), von oben fiel es herab (als Regen). Dicke Nebelschwaden hüllten zeitweise alles ein, sogar die ersten Reihen. Schüsse fielen, was oft ja kein gutes Zeichen ist. Ein Live-Video wurde an die Decke des Zuschauerraums projiziert. Eine Streichergruppe spielte hoch oben auf einem Sims des komplett kupferfarben verschalten Bühnenraums. Ein Spanferkel wurde zubereitet, dann zunächst fachgerecht portioniert, schließlich komplett zermatscht und umhergeschleudert. Es wurde geraucht und mit Zigaretten hantiert, als würden sie bald ganz verboten. Es gab eine Travestieeinlage, einen Auftritt von Mickey-Maus und angeklebte Hitlerbärtchen. Alle drei Strophen der Nationalhymne wurden gesungen. Und das Unglaubliche daran: alles, aber wirklich alles hatte seinen Sinn und paßte großartig zusammen. Noch wundersamer: das Wichtigste auf dieser Bühne und in dieser Inszenierung blieben trotzdem die Schauspieler und die Handlung, wie sie Horváth erzählt, was so selbstverständlich ja nun auch nicht ist.

Regisseurin Nora Schlocker, diese Österreicherin mit dem lustigen Geburtsort Rum und dem selbst für junges Theater geringen Alter von 26 Jahren, hat Ödon von Horváths "Geschichten aus dem Wiener Wald" zu einem großen Auftritt verholfen.

Kleinbürger mit Hitlerbärtchen

Das Ambiente ist zeitlos. Schlocker holt das Stück aus seinem Milieu, den späten 20er-, den Wirtschaftskrisen-Jahren, und entgeht dennoch der Verführung, es zu sehr oder gar thesenhaft zu Gegenwart zu machen. Und sie erspart uns von Anfang an die Illusion, dieses Volksstück könnte tatsächlich etwas mit Wiener-Walzer-Seligkeit zu tun haben und unter Umständen gut ausgehen.

Als Marianne sich anfangs gegen die Ehe mit dem Fleischer Oskar entscheidet und stattdessen den leichtlebigen Alfred wählt, ist ohnehin klar, dass es mit ihr bergab gehen wird. Als die ganze Truppe, ihr Vater und der Fleischer Oskar und die anderen, sie schließlich splitternackt in einem Nachtclub tanzen sieht, nachdem sie Alfred und ihr Kind verloren hat, versetzt das ihnen, doch nicht uns einen Schock. Wir sehen viel mehr, dass die Kleinbürger nun Hitlerbärtchen tragen und das Deutschlandlied singen. Wobei die größte Erkenntnis daran sicher ist, wie fremd uns die erste und wie peinlich die zweite heute ungesungene Strophe ist. Deutsche Frauen, deutsche Treue, deutscher Wein und deutscher Sang…

"So, jetzt wird versöhnt! Bussi, bussi!"

Das läßt sich nur als Ironie aushalten, und eben diese Gratwanderung zwischen Ernst und Ironie ist eine weitere Stärke des Abends. "Ich kann es mir nicht leisten, mich zu schämen", antwortet Marianne ihrem Vater und schreit ihm einen Vorwurf zurück: weil er sie auf nichts anderes vorbereitet habe als die Ehe. Das ist Ernst. Da greift die Trafikantin (daher die vielen Zigaretten!) Valery ein, der selbst eine Beziehung nach der anderen scheitert (ihr letzter Liebhaber, Erich, nennt sie "ein altes, 50jähriges Stück Scheiße"). Sie nimmt Marianne und den Fleischer und den Vater und ruft: "So, jetzt wird versöhnt! Bussi, bussi!". Das dürfte angesichts der Tatsachen Ironie sein. Und dann spielt ihn die Streichergruppe wieder, den Johann-Strauss-Walzer, nach dem das Ganze benannt wurde: "Geschichten aus dem Wienerwald".

Präsent ist diese Musik den ganzen Abend über, mal pur, mal abgewandelt und an die jeweilige Szene angepaßt. Ein Schauspiel mit eigenem und zudem live gespieltem Soundtrack, das ist irgendwie noch besser als die ja auch schönen Inszenierungen mit einem fremden vom Band, wie seinerzeit Michael Thalheimers "Emilia Galotti" am DT Berlin.

Die Spielwütigen

Und noch etwas macht diese Inszenierung unverwechselbar: eine im besten Sinne naive Freude am Spielen, auch am ganz realistischen. Was dem Metropolentheater ja oft nur noch als Verfremdungseffekt oder gar als Karikatur recht ist, hier wird es mit scheinbar leichter Hand eingesetzt. Wenn Eve Kolb mit ihren 30 Jahren die Großmutter zu geben hat, so tut sie dies mit einer Präzision, die ansonsten nur den Hexen im Weihnachtsmärchen erlaubt ist. Das ist Komik und keine Ironie. Oder doch? Schwer auszumachen, das sie in zwei Rollen besetzt ist. Jedenfalls ist es ein Vergnügen, ihr zuzuschauen.

Und die Inszenierung ist voll von solchen Ideen. Marianne und Alfred stecken, als sie noch ein junges Glück sind und ihr Kind noch lebt, zusammen in einem Rock und übergeben sich gegenseitig den kleinen Leopold. Auch akustisch – wer die Babypuppe hält, ahmt jeweils auch die Babyschreie nach. Oskar, der verlassene Bräutigam, tanzt, während sich die anderen zu Paaren formieren, mit dem Servierwagen, auf dem das Spanferkel liegt. Der Conferencier im Nachtclub – eine fantastische Travestie-Nummer von Philipp Oehme. Und so weiter. Nora Schlocker hat ihr Ensemble in eine Spielfreude versetzt, die man Spielwut nennen könnte, klänge das nicht so negativ. Ein toller Abend! Schade ist es nur ums Spanferkel.

 

Geschichten aus dem Wiener Wald
von Ödön von Horvath
Regie: Nora Schlocker, Bühne: Jessica Rockstroh, Kostüme: Marie Roth, Video: Bahdir Hamdemir, Komposition/Einstudierung: Paul Lemp, Dramaturgie: Susanne Winnacker. Mit: Philipp Engelhardt, Petra Hartung, Eve Kolb, Philipp Oehme, Elke Wieditz, Simon Zagermann, Xenia Noetzelmann, Markus Fennert, Christian Klischat, Martin Andreas Greif.

www.nationaltheater-weimar.de

 

Die Regisseurin Nora Schlocker hat in Weimar bereits so einiges vollbracht: Aus Molnárs Rummelplatzklassiker Liliom machte sie eine Obdachlosentragödie (Mai 2008), die Beiläufigkeit des Kindsmordes in ihrer Grillparzer-Medea machte die Nachtkritikerin frösteln (Februar 2009), und Studien zur Deutschen Seele hat Schlocker auch schon betrieben (April 2009).

Kritikenrundschau

Nora Schlocker inszeniere mit ihren Weimarer "Geschichten aus dem Wiener Wald" einen "für den Beobachter zweigeteilten Abend", so Henryk Goldberg in der Thüringer Allgemeinen (25.1.). Ein erstklassiges Ensemble mit sehr guten Leistungen, Effekte die das Talent dieser jungen Regisseurin beglaubigen – und die am Ende, mit einigen Ausnahmen, eben doch nur Effekt bleiben." Zeige die Regisseurin doch "kaum das Fleisch des Stückes, nur sein Skelett, die Substanz", da sie "den Kontrast der wienseligen Volksstückmaske mit der Brutalität darunter" verweigere. Stattdessen demaskiere sie an diesem "Abend voller Zeichen" die Figuren "vom ersten Auftritt an", was zur Folge habe, "dass die Inszenierung nach einer Stunde auserzählt ist, denn wir wissen alles über diese Figuren", die deshalb auch "nur eingeschränktes Interesse" stiften könnten. Einzige Ausnahme: Elke Wieditz' Valerie, "ausgebrannt, leergeliebt". Sie interessiert den Kritiker, "weil ihr ein Rest bleibt, den sie nicht erzählt, eine Frage". Schlocker "kann glänzende Übergänge und Bilder", habe hier "eine hochkonzentrierte Aufführung geschafft mit überzeugenden Schauspielern" geschaffen. "Doch sie lässt ihre Figuren nicht leben, sie hat sie exekutiert, sie erzählt Strukturen statt Menschen. Das ist ein Problem der Konzeption, nicht des Könnens."

"Von Wiener Walzerseligkeit keine Spur", konstatiert Frank Quilitzsch in der Thüringischen Landeszeitung (25.1.). Die Bühnen-Schaukel werde bei Schlocker "zum dramaturgischen Schleudersitz": Wenn Xenia Noetzelmann als "sensibel gespielte" Marianne sich immer wieder in die Lüfte erhebe, "als wolle sie ihrem Kleinbürgerschicksal entfliehen", schwingt sie sich "über die ersten Reihen der Zuschauer, die ihr dabei unter den Rock gucken können". "Dieser kalkulierte Voyeurismus (...) erreicht seinen Gipfel, als die junge Schauspielerin später splitternackt die Bühne betritt. (...) Es ist, als würde die von ihrer egoistischen Mitwelt misshandelte Marianne ihre verletzte Seele auf dem Silbertablett präsentieren." Eine "in vieler Hinsicht frische und in ihrer Radikalität konsequente Inszenierung" – Schlocker stemme "ihr erstes Meisterstück auf der Großen Bühne". Sie nehme Horváths Volksstück "als das, was es in seinem Kern ist: eine bitterböse Parodie auf die Dummheit und Verführbarkeit der Volksseele. Sie zeigt, wie nah uns das kommt und wie Mitgefühl in Heuchelei umschlägt, wenn es um den persönlichen Vorteil geht." Nach und nach fielen bei den Figuren "die moralischen Hüllen". Aber "ob die Hitlerbärtchen, die nach und nach wie Kainsmale in den Gesichtern erblühen, wirklich nötig sind?"

 

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